das Modell eines Herzes aus kleinen Bausteinen
23.04.2023    Madeline Sieland
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Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Todesursache Nummer eins. Hinter dem Sammelbegriff verbergen sich verschiedenste Leiden. Die häufigsten sind die koronare Herzerkrankung, Herzmuskelentzündungen, Herzrhythmusstörungen und Bluthochdruck. An letzterem leiden nach Schätzungen der Deutschen Hochdruckliga bis zu 30 Millionen Personen hierzulande.

WHO rechnet mit mehr Betroffenen

Weltweit sterben jährlich rund 17,3 Millionen Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bis 2030 werden es – so zeigen Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – vermutlich sogar 23,6 Millionen Menschen pro Jahr sein. Und das trotz aller Fortschritte in der Herzmedizin. Denn parallel zum medizinischen Fortschritt nehmen die Risikofaktoren weiter zu.

Die zentralen Risikofaktoren insbesondere in der westlichen Welt sind und bleiben Diabetes mellitus, Adipositas, Fettstoffwechselstörungen, Stress, Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und Rauchen. Alles Risiken, die durch Veränderungen des Lebensstils und/oder Medikamente minimiert werden könnten. Entsprechend empfiehlt die American Heart Association, schon ab 20 Jahren etwas für die eigene Herzgesundheit zu tun.

Cardisiographie soll Vorsorge verbessern

Doch wirklich vorbeugen kann man nur, wenn Risiken auch rechtzeitig als ebensolche identifiziert werden. Bisher fehlt es allerdings an zuverlässigen Methoden, um frühzeitig eine Diagnose zu stellen.

Die gebräuchlichste Untersuchungsmethode bei der Herzvorsorge ist das EKG. Doch dessen diagnostische Aussagekraft ist teils nur gering; Erkrankungen bleiben dabei häufig unerkannt. Und das ist fatal. Denn Herzerkrankungen entwickeln sich schleichend, bleiben lange symptomlos.

So war es auch bei Meik Baumeister. Er erlitt mit Anfang 30 plötzlich einen Herzinfarkt – obwohl sein Arzt ihm bei Vorsorgeterminen einen guten Gesundheitszustand attestierte. Seine eigenen Erfahrungen hat der IT-Experte zum Anlass genommen, um eine neue Testmethode zu entwickeln, mit der Risikopatientinnen und -patienten besser identifiziert werden können: die Cardisiographie. Das Verfahren ist ähnlich unkompliziert und schnell durchführbar wie ein EKG, aber dank Künstlicher Intelligenz, die bei der Datenauswertung nach Mustern für Erkrankungen sucht, deutlich präziser.

Zur Person

Meik Baumeister hat die Cardisiographie entwickelt, ein neues Verfahren zur Erkennung von Herzerkrankungen

Meik Baumeister

ist Co-Founder und CEO von Cardisio. Er hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Umsetzung von komplexen IT-Projekten und der Führung von IT-Unternehmen. Angefangen als Berater für Business Intelligence und CRM, führte ihn sein Werdegang als Geschäftsführer zu mehreren mittelständischen IT-Häusern in Deutschland (u.a. 7N, IMPAQ Group)

Sie hatten selbst einen Herzinfarkt und haben danach Cardisio gegründet. Was hat Sie dazu motiviert, sich infolge Ihrer persönlichen Erfahrungen auch beruflich dem Thema zu widmen?

Meik Baumeister: Mein Herzinfarkt war für mich ein sehr einschneidendes Erlebnis; ich hatte wirklich Todesangst. Deshalb nahm ich dann jede Untersuchung bei meinem Kardiologen gewissenhaft wahr, um das Risiko zu verringern, dass mir etwas Ähnliches noch einmal widerfährt.

Nachdem ich mich immer weiter in die Materie eingelesen hatte, wurde mir aber schnell klar: Die normalen Untersuchungen bringen nichts. Sie sind zur Vorsorge einfach nicht geeignet. Deshalb unterhielt ich mich ausführlich mit vielen Kardiologen, um vielleicht doch noch eine Methode zu finden, die präventiv wirkt. So bin ich letztendlich auch auf meinen Mitgründer Professor Gero Tenderich getroffen. Er erzählte mir von der Vektorkardiographie, zu der es schon seit über 60 Jahren vielversprechende Studien gibt. Allerdings war dieses Verfahren bisher zu komplex, um es für den Praxisalltag anwendbar zu machen. Mir als IT-Spezialisten kam bei den Erläuterungen aber rasch die Erkenntnis: Die Komplexität der Berechnungen müsste dank moderner Algorithmen und Künstlicher Intelligenz beherrschbar gemacht werden können. Der Grundstein für die Cardisiographie war damit gelegt.

Wie funktioniert die Cardisiographie?

Baumeister: Eigentlich ähnlich wie das EKG. Allerdings werden bei der Cardisiographie fünf Elektroden am Körper befestigt – eine davon am Rücken. So können wir das Herz dreidimensional scannen. Die Signalaufnahme dauert vier Minuten. Danach werden die Parameter an den Cardisio-Server übermittelt und mittels KI-Algorithmus innerhalb von fünf Minuten analysiert. Dann erhält der Untersucher das Ergebnis als Report, den er mit dem Patienten besprechen kann.

Dass dies alles so schnell geschieht, ist der Rechenleistung unseres Rechenzentrums in Frankfurt und der Anwendung von Künstlicher Intelligenz zu verdanken. So können wir in dieser kurzen Zeit die circa drei Millionen Datenpunkte verrechnen, die für ein gutes Ergebnis notwendig sind.

Welche Schwächen haben die bisher verbreiteten Untersuchungsmethoden beim Erkennen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen?

Baumeister: Andere Methoden sind entweder nur bedingt aussagekräftig – wie das EKG. Oder sie sind zu teuer und aufwendig, um sie prophylaktisch einzusetzen – wie das CT oder MRT.

Viele Herzerkrankungen verlaufen aber ohne Symptome, bis sie lebensbedrohlich werden – etwa durch einen Herzinfarkt. Mit einem präventiven Screening wie der Cardisiographie kann ein Herzinfarkt sehr häufig vermieden werden. Die Behandler können viel früher eingreifen und zum Beispiel durch Medikamente, einer Änderung des Lebensstils oder kleinere Eingriffe das schleichende Fortschreiten einer Herzerkrankung rechtzeitig stoppen.

Die Herzmedizin in Deutschland ist sehr gut. Die Betroffenen müssen nur früh genug wissen, dass ihr Herz erkrankt ist. Denn in den meisten Fällen spürt der Patient absolut keine Symptome, bis es zu einem ernsten Vorfall kommt. Und dann ist es oft sogar zu spät.

Was muss ein Arzt machen, der seinen Patienten die Cardisiographie anbieten will?

Baumeister: Erfahrungsgemäß dauert es von der Anfrage bei uns über die Installation bis zum ersten Test circa eine Woche. Ich selbst habe einen Cardisiographen schon in weniger als 15 Minuten in Betrieb genommen. Technikaffine Ärzte können die Inbetriebnahme sogar alleine vornehmen. Wenn gewünscht kommt aber gerne zeitnah ein Kollege von uns in die Praxis, erläutert die Anwendung und nimmt die Hardware in Betrieb.

Die Durchführung einer Cardisiographie ist dann sehr einfach. Nach einer kurzen Einführung kann die Messung von einer medizinischen Fachangestellten ohne großen Aufwand durchgeführt werden. Limitiert sind wir lediglich dadurch, dass viele Praxen hierzulande überlastet sind. Das größte Problem ist, die nötige Zeit für neue Untersuchungsmethoden zu finden.

Stichwort Gendermedizin: Bei Frauen äußern sich Herz-Kreislauf-Erkrankungen anders als bei Männern und werden oftmals erst sehr spät erkannt. Inwieweit kann eine Cardisiographie auch bei Frauen die Vorsorge verbessern?

Baumeister: Das ist ein sehr wichtiges Thema für uns. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind auch bei Frauen die führende Todesursache. 2019 starben an ischämischen Herzkrankheiten mehr Frauen als an Brustkrebs – in absoluten Zahlen: 52.550 versus 18.519. Zudem erlagen 18.361 weitere Frauen einem akuten oder rezidivierenden Myokardinfarkt. Des Weiteren sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache während einer Schwangerschaft in den Industrieländern. Auch Frauen profitieren also sehr, wenn sie sich um ihre Herzvorsorge kümmern.

Typische Beschwerden im Anfangsstadium von Herzerkrankungen bei Frauen sind Kurzatmigkeit, Müdigkeit, körperliche Schwäche, Schlafstörungen und Beschwerden im Oberbauch. Frauen berichten anders als Männer oft erst auf Nachfrage auch von anderen Symptomen, etwa Druck- oder Engegefühl in der Brust nach körperlicher Belastung, in stressigen Situationen, bei Kälte oder nach üppigen Mahlzeiten. Zudem treten diese Beschwerden nur bei rund 40 bis 60 Prozent der Frauen vor einem Infarkt auf.

Der Medizinbereich ist in vielerlei Hinsicht anders als andere Branchen. Gründen im Health-Sektor, der vom Gesetzgeber stark reguliert ist, ist ein Mammutprojekt – und eines, bei dem man einen langen Atem braucht. Mit welchen Herausforderungen waren Sie in den letzten Jahren konfrontiert?

Baumeister: Neben den wissenschaftlichen, finanziellen und regulatorischen Herausforderungen stellt sich die letztendliche Bekanntmachung und Verbreitung einer neuen Methode als sehr schwierig dar. Gerade in Deutschland haben wir komplexe Strukturen, wie zum Beispiel eine Vielzahl von Krankenkassen und Verbänden. Alle Stakeholder zu überzeugen und dann am Ende die Aufmerksamkeit eines Arztes zu erlangen, erfordert einen sehr langen Atem.

Inwieweit haben Sie bei der Entwicklung der Cardisiographie von Ihrer beruflichen Erfahrung im IT-Bereich profitiert?

Baumeister: Grundsätzlich hat mir mein IT-Hintergrund natürlich sehr geholfen – nicht nur aufgrund meines eigenen Verständnisses, sondern auch durch die hervorragenden Experten, die ich im Laufe der Jahre kennenlernen durfte. So war es verhältnismäßig einfach für mich, ein hervorragendes Team zusammenzustellen. Denn, wie so oft im Leben, sind das richtige Team und aufrichtige Motivation der Garant für den Erfolg.

Ihr Unternehmen wurde vor sieben Jahren gegründet. Seit Jahresbeginn übernehmen auch erste gesetzliche Krankenkassen die Kosten für Ihr neuartiges Herz-Screening. Wie können solche Innovationen schneller einer größeren Zahl an Personen zugänglich gemacht werden? Wo sehen Sie strukturelle Probleme?

Baumeister: Wie bereits erwähnt, verhindern die komplexen Strukturen unseres Gesundheitssystems eine zügige Einführung neuer Methoden und Technologien. Natürlich muss – gerade im Bereich der Medizin – stets gewährleistet sein, dass eine Methode sowohl wissenschaftlich als auch ökonomisch validiert ist. Die Vielzahl der Krankenkassen, die Komplexität, die ein Arzt hinsichtlich der Abrechnung seiner Dienstleistung managen muss, und die große Anzahl weiterer Stakeholder, könnten aus meiner Sicht jedoch deutlich reduziert werden.

23.04.2023    Madeline Sieland
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