Boot im Sturm
28.10.2020    Arne Gottschalck
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Technik muss. Sei es der permanente Allradantrieb. Die Fähigkeit von Seenotrettungsbooten, sich nach dem Kentern selbst aufrichten zu können. Oder auch die Spechthalsregulierung. Produkte leben von Technik. Immerhin sorgt sie dafür, dass alles funktioniert, dass aus dem Vierradantrieb eben nicht defektbedingt ein Zweiradantrieb wird. Jensen war einer der ersten Hersteller, der diesen Antrieb vor allem auf die Straße brachte, Audi perfektionierte den Ansatz. Seitdem sorgt die Technik weltweit dafür, dass Fahrer und Autos nicht die Bodenhaftung verlieren. Oder Seenotrettungskreuzer: Deren Konstruktion wurde so lange überarbeitet, bis klar war, dass sie sich nach einer Kenterung selbst wiederaufrichten und ihre Mission fortsetzen können. Inzwischen sorgt dafür ein Airbag in den Aufbauten.

SAR Rescue Timer Mühle Glashütte

Gute Tat inklusive: Die neue „SAR Rescue Timer SK Hamburg“ von Mühle Glashütte kostet 1.990 Euro. 100 Euro pro Uhr werden an die Seenotretter gespendet

Bei Uhrenherstellern wie Mühle Glashütte ist Technik ebenfalls kein Selbstzweck, sondern sie dient dazu, den Zeitmesser am Laufen zu halten – unter allen Umständen. Das robuste Gehäuse gehört zu diesen technischen Maßnahmen, ebenso das vier Millimeter dicke Saphirglas oder die Spechthalsregulierung. Die sorgt im Inneren der Uhr dafür, dass das Werk auch bei heftigen Schlägen nicht aus dem Takt gerät. Warum der Aufwand? Weil sie Uhren für Seenotretter sind. Salzwasser, Schläge – kein Umfeld für Sonntagsuhren.

Traktion dank Tradition

Jedes gute Produkt erzählt darüber hinaus eine Geschichte. Von der ersten Idee, von Rückschlägen. Und vom Triumph, von der unternehmerischen Freude, richtiggelegen zu haben. 2014 etwa beschloss man bei Rügenwalder Mühle, auf den Veggie-Trend aufzuspringen. Und schon 2020 macht das Unternehmen damit mehr Umsatz als im Geschäft mit herkömmlichen Wurstwaren.

Im Idealfall fügt sich das nahtlos als ein Kapitel in die gesamte Unternehmensgeschichte ein. Naturgemäß haben Firmen mit einer langen Historie mehr zu erzählen. Wie Mühle Glashütte etwa, bei der mit Thilo schon ein fünfter Mühle die Geschicke des Unternehmens lenkt. 1869 Gründung, 1945 Enteignung, 1972 nochmals Enteignung, Umwandlung und Eingliederung in die VEB Glashütter Uhrenbetrieb. Der Fokus lag in allen Phasen auf Messinstrumenten. 1990 ging es dann wieder zurück in die Marktwirtschaft. Ab 1995 widmete man sich vor allem Armbanduhren – eine Werft, bislang von Mühle Glashütte mit Schiffsinstrumenten beliefert, hatte angefragt. Heute machen Uhren rund 95 Prozent des Umsatzes aus.

Die Zeit muss immer schnell ablesbar sein

Thilo Mühle ist kein Geschäftsführer, der um den heißen Brei herumredet. Er hat vielmehr ganz klare Ansichten.

Wie wichtig ist Tradition?
Thilo Mühle: Sehen Sie, ich bin der fünfte Mühle, mein Sohn arbeitet seit über einem Jahr im Unternehmen. Insofern ist Tradition für uns sehr wichtig. Das Gleiche gilt auch für das, was wir machen: Instrumentenbau. Wir bauen Dinge, die etwas anzeigen. Das machen wir seit langer Zeit und mit unserem Ansatz: Die Zeit muss immer schnell ablesbar sein.

Welche Rolle spielt die Familie?
Mühle: Sie ist Fluch und Segen. Wir haben aber einen Vorteil: Alles ist klar geregelt. Also zum Beispiel, wer der Geschäftsführer ist. Diese Klarheit muss sein.

Wo liegt der Fokus in Ihrem Angebot?
Mühle: Wir haben vor einigen Jahren die Zahl der Referenzen deutlich gesenkt; es sind jetzt drei Produktfamilien. Wir müssen nicht unbedingt drei Uhren mehr verkaufen, Wachstum um jeden Preis gibt es für uns nicht. Nachhaltigkeit ist kein bloßes Schlagwort, Werte auch nicht. Immerhin trage ich die Verantwortung für mehr als 60 Mitarbeiter.

Wie lässt sich die Tradition mit der Moderne vermählen?
Mühle: Das gelingt uns ganz gut. Auf der einen Seite nutzen wir CNC-Maschinen. Auf der anderen Seite werden aber alte Techniken gelebt, etwa die des Sonnenschliffs für die Zifferblätter. Das lernen bei uns auch die jungen Leute. Und das gern, wie ich höre. Wer Uhrmacher wird, für den gehört Handwerk einfach dazu – die kleinsten Bauteile sind schließlich nur 0,38 Milli­meter groß. 

Wo sehen Sie Mühle Glashütte in 150 Jahren?
Mühle: Ich hoffe, dass es dann trotz all der technischen Neuerungen noch immer Menschen gibt, die sich die Zeit mechanisch anzeigen lassen mögen, ohne Batterie.

Fein abgestimmtes Räderwerk

Kein Einzelfall: Auch in anderen Branchen setzt man auf Tradition als Basis. Von Lamborghini beispielsweise heißt es, Firmengründer Ferruccio Lamborghini sei mit Enzo Ferrari in Streit geraten und habe darum 1963 den ersten Sportwagen auf die Räder gestellt. 2019 verkauften sich mehr als 8.000 Autos mit dem Stier im Emblem, mehr als die Hälfte waren SUVs. Tradition heißt eben nicht, auf Überkommenes zu setzen. Auszuzahlen scheint sich  Unternehmensgeschichte jedenfalls: Eine Erhebung des Automagazins „Zwischengas“ zeigt, dass für über 40 Prozent der Käufer Tradition eine wichtige oder gar eine sehr wichtige Rolle spielt. 

Auch bei Uhren hat die Tradition eine Rolle, sagt Stefan Muser vom Auktionshaus Dr. Crott. Das funktioniert bei Familienunternehmen besonders gut. Gerade bei ihnen ist Tradition fest verankert, zeigt eine Studie der Privaten Hochschule Göttingen. Mehr noch, diese Verankerung ist die geistige Basis für den Fokus auf die Zukunft. Ein Großteil des Erfolgs sei der eigenen Geschichte zu verdanken. 

Bei Herstellern wie Mühle Glashütte dürfte man so ein Urteil gern vernehmen. Denn selbst ungewöhnliche Partnerschaften haben dort Tradition. Seit 2002 stattet das Unternehmen die Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger mit technisch aufwendigen Uhren aus. Tradition? Das schreibt sich mit S – wie Spechthalsregulierung. Technik und Tradition? Sind eben ein fein abgestimmtes Räderwerk.

28.10.2020    Arne Gottschalck
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