Mann sitzt zu Hause am Laptop und arbeitet
05.05.2022    Madeline Sieland
  • Drucken

Unbesetzte Stellen sind eine teure Angelegenheit. Laut einer neuen Stepstone-Analyse belaufen sich die „Cost of Vacancy“ – also die Kosten, die eine unbesetzte Stelle für das Unternehmen verursacht – im Schnitt auf 29.000 Euro; bei einer unbesetzten IT-Stelle können es sogar bis zu 96.228 Euro sein. Und in diesen Zahlen sind Umsatzausfälle infolge von Personallücken noch gar nicht eingerechnet.

Offene Stellen schnell zu besetzen, ist also eine Notwendigkeit. Doch in Zeiten des immer größer werdenden Fachkräftemangels ist das keine leichte Aufgabe. Hinzu kommt: Festanstellungen haben teils an Attraktivität verloren; Arbeitnehmende haben gewisse Freiheiten in der Coronazeit zu schätzen gelernt.

Mehr Unabhängigkeit, flexible Arbeitszeiten, freie Arbeitsplatzwahl: Das sind daher auch die Hauptgründe, weshalb sich Berufstätige fürs Freelancing entscheiden. Dies geht aus der „Freelancing in Europe 2022“-Studie hervor, welche die Boston Consulting Group und die Freelancing-Plattform Malt durchgeführt haben. Die logische Konsequenz dieser Entwicklung: Statt auf Festanstellungen zu setzen, sollten Unternehmerinnen und Unternehmer darüber nachdenken, in welchen Bereichen sie mit Solo-Selbstständigen die Personallücken flexibel schließen können. Worauf es dabei in der Praxis ankommt, erklärt Dirk Henke, General Manager Deutschland bei Malt.

Zur Person

Portraitbild Dirk Henke DACH Malt

Dirk Henke

ist General Manager Deutschland beim Freelancing-Marktplatz Malt. Zu seinen Aufgaben gehören die internationale Expansion von Malt sowie der Ausbau der Marke in der DACH-Region. Der Wirtschaftswissenschaftler verfügt über 20 Jahre Erfahrung in der Digitalwirtschaft und hat etwa bei Microsoft, Yahoo! und Criteo gearbeitet

Der Fachkräftemangel ist besonders im IT-Bereich bereits seit Jahren ein Thema. Wie hat sich die Situation im Zuge der Pandemie entwickelt?

Dirk Henke: Die Pandemie hat den Fachkräftemangel im IT-Bereich, aber auch im weiteren Sinne in der Digitalindustrie erneut verschärft. Eine Studie des Digitalverbands Bitkom bezifferte die zu besetzenden IT-Stellen Ende 2021 auf 96.000. Das ist ein Anstieg zum Vorjahr von zwölf Prozent. Zum einen ist dies sicher auf den Wandel der Arbeitswelt zurückzuführen. Quasi jedes Unternehmen musste während der Pandemie lang erprobte Prozesse neu denken und im digitalen Raum abbilden. Zum anderen leben wir in einer Welt, die immer weiter digitalisiert wird. Start-ups mit innovativen Produkten und Services sprießen aus dem Boden und erhalten hoch dotierte Finanzierungen. Um diese Technologien zu entwickeln und letztlich zu implementieren, braucht es eine Menge digitales Know-how. Großkonzerne und Mittelständler konkurrieren deshalb mit aufstrebenden Jungunternehmen um die benötigten Expertinnen und Experten. Dadurch entsteht eine hohe und stetig steigende Nachfrage an IT-Fachkräften, die zum gegenwärtigen Fachkräftemangel führt.

Sie schätzen, dass ein Viertel der 13 Millionen Digitalexpertinnen und -experten in Europa als Freelancer arbeiten. Woran liegt es, dass eine so hohe Zahl an Fachkräften sich für Solo-Selbstständigkeit und gegen eine Festanstellung entschieden hat?

Henke: Die Pandemie hat vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gezeigt, wie wertvoll Flexibilität und Autonomie im Alltag sind. Außerdem haben wir, konträr zum ehemals weitverbreiteten Vorurteil, gelernt: Arbeiten im digitalen Raum kann sehr wohl funktionieren. Die Hemmschwelle für die Solo-Selbstständigkeit sinkt damit weiter. Natürlich bildet auch das wirtschaftliche Klima die ideale Grundlage: Aktuell werden Fachkräfte aus den verschiedensten Bereichen – von Social-Media-Management bis Data Science – händeringend gesucht. Für Solo-Selbstständige ergeben sich so viele Chancen, spannende Projekte zu ergattern. Denn immer mehr Unternehmen entdecken die Kollaboration mit Freelancerinnen und Freelancer für sich, um den digitalen Wandel schneller voranzutreiben.

Wie können Unternehmen vom Einsatz von Freelancern profitieren?

Henke: Durch die Zusammenarbeit mit Freelancerinnen und Freelancern erhalten Unternehmen oft innerhalb weniger Tage die benötigte Unterstützung. Anstatt einen monatelangen Recruitingprozess für Vollzeitstellen zu durchlaufen, können sie einfach digitale Freelancer-Marktplätze nach den gesuchten Fähigkeiten durchforsten. Projekte können so effizient umgesetzt und abgeschlossen, Unternehmensziele schneller erreicht werden. Gleichzeitig sorgen Freelancerinnen und Freelancer für den viel zitierten frischen Wind. So können sich Festangestellte und Freiberufler ideal ergänzen und voneinander lernen. Nachteile gibt es meines Erachtens nicht, sondern vielmehr gilt es einige Herausforderungen zu meistern. Unternehmen müssen eine Willkommenskultur für Freelancerinnen und Freelancer schaffen und den Recruitingprozess adaptieren. Auch die Politik ist gefragt, denn das Problem der Scheinselbstständigkeit ist laut unserer „Freelancing in Europe 2022“-Studie immer noch gegeben. Wenn wir als Wirtschaft von Freiberuflern maximal profitieren wollen, müssen wir den entsprechenden rechtlichen Rahmen schaffen.

Warum setzen Unternehmen in Deutschland bisher eher selten auf die Expertise von Solo-Selbstständigen, um dem IT-Fachkräftemangel zu begegnen? Und wie sieht das in anderen Ländern aus?

Henke: Um hier eine Einordnung vorzunehmen: Nach der Übernahme von Comatch bauen wir in Europa derzeit ein Klienten-Netzwerk mit mehr als 1.000 Konzernen aus. Darunter sind 80 Prozent der Dax-40- und Cac-40-Unternehmen. Freelancing ist auch hierzulande schon weitverbreitet. Auch kleinere Unternehmen und Mittelständler greifen auf unabhängige Beraterinnen und Berater zurück. Klar ist aber auch: Es gibt noch eine Menge ungenutztes Potenzial. Ich denke, wir müssen vor allem den kulturellen Wandel anregen. Unternehmen sollten verstehen, dass die Zusammenarbeit mit Freelancerinnen und Freelancern keinen Mehraufwand bedeutet. Ganz im Gegenteil: Digitale Marktplätze übernehmen den gesamten Prozess von Suche bis Bezahlung; Unternehmen können sich vollumfänglich auf das Onboarding und die Zusammenarbeit konzentrieren. Vielleicht schrecken auch die Tagessätze der Freelancerinnen und Freelancer ab, was aber in Anbetracht der hohen Kosten für traditionelles Recruiting, beispielsweise für Stellenausschreibungen und Werbung, kaum ins Gewicht fällt.

Welche Stellenprofile werden bei Malt am häufigsten gesucht und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Henke: Der Bedarf ist in der IT- und Tech-Branche am höchsten. Dort werden zum Beispiel Entwicklerinnen und Entwickler, Data Scientists, DevOps und Software Engineers stark gesucht. Aber auch im Marketing-, Kommunikations- und Designbereich sind Freelancerinnen und Freelancer stark nachgefragt– beispielsweise Grafik- und UX-Designerinnen und -Designer bis hin zu Marketingberaterinnen und -berater. Gleichzeitig wird die Solo-Selbstständigkeit immer attraktiver in traditionellen Berufsfeldern, etwa im Personal- oder Rechtsbereich. Wir sehen hier eine Steigerung der Anmeldungen um 63 Prozent in Deutschland. Zusammengefasst: Freelancing hält verstärkt Einzug in jede Berufsgruppe.

Eignet sich eigentlich tatsächlich jede Tätigkeit und Position in Unternehmen dafür, von einem Freelancer besetzt zu werden – also zum Beispiel auch Führungspositionen?

Henke: Ja. Wir erwarten einen großen Boom bei der Freiberuflichkeit für Interim-Management-Expertinnen und -Experten, die bei größeren Veränderung im Unternehmen einspringen und unterstützen können. Sie verfügen meist über jahrelange Erfahrung bei verschiedenen Unternehmen und bringen ein breites Skillset mit. Unterstützt wird der Trend auch durch die Möglichkeit, remote zu arbeiten.

Wie lässt sich die Zusammenarbeit zwischen festen Angestellten und Freelancern reibungslos gestalten?

Henke: Unternehmen sollten den Mitarbeitenden darlegen, welche Chancen in der Zusammenarbeit mit Freiberuflern für das ganze Unternehmen, aber auch für jede und jeden einzelnen liegen. Der Austausch mit erfahrenen Expertinnen und Experten bildet weiter, schafft neue Ideen und dient letztlich dem Projekterfolg. Die mancherorts anfängliche Skepsis gegenüber Freelancerinnen und Freelancern weicht dann schnell der Erkenntnis, dass man gemeinsam besser die unternehmenseigenen Ziele erreichen kann. Um möglichst schnell voneinander zu profitieren, bedarf es dazu einem einheitlichen Onboarding-Prozess. Auf welche Tools und Dokumente benötigen die Freelancerinnen und Freelancer Zugriff? Wie können wir sie im Team – auch auf persönlicher Ebene – effizient integrieren? Und wie vermitteln wir unseren Way of Work, ohne die Autonomie der Freelancerinnen und Freelancer einzuschränken? Darauf aufbauend sollten die Verantwortlichen in Abstimmung mit der Unternehmensführung ein für alle Parteien hilfreiches Onboardingkonzept etablieren.

Was müssen Unternehmen bei der Beschäftigung von Freelancern grundsätzlich beachten? Scheinselbstständigkeit ist ja immer wieder ein Thema…

Henke: Das ist richtig. Die Scheinselbstständigkeit wird in Gesprächen mit unserer Community immer wieder thematisiert. Grundsätzlich liegt eine Scheinselbstständigkeit vor, wenn eine erwerbstätige Person als selbstständige Unternehmerin oder selbstständiger Unternehmer auftritt, obwohl der Rahmen der Tätigkeit eigentlich einem Arbeitnehmerverhältnis entspricht. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Urlaubstage abgestimmt und festgelegte Arbeitszeiten eingehalten werden müssen oder die Tätigkeit ortsgebunden stattfindet. Um dies zu vermeiden, sollten Unternehmen schon bei der Kontaktaufnahme mit Freelancerinnen und Freelancern die gewünschten Rahmenbedingungen abstecken und die Aspekte der Selbstständigkeit kennen. Wichtig ist vielmehr, gemeinsam die Projektziele zu definieren, die die Freelancerinnen und Freelancer dann nach ihrem Ermessen umsetzen – inklusiver flexibler Arbeitsgestaltung. So wird sichergestellt, dass beide Parteien von Beginn an entlang des rechtlichen Rahmens erfolgreich zusammenarbeiten und die Ziele gemeinsam erreichen.

Sie haben kürzlich Comatch übernommen, einen Marktplatz für freiberufliche Unternehmensberater und Industrieexperten. Was hat Sie zu der Entscheidung bewegt?

Henke: Bei Malt suchen wir immer nach neuen Strategien und Partnern, von denen sowohl unsere Community von Freelancerinnen und Freelancern als auch unsere Unternehmenskunden profitieren. Comatch hat in seiner Nische der unabhängigen Unternehmensberaterinnen und -berater sowie Industrieexpertinnen und -experten eine starke Reputation aufgebaut und mit vielen Unternehmen erfolgreich kooperiert. In den Gesprächen zwischen den Verantwortlichen wurde schnell klar: Malt und Comatch verbindet die gemeinsame Vision einer Welt, in der alle die Wahl haben, mit wem, wann und wie sie arbeiten wollen. Durch die Übernahme können wir Unternehmen ein noch breiteres Spektrum an Freiberuflerinnen und Freiberuflern bieten und den gesamten Projektzyklus – von Strategieentwicklung bis Umsetzung – abbilden. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt, um bis 2024 das anvisierte Projektvolumen von einer Milliarde Euro zu erreichen

05.05.2022    Madeline Sieland
  • Drucken
Zur Startseite