Eine Frau überprüft ihre Herzfrequenz auf einer Smartwatch. Diese könnten bei der Prävention unterstützen und ein wichtiges Element der Gesundheitsversorgung werden
09.06.2023
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Zur Person

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Professor Jochen A. Werner

ist Vorstandsvorsitzender Universitätsmedizin Essen. Er treibt die Transformation der Klinik zum Smart und Green Hospital voran. Werner ist Mitglied der Leopoldina. Er sieht Digitalisierung als den Hebel, um die Gesundheitsversorgung gleichermaßen leistungsfähig, finanzierbar und menschlicher zu machen

Sie haben Ihr Medizinstudium 1980 aufgenommen. Was waren damals Ihre Erwartungen und wo sehen Sie jetzt, 40 Jahre später, die Medizin?

Jochen A. Werner: Ich habe immer davon geträumt, Arzt zu werden. Als es dann tatsächlich begann, in den ersten vier Semestern, wo man ja noch nicht so viel mit Patientinnen und Patienten zu tun hat, fragte ich mich aber schnell: Das kann es doch nicht gewesen sein. Ich erinnere mich, wie wir mit Schere bewaffnet Chromosomen ausgeschnitten und die nebeneinandergelegt haben, die vermeintlich zueinander gehörten. Ich habe damals die Professorin für Genetik gefragt: „Ausschneiden und Chromosomen nebeneinanderlegen? Ist das wirklich der Stand der Forschung?“ – „Ja“, sagte sie, „genau.“

Spätestens da war mir klar, dass die Medizin vor einem ungeheuren Schub steht; und tatsächlich wäre das heute unvorstellbar. Was ich damit sagen will: Mich beeindruckt, welchen Wandel ich begleiten durfte.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch Next.2030.

Wo steht Deutschland im Jahr 2030? Was muss passieren, damit das einstige Wirtschaftswunderland künftig international wettbewerbsfähig bleibt? Und wo lauern Gefahren auf dem Weg ins Übermorgen? 33 Vordenkerinnen und Vordenker aus Wirtschaft, Politik, Sport und Wissenschaft wagen im Buch „Next.2030“ – herausgegeben von der Professorin und Aufsichtsrätin Ann-Kristin Achleitner sowie von Hagen Rickmann, Geschäftsführer bei der Telekom Deutschland – eine Prognose.

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Ein anderes Beispiel: Querschnittslähmung. Ich habe mich damals gefragt: Wie kann man verletztes Rückenmark wohl so reparieren, dass Menschen wieder gehen können? Und heute gibt es das Exoskelett oder Verfahren, die es ermöglichen, über Nervenpotenziale, über Gehirnleistung Bewegungen auszulösen. Drittes Beispiel: Wenn früher ein Herzinfarktpatient ins Krankenhaus kam, dann lag er dort teilweise wochenlang, die ganze Zeit den Tod vor Augen. Heute sind Patientinnen und Patienten manchmal nach wenigen Tagen wieder am Arbeitsplatz.

Was hat sich in den Jahren seit Ihrem Studium noch geändert?

Werner: Natürlich kam die Computertechnologie dazu. Nehmen wir das Thema Mikrobiom. Wir alle haben unfassbar viele Mikroorganismen in und auf uns und wissen gar nicht, was diese Bewohner im Schleimhauttrakt und auf der Haut für unsere Krankheiten oder für die Wirksamkeit von Medikamenten bedeuten. Wir wissen aber, dass sich diese Thematik durch Künstliche Intelligenz (KI) und durch Quantencomputer aufklären lässt. Wir werden das Mikrobiom nutzen und beeinflussen können, um bestimmte Krankheiten zu behandeln. Das wird der nächste große Schritt.

Oder der Schlaf: Wir werden künftig am Schlafverhalten erkennen können, ob zum Beispiel ein Mensch mit einer chronischen Darmerkrankung vor einem Entzündungsschub steht – und das, bevor es die ersten spürbaren Symptome gibt. Das alles gelingt aber nur mit digitaler Technologie, mit der Digitalisierung, mit Daten, mit KI. Meiner Ansicht nach werden in den nächsten 40 Jahren nahezu alle Krankheiten viel früher erkennbar sein. Sie werden entweder heilbar oder chronifizierbar sein, was dazu führt, dass die Menschen viel, viel seltener daran sterben.

Sie klingen euphorisch. Gleichwohl können wir das Interview jetzt nicht beenden...

Werner: Ja, weil ich sehe, wo die Reise aktuell immer noch hingeht. Ich würde mich natürlich freuen, wenn Deutschland an dieser Entwicklung in angemessenem Maße teilnehmen könnte und nicht nur staunend ins Ausland schauen müsste. Aber das ist leider viel wahrscheinlicher, weil wir durch den Datenschutz maximal gehemmt werden.

Sobald wir einmal visionär denken und sagen „Da geht die Zukunftsmedizin hin“, melden sich die Bremser, die Verharrer und Verweigerer zu Wort. Dabei geht es dann meist gar nicht um futuristische Ziele, es geht um einen europäischen Standard, um das elektronische Rezept, um Vermeidung von Wartezeiten. Denn genau in diesen Momenten fängt der Datenschutz an, die Innovation zu hemmen. Gerade im Gesundheitswesen. Und dazu kommt noch der Lobbyismus. Jemand hat mal gesagt, dass in Deutschland der Lobbyismus im Gesundheitswesen am stärksten ausgeprägt ist – fast so stark wie in der amerikanischen Waffenindustrie.

Das zeigt: Die Veränderungsbereitschaft fehlt in unserem Land in erschreckender Form, wir hemmen uns selbst, darin ist Deutschland wahrscheinlich Weltmarktführer.

Weibliche und männliche medizinische Forscher nutzen futuristisches virtuelles Interface

Wenn Sie über das Gesundheitswesen zu entscheiden hätten, was würden Sie tun? Was wären Ihre konkreten nächsten Schritte?

Werner: Ich würde sagen, und ich sage: Wir brauchen zwingend eine bundesweite Digitalstrategie, eine maximale Offensive. Die fehlt seit Jahrzehnten. Bundesweit bedeutet das dann auch Vorgabe und damit die Abkehr vom hemmenden Föderalismus bei gesundheitsrelevanten Aufgaben, woran bisher jeder Gesundheitsminister mit guten Ideen scheiterte. Gesundheitswesen muss Bundessache sein. Doch statt eines unverzichtbaren Digitalministeriums haben wir jetzt unter der neuen Regierung die Digitalbranche ans Verkehrsministerium gehängt.

Es ist immer wieder das Gleiche. Wir müssen also, wie es andere Länder vorgelebt haben – Beispiel Dänemark –, eine langfristige Strategie aufsetzen und umsetzen, unabhängig davon, wer gerade regiert. Im Gesundheitswesen der Zukunft muss die Universitätsmedizin Koordinationscharakter haben, weil sie für Lehre, Forschung, Krankenversorgung und in weiten Bereichen auch für Weiterbildung zuständig ist. Sie steht in der Verantwortung, die ganzen Patientendaten zu analysieren.

Wir haben in Deutschland eine Versorgungsforschung, die viel, viel mehr Potenzial hat, aber wir nutzen sie nicht. Wir wissen zum Beispiel gar nicht wissenschaftsbasiert, was in Praxen passiert. Wir wissen gar nicht, was mit Menschen in der Rehabilitation passiert. Prävention erschließt sich uns überhaupt nicht. Wir hätten aber die Chance zu sagen: Alle Gesundheitsdaten in Deutschland werden künftig wissenschaftlich analysiert. Vorher allerdings müssen sie erhoben werden, und das darf nicht am Datenschutz scheitern. Dazu ist eine funktionierende elektronische Patientenakte mit allen Gesundheitsdaten, und zwar verpflichtend für alle Bürgerinnen und Bürger, zwingend erforderlich.

Aber natürlich erleben wir auch hier: Bedenken. Aus der Politik höre ich nur Lippenbekenntnisse auf Wahlveranstaltungen. Allerdings machen sich damit die dafür Verantwortlichen auch schuldig: Leider sterben immer wieder Menschen, weil kein Zugriff auf ihre Gesundheitsdaten möglich ist. Ein Trauerspiel. #toddurchdatenschutz ist leider viel zu oft zur Realität geworden.

Sie fordern die Reduzierung der Zahl von Krankenhausbetten und die Schliessung von Krankenhäusern.

Werner: Wir haben einen Pflegenotstand, ja. Ich wage aber die These: Nicht die Anzahl der Pflegekräfte, sondern die der Krankenhausbetten und die Form unserer Organisationsstruktur sind das Problem. Was die Anzahl der Pflegekräfte in Krankenhäusern angeht, stehen wir in Europa im guten Mittelmaß – in der Anzahl der Krankenhausbetten sind wir jedoch Weltmarktführer. Also müssen wir die Betten dramatisch reduzieren. Nur scheitert das an der Politik.

2004 wurde das Fallpauschalensystem aufgebaut mit dem Ziel, den Krankenhausmarkt zu bereinigen. Was dazu führte, dass sich geschäftstüchtige Krankenhausmanager auf Krankheitsbilder fokussierten, mit denen mehr Geld verdient werden konnte. Auf der anderen Seite mussten Unikliniken etwa Lebertransplantationspatienten bewältigen, was in diesem Vergütungssystem überhaupt nicht finanziell abbildbar war. So ging die Schere auch zwischen ökonomisch gesunden Krankenhäusern und angeschlagenen Universitätskliniken auseinander. Das ist über die Jahre etwas angepasst worden, ehe 2022 von Gesundheitsminister Karl Lauterbach die „größte Revolution seit 20 Jahren“ angekündigt wurde. Und was steckt dahinter? Wieder ein verändertes Vergütungssystem.

Selbst wenn es funktionieren würde, dauerte es Jahre, ehe Veränderung eintritt. Denn die Last wird für Fachkräfte immer schwerer, weshalb ein Teil davon den Beruf aufgibt. Wir müssen einfach anerkennen: Krankenhausbetten müssen deutlich reduziert, Krankenhäuser müssen teilweise geschlossen, teilweise müssen sie umgebildet werden – zum Beispiel in Alten- und Pflegeheime. Sonst fehlen in wenigen Jahren 500.000 Pflegekräfte. Was das bedeutet, ist klar: Wir müssen andere Menschen befähigen, Pflegeleistungen zu übernehmen – durch Tutorials, die bestimmte Handgriffe und Zuwendungen lehren. Und dazu muss die größte deutsche Digitaloffensive kommen.

Lassen sie uns auf etwas positives zurückkommen: Was zeichnet sich Ihrer Meinung nach in der Behandlung von Krankheiten heute ab, was uns vielleicht 2030 schon hilft? Welche großen Entwicklungen sehen Sie?

Werner: Sie haben vor allem mit Analytik, Datenwissenschaften, KI zu tun. Nehmen wir die seltenen Erkrankungen. Bei Patientinnen und Patienten, die davon betroffen sind, dauert es im Schnitt sieben Jahre, bis sie erkannt sind. Das bedeutet: ganz viel Leid, Enttäuschung, unzählige Arzt- und Krankenhausbesuche.

Heute ist klar: Wenn man die Symptome dieser Patienten zusammenfasst, deren Befunde dazu gibt und den Computer einbindet, hat man teilweise die richtigen Diagnosen in wenigen Minuten. An solchen Entscheidungsunterstützungs-Systemen kommen Ärztinnen und Ärzte künftig nicht mehr vorbei. Aber dazu gehört natürlich auch ein verändertes Mindset: Ich muss zulassen wollen, dass mir die Maschine hilft. Die Patientinnen und Patienten tun es sogar selbst schon: Sie befragen Dr. Google – übrigens ohne Rücksicht auf Datenschutz.

Wir haben seit Jahren in der Onkologie beobachten können, dass personalisierte Medizin mehr und mehr hilft. Man hat die Tumorcharakteristika, analysiert diese Daten zu den Patientinnen und Patienten und kommt zu einer Vorschlagsliste von zwei, drei Therapieverfahren – ganz eng angebunden an Studienwissen, das über Jahre weltweit zusammengetragen wurde. So entsteht eine viel höhere Wahrscheinlichkeit zur Heilung.

Oder der Bereich Gentechnologie, in dem versucht wird, Gendefekte zu reparieren. Hier stehen wir am Anfang, aber in zehn, 15 Jahren werden riesige Fortschritte gemacht sein. Und so sehen Sie nur an diesen wenigen Beispielen: Wir erleben gerade eine Revolution in der personalisierten Medizin.

Junge Frau mit Smartphone in der Stadt

So gut das klingt: Wer bezahlt das alles?

Werner: Das ist ein Riesenproblem. Wir stellen schon heute fest, dass das Gesundheitswesen volkswirtschaftlich entgleitet. Die Krankenkassen haben erhebliche Schwierigkeiten, all die Leistungen zu vergüten. Das heißt: Wir müssen die Menschen mehr in die Selbstverantwortung nehmen, viel mehr auf Prävention setzen.

Menschen müssen, wann immer es geht, außerhalb von Krankenhäusern behandelt werden. Damit entlasten wir obendrein das Personal. Warum machen wir es zum Beispiel nicht so, dass alle Menschen mit einer Smartwatch ausgestattet werden oder mit anderen Trackingsystemen, worüber wir Gesundheitsdaten analysieren können, worüber wir Anzeichen für Herzinfarkte, für schwere Rhythmusstörungen rechtzeitig erkennen, bevor sie dann manifest werden und das Gesundheitssystem wirklich belasten? Das könnten wir!

Überlegen Sie doch mal, in welche Vorhaben zig Milliarden Euro fließen. Wie wichtig ist uns die Volksgesundheit? Ohne solche oder andere Strategien wird sich die Zweiklassenmedizin noch viel stärker herauskristallisieren, als es heute schon der Fall ist.

Sie dürfen zum Schluss ein bisschen träumen: Die Menschen achten alle auf ihre Gesundheit, die Bettenproblematik in Kliniken ist gelöst, wir heilen Krankheiten besser, haben auch das Geld dazu – wohin führt das? Wie sieht die Gesellschaft der Zukunft aus?

Werner: Wenn der Datenschutz auf ein angemessenes Maß rückgeführt ist, wenn wir ideal alle Daten analysieren können, Menschen sich selbst vermessen, dann bin ich davon absolut überzeugt, dass diejenigen, die heute geboren werden, nicht selten 120 bis 150 Jahre alt werden können. Viele der Menschen, die heute geboren werden, wissen dann auch, dass sie sich nicht so ernähren sollen, wie sich meine Generation ernährt hat. Sie wissen, dass Prävention unverzichtbar ist, zum Beispiel durch Trackingsysteme. Das ist schon mal eine viel bessere Ausgangssituation.

Und dann wird ja die Medizin während ihrer Lebenszeit, also in den nächsten 50, 60, 70 Jahren, aus den obengenannten Gründen unfassbare Fortschritte machen. Die älteste Person der Welt war ja schon über 120; das zeigt ja, dass es geht. Aber es wird noch viel häufiger vorkommen.

Doch wir müssen auch an meine Generation denken. Wenn deren Hirnleistung im Alter abnimmt, weil ihr Verhalten, ihre Lebensumstände nicht so gut waren, bedeutet das: Es wird in der Zukunft auch immer mehr ältere Menschen geben, von denen wir gar nicht wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Die von der Familie vielleicht nicht gepflegt werden, die dement sind, die gar nicht in einer Einrichtung untergebracht sind, die für Demente gut ist. Dafür wird man Lösungen finden müssen.

Und es kommt ein neues Thema auf uns zu: Hitze. Sie wird uns immer mehr zu schaffen machen. Viele Krankenhäuser haben keine Klimaanlagen. Heute sterben schon jedes Jahr in Deutschland Tausende an den Folgen der Hitze. Das wird um ein Vielfaches zunehmen. Und es trifft natürlich vor allem die Schwachen.

Wenn man Ihnen zuhört, hört man sehr viel Begeisterung – und sehr viel Frust. Was überwiegt? Und würden Sie alles wieder so machen, also noch mal Medizin studieren und sich in dieses positive Chaos stürzen?

Werner: Ja, sofort und ohne zu zögern. Dass Begeisterung und Frust zusammenkommen, das würde ich sofort unterschreiben. Aber die Begeisterung überwiegt natürlich. Meine Tochter studiert auch Medizin. Ich habe mich darüber sehr gefreut und ihr gesagt: Du wirst in diesem Studium einen Wandel erleben und mitgestalten können, wie es ihn noch nie in der Medizingeschichte gegeben hat.

09.06.2023
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