An einer Scheibe hängt ein Schild mit russischen Schriftzeichen.
30.03.2022    Madeline Sieland
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Adidas und Obi haben ihre Filialen in Russland geschlossen. BMW, Mercedes und Volkswagen haben die Produktion in und den Export nach Russland ausgesetzt. DHL liefert nicht mehr nach Russland und Belarus. Allianz und Commerzbank haben das Neugeschäft in Russland eingestellt. Netto und Rewe boykottieren russische Lebensmittel. Und BASF unterstützt lediglich noch die Nahrungsmittelproduktion im Rahmen humanitärer Maßnahmen, generiert aber kein Neugeschäft mehr in Russland und Belarus.

Die Liste der westlichen Unternehmen, die nach Beginn des Kriegs in der Ukraine klar Stellung bezogen und ihre Tätigkeit in Russland komplett oder bis auf Weiteres eingestellt oder aber zumindest deutlich heruntergefahren haben, ist lang. Mehr als 450 stehen inzwischen in der Übersicht, die ein Team rund um den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey A. Sonnenfeld von der Yale School of Management kontinuierlich aktualisiert.

Die eigene Glaubwürdigkeit verteidigen

Warum sich Unternehmen reihenweise dazu entschieden haben, weit umfangreichere Maßnahmen zu ergreifen, als laut den von ihren Regierungen verhängten Sanktionen nötig gewesen wäre?

Auch, weil die Öffentlichkeit diese Reaktion erwartet, glaubt Dr. Niklas Schaffmeister, geschäftsführender Gesellschafter von Globeone. Die Managementberatung hat untersucht, wie deutsche Unternehmen auf den russischen Einmarsch in die Ukraine reagiert haben.

Kommerziell gebe es für Unternehmen dort derzeit nichts zu gewinnen, aber sie hätten unter Umständen viel zu verlieren. „Marken sind wie Menschen auf der Grundlage von Werten positioniert. Sind diese Werte stark, kann man nicht einfach schweigen und weitermachen, wenn so etwas passiert wie aktuell in der Ukraine“, so Schaffmeister. „Die großen Unternehmen verteidigen gerade ihre Glaubwürdigkeit und den Ruf ihrer Marke. Dass sie nur auf den Zug aufspringen und ihr russisches Geschäft aufgeben, um Reputationsgewinne zu erzielen, halte ich für sehr unwahrscheinlich.“

Reagieren statt die Augen zu verschließen

Generell sind derzeit drei Reaktionsweisen von westlichen Unternehmen zu beobachten:

  • die langfristige Aufgabe des Russland- und teils auch des Belarus-Geschäfts – etwa mit Verweis auf die eigenen Werte
  • ein vorläufiges Aussetzen von Aktivitäten vor Ort
  • keine oder lediglich minimale Reaktionen – beispielsweise in Form von vagen Statements als Antwort auf zunehmenden öffentlichen Druck

Die Firmen, die sich bisher nur verhalten positionieren, warnt Schaffmeister: „Diese Reaktionsweise kann langfristig zu starker Kritik und zu Imageschäden führen – vor allem bei Unternehmen, die stark in der Öffentlichkeit exponiert sind.“

Kunden wollen, dass Unternehmen klar Stellung beziehen

Denn keine klare Haltung zu zeigen – das bringt bei Kunden Minuspunkte. Knapp 60 Prozent der deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten, von Unternehmen, dass diese sich gesellschaftlich zu engagieren. Das geht aus dem „The Corporate Social Mind Report“ der Beratungen Wider Sense und INFLUENCE|SG hervor. Besonders relevant sind für die Konsumenten hierzulande aktuell die Themen Umwelt, Tiere und Tierrechte, Bekämpfung der Klimakrise und der Kampf gegen den Hunger.

45 Prozent der Befragten bejahten zudem die Frage, ob Unternehmen auch eine soziale oder politische Haltung einnehmen und sich dafür aktiv einsetzen sollten.

„Das sehen wir ja aktuell an den Reaktionen der Unternehmen in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine und auf das Russland-Geschäft“, sagt Michael Alberg-Seberich, Geschäftsführer von Wider Sense. „Dass hier so großer gesellschaftlicher Konsens gegen den Krieg herrscht, macht es den Firmen glücklicherweise einfach, ihre Haltung zu zeigen. Die Erwartung an Unternehmen ist aber auch, sich ebenso klar gegenüber kontroverser debattierten Themen zu verhalten wie Armut oder Diversität.“

Was ist Corporate Activism?

Dass Unternehmen öffentlich Stellung beziehen – auch zu kontroversen sozialen und politischen Themen –, ist eine Entwicklung, die in den USA als Corporate Activism bezeichnet wird. Dabei geht es um deutlich mehr als die bloße Formulierung von Ambitionen in Jahres- oder Nachhaltigkeitsberichten.

Was es mit Corporate Activism auf sich hat, beschreibt das Weltwirtschaftsforum wie folgt: „Die Zeiten, in denen die einzige Aufgabe eines Unternehmens darin bestand, Gewinne zu erzielen, sind längst vorbei. Das 21. Jahrhundert gehört dem Corporate Activism – also Unternehmen, die konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der wichtigsten Herausforderungen ergreifen, mit denen wir konfrontiert sind. (…) Für uns ist unternehmerischer Aktivismus ein ganzheitlicher Ansatz, um einen politischen oder sozialen Wandel durch Kerngeschäftsaktivitäten herbeizuführen. Dies unterscheidet sich von der Wahrnehmung sozialer Verantwortung durch einzelne spezifische Projekte oder die Investition von Gewinnen in gesellschaftliche Anliegen.“

Klare Meinung und konkrete Taten

Den Anfang nahm sozialpolitischer Aktivismus von Unternehmen in den 2000er-Jahren, als die Rechte von LBGTQ in den USA weiter eingeschränkt werden sollten. Große Konzerne wie Walmart sprachen sich gegen Gesetzesvorlagen aus, die eine Diskriminierung erlaubt hätten.

Dass es nicht bei Worten bleiben muss, zeigten 2016 etwa PayPal und die National Collegiate Athletic Association: Sie zogen sich aus North Carolina komplett zurück, nachdem der Bundesstaat ein Gesetz zur Einschränkung des LGBTQ-Schutzes verabschiedet hatte. Und die Mobilitätsdienstleister Uber und Lyft erklärten 2021, dass sie für die Prozesskosten aufkommen würden, falls ihre Fahrer aufgrund eines texanischen Gesetzes vor Gericht landen, das es jedem erlaubt, eine Person zu verklagen, die jemandem hilft, eine Abtreibung vornehmen zu lassen.

Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte Corporate Activism 2020 nach der gewaltsamen Ermordung von George Floyd durch Polizisten in Minneapolis: Hunderte US-amerikanische CEOs unterzeichneten im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung eine Erklärung gegen Rassendiskriminierung und gründeten eine Organisation, die sich für Vielfalt, Gerechtigkeit und Integration einsetzt.

Was Corporate Activism bringt

Die Forschung hat drei Hauptfaktoren identifiziert, die in der Regel die Entscheidung eines Unternehmens für Corporate Activism treiben:

  • die Überzeugungen der Mitarbeitenden
  • der Druck der Verbraucherinnen und Verbraucher
  • das persönliche Engagement oder die Überzeugung des CEO

Das sozialpolitische Engagement hat durchaus positive Nebeneffekte, die im Endeffekt auch gut fürs Business sind:

  • die Loyalität der Kunden steigt
  • Unternehmen werden als Arbeitgeber attraktiver für Top-Talente, die ihre Werte teilen
  • der Zugang zum wachsenden Kapitalmarkt für Impact Investing wird erleichtert

Doch von diesen positiven Effekten kann nur profitieren, wer bereit ist langfristig bei seiner Einstellung zu bleiben – also auch dann, wenn es finanziell vielleicht wirklich ans Eingemachte geht. „Wie reagieren große Konzerne wie etwa die deutschen Automobilhersteller, falls China einmal in Taiwan einmarschieren sollte, das in Peking als abtrünnige Provinz betrachtet wird? Geben Sie dann dieses für sie sehr wichtige Auslandsgeschäft ebenfalls auf?“, fragt Schaffmeister. Volkswagen etwa verkaufe fast jedes zweite Auto in China. „Die Aufgabe der Profitabilität aus politischen Gründen dürfte dann schon weitaus schwerer fallen.“

Seine dringende Empfehlung lautet daher: Aufgrund der Erfahrungen mit dem Ukraine-Krieg sollten sich Unternehmen jetzt rechtzeitig auf weitere denkbare geopolitische Krisen vorbereiten, um im Fall der Fälle besonnen zu reagieren und zugleich eine klare Haltung zeigen zu können.

30.03.2022    Madeline Sieland
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