ein Mann schreit laut und schüttelt dabei den Kopf
04.10.2023    Madeline Sieland
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Erneut sind die Fehlzeiten aufgrund von Depressionen, Anpassungsstörungen, Angststörungen und anderer psychischer Erkrankungen gestiegen. Meldungen dieser Art liest man seit Jahren wieder und wieder.

Dieses Mal stammt die Auswertung von der KKH Kaufmännische Krankenkasse. Zwischen dem ersten Halbjahr 2022 und dem ersten Halbjahr 2023 sind die Fehlzeiten wegen seelischer Leiden bei den KKH-Mitgliedern um 85 Prozent gestiegen. Demnach kamen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres auf 100 KKH-Mitglieder 303 Ausfalltage; im Vorjahreszeitraum waren es nur 164 Tage.

Fast alle Erwerbstätigen fühlen sich gelegentlich gestresst

KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick beobachtet die Entwicklung mit Sorge – zumal die langen Abwesenheiten einen Teufelskreis in Gang bringen können: Die Kolleginnen und Kollegen einer betroffenen Person federn den Arbeitsausfall ab und laufen so selbst Gefahr, einen Burn-out oder andere erschöpfungsbedingte psychische Erkrankungen zu entwickeln.

Laut der KHH-Analyse machen akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen nicht nur die Mehrheit aller psychisch bedingten Krankschreibungen aus. Hier stieg die Arbeitsunfähigkeitsquote innerhalb eines Jahres auch am stärksten – nämlich um 42 Prozent.

„Dies zeigt, dass immer mehr Arbeitnehmende unter ungewöhnlichem Druck, großen Belastungen und Dauerstress stehen“, so Judick. Da verwundert es auch nicht, dass sich 90 Prozent der Erwerbstätigen zumindest gelegentlich gestresst fühlen. 60 Prozent gaben an, dass der Stress in den vergangenen zwei Jahren zugenommen habe.

Stressoren sind neben dem Job die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen wie Inflation und Klimawandel, aber auch zu hohe Ansprüche an sich selbst. Als Stressfaktoren werden zudem die ständige Erreichbarkeit via Social Media und Smartphone empfunden.

Mentale und körperliche Beschwerden nehmen im Homeoffice zu

Und genau damit wären wir auch schon bei der Frage, an der sich die Geister scheiden: Hat die schöne, neue Arbeitswelt nun eine Mitschuld an der Zunahme psychischer Erkrankungen – oder nicht? Denn statt einer guten Work-Life-Balance hat sich im Homeoffice oftmals Blended Work eingestellt. Arbeits- und Privatleben gehen fast nahtlos ineinander über; es fällt schwer, klare Grenzen zu ziehen und wirklich abzuschalten.

Ein Team um Professor Thomas Rieger, Senior Expert für Sport & Health an der University of Europe for Applied Sciences, hat mehrere Studien analysiert, die sich mit den gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeit im Homeoffice befassen.

Das Ergebnis der Metaanalyse: Die mentalen und körperlichen Beschwerden der Arbeitnehmenden im Homeoffice haben zugenommen. So führt beispielsweise eine unzureichende Ausstattung der Heimarbeitsplätze zu Verspannungen. Und die körperliche Inaktivität in den eigenen vier Wänden und das lange Sitzen sorgen vermehrt für Rückenschmerzen, Angstzustände und ein erhöhtes Stresslevel.

Riegers Fazit: Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers greift auch im Homeoffice. „Führungskräfte müssen aktiv werden und gesundheitsfördernde Angebote in ihren Teams kommunizieren. In Unternehmen sollte stärker diskutiert werden, wie das betriebliche Gesundheitsmanagement ins Homeoffice übertragen werden kann und sich so auch dort effektiv auf die Gesundheit des Arbeitnehmers auswirken kann“, so Rieger.

„Mentales Wohlbefinden des Teams ist Chefsache“

„Die höchste Priorität für Mitarbeitende hierzulande ist eine gesunde Work-Life-Balance und Zufriedenheit im Job“, sagt Jenny von Podewils, Co-Gründerin und Co-CEO der Personalentwicklungs-Plattform Leapsome. „Unternehmen müssen verstehen, dass Work-Life-Balance und eine motivierende, auf den einzelnen Menschen ausgerichtete Unternehmenskultur kein Nice-to-have ist, sondern eine entscheidende strategische Komponente für Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit. Das mentale Wohlbefinden des Teams ist Chefsache.“

In einer kürzlich veröffentlichten, international durchgeführten Studie zu Mitarbeiterzufriedenheit von Leapsome und YouGov gibt mehr als die Hälfte der deutschen Arbeitnehmenden an, eine sehr gute Work-Life-Balance zu haben. Zudem schätzen 95 Prozent ihre mentale Gesundheit als gut ein.

Interessant ist: Die Mehrheit der Befragten in Deutschland betonen, ihre mentale Gesundheit habe sich im Vergleich zum Vorjahr verbessert – etwa, weil sie Leistungen zur Förderung der mentalen Gesundheit in Anspruch nehmen, die ihr Arbeitgeber bietet, oder weil sie das Gefühl haben, dass sich ihre Führungskraft um ihr seelisches Wohlbefinden sorgt.

Führungskräfte berichten aus der Praxis

Denn: Mental Health ist nicht nur Privatsache. Die Stimmung im Team, die Aufgaben im Job, die Kommunikation im Unternehmen, dessen Organisationsstruktur: Auch das beeinflusst die seelische Gesundheit.

Führungskräfte von Back Market, einem Marktplatz zum Wiederverkauf erneuerter Technik, sowie von der Berliner Agentur Openers verraten, wie sie in ihren Unternehmen die mentale Gesundheit fördern.

Anne-Laure Mazzia, Office Manager bei Back Market:

„Für den Fall, dass der Alltag einen überwältigt und es doch einmal zu viel wird, bieten wir unseren Angestellten verschiedene Stressmanagement- und Entspannungskurse an. Falls diese nicht ausreichen, haben wir eine Support-Hotline eingerichtet, an die sich jede beziehungsweise jeder in besonderen Krisensituationen wenden kann. Jährliche Mitarbeiterzufriedenheitsumfragen dienen als Grundlage zur Anpassung unserer Strategie, um das Wohlbefinden der Mitarbeitenden aufrechtzuerhalten.“

Marine Battez, Senior People Partner bei Back Market:

„Die Balance zwischen Arbeit und Familie ist für Eltern eine besondere Herausforderung. Wir haben den Parental Act eingeführt, der auch dem Elternteil, das nicht offiziell in Elternzeit ist, fünf Wochen bezahlte Elternzeit bietet. Außerdem haben wir uns mit der Parental Challenge eine Verpflichtungserklärung auferlegt, in der wir versuchen, das Unternehmen möglichst familienfreundlich zu gestalten. Dazu zählen zusätzliche bezahlte Kinderkrankheitstage, bezahlte Abwesenheiten von Mitarbeitenden, die sich um eine Adoption bewerben, aber auch bezahlter Trauerurlaub bei Fehlgeburten.“

Carolin Lessoued, CEO und Co-Gründerin von Openers:

„Im Rahmen der Covid-Pandemie sind die Self Care Days entstanden – ein zusätzlicher freier Tag alle zwei Monate, an dem die Beschäftigten sich ganz um sich selbst kümmern und neue Energie tanken können, um dem privaten sowie beruflichen Mental-Load entgegenzuwirken.“

Kerstin Bock, CEO und Co-Gründerin von Openers:

„Grundsätzlich sind wir der Auffassung, dass vor allem soziale Isolation mentale Probleme verstärken kann. Gleichzeitig wissen wir aber auch selbst sehr gut, dass es Tage und/oder Phasen gibt, an/in welchen man soziale Interaktion eher vermeiden und für sich sein möchte. Unsere Angestellten können also frei entscheiden, ob sie sich fit genug für das Büro fühlen. Außerdem empfinden wir Work from Anywhere als unglaublichen Wellbeing-Booster. Daher unterstützen wir ortsunabhängiges Arbeiten.“

04.10.2023    Madeline Sieland
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