Menschen gehen in einer Büro-Umgebung unterschiedlichen Tätigkeiten nach statt im Homeoffice zu arbeiten
10.07.2023
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Zur Person

Porträt-Foto von Margret Suckale

Margret Suckale

ist Mitglied in den Aufsichtsräten von Deutsche Telekom, DWS Group, HeidelbergCement und Infineon Technologies. Zuvor war sie Präsidentin des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie sowie Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektorin bei BASF

Wir leben in einer Zeit des Wandels am Arbeitsmarkt. Der Generation „Hierarchie, Geld und Aufstieg“ folgten die Generationen Y und Z, die eher auf ihr eigenes Wohl, Purpose und Work-Life-Balance achten. Wird das so bleiben? Was erwarten die Menschen in Deutschland im Jahr 2030 von den Unternehmen, für die sie arbeiten?

Margret Suckale: Vieles, was Menschen heute von ihren Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern erwarten, wird auch 2030 einen großen Stellenwert haben. Zum Beispiel, dass Mitarbeitende ernst genommen und wertgeschätzt werden möchten. Eine Kultur, die nicht nur die Ergebnisse der Arbeit anerkennt, sondern den Menschen hinter der Funktion. Ein gutes Miteinander am Arbeitsplatz wird auch in Zukunft ausschlaggebend sein. Wer es sich aussuchen kann, wird nur in einem Team arbeiten wollen, in dem die Chemie stimmt, das divers ist und vor allem auch inklusiv.

Arbeitnehmende sind im Laufe der Zeit aber deutlich anspruchsvoller und selbstbewusster geworden. Außerdem hat sich der Arbeitsmarkt in vielen Bereichen zu einem Arbeitnehmermarkt gewandelt. Gut ausgebildete Menschen können zwischen mehreren Angeboten wählen. Und sie werden ihre potenziellen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch kritischer auf den Prüfstand stellen, bevor sie einen Arbeitsvertrag unterschreiben.

Immer wichtiger wird für viele die Frage: Welchen Sinn und Zweck erfüllt meine Arbeit? Das ist keine abgehobene philosophische Thematik, sondern bedeutet ganz konkret: Kann ich abends, wenn ich mich mit Freunden treffe, mit Stolz über meine Arbeit und meinen Arbeitgeber sprechen? Weiß ich, wofür ich morgens aufstehe? Was kann ich mit meiner Arbeit konkret beitragen und verändern? Das beschäftigt immer mehr Menschen; das Thema Purpose gewinnt weiter an Bedeutung.

Was wird sich noch verändern?

Suckale: Wir erleben eine Flexibilisierung der Arbeit. Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber stellen sich zunehmend auf alternative und hybride Arbeitszeitmodelle ein. Das zeitliche Spektrum kann dabei von einem Tag bis zu fünf Tagen in der Woche reichen, um Kinderbetreuung, die Pflege von Angehörigen oder persönliche Auszeiten besser mit dem Beruflichen vereinbaren zu können.

Die Modelle sind so vielfältig wie die Lebenslagen der Menschen. Statik und Standardisierung waren gestern; Dynamik und das Eingehen auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen sind heute das Maß der Dinge. Daran müssen sich Top-Arbeitgeberinnen und -Arbeitgeber messen lassen.

Ein möglichst flexibler Einstieg in den Ruhestand wird auch immer relevanter. Die bestehenden Systeme sind viel zu starr und werden den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht. Es gab Zeiten des kollektiven Vorruhestands, und jetzt wird wieder über die Rente mit 70 diskutiert, statt darüber nachzudenken, wie man interessierte Mitarbeitende auch über Altersgrenzen hinaus im Berufsleben halten kann. Auch hier können hybrides Arbeiten und Arbeitszeitflexibilisierung ein zusätzlicher Anreiz sein – unter dem Motto: eine Woche mit den Enkeln und dann wieder eine Woche fürs Büro. Oder auch tagsüber für die Familie und abends für die Firma.

Früher war es oft so: Wenn jemand Homeoffice machte, war das eine Seltenheit. Und es hieß: „Ach, der hat Urlaub!“

Suckale: Das kenne ich auch noch gut aus den Anfangsjahren meiner beruflichen Tätigkeit. Die Präsenzkultur stand über allem. Wenn jemand ausnahmsweise mal früher ging, um den Rest seiner Arbeit zu Hause zu erledigen, hieß es gleich: „Ach, Sie nehmen sich den Tag frei?“ Das mag es vereinzelt auch heute noch geben. Glücklicherweise haben insbesondere die jüngeren Generationen mit dem mobilen Arbeiten kein Problem. Und sie sind es, die die Regeln künftig festlegen.

Aber ich sage auch sehr deutlich, dass das Büro als Teil des gesellschaftlichen Lebens bleiben wird – weniger als der Ort, an dem jede und jeder für sich arbeitet, sondern vielmehr als ein Ort der Begegnung, eine Stätte des Gemeinsamen, ein Netzwerk-Knoten.

Gerade für Berufsanfänger und Seiteneinsteiger ist es wichtig, Kontakte am Arbeitsplatz aufzubauen. Aber nicht nur in den ersten Berufsjahren sind die Mittagspause in der Kantine und das informelle Gespräch in der Kaffeeküche durch nichts zu ersetzen. Darum wird auch ein zeitgemäßes Büroumfeld immer wichtiger. Und damit meine ich nicht nur einladende Kantinen, Cafés und Fitnessräume, sondern eine Architektur, die ein ideales Umfeld für Teambuilding und spontane Diskussionsrunden bietet und gleichzeitig Rückzug erlaubt.

Nach Corona reden alle von flexiblen Arbeitsmodellen. Sind wir schon auf dem Höhepunkt der Entwicklung?

Suckale: Die Pandemie war so einschneidend, dass es kein einfaches Zurück zur Zeit vor Corona gibt. Die Lockdowns waren ohne Zweifel der große kollektive Gamechanger in Sachen Homeoffice. Und immer wenn heute von New Work die Rede ist, dann geht es ja vor allem anderem darum, wie man mobiles Arbeiten bestmöglich voranbringen kann.

Zufriedenheit am Arbeitsplatz und Verbundenheit mit dem Unternehmen heißt für mich aber auch, regelmäßig vor Ort zu sein, um Kontakte zu pflegen, um Stimmungen und Veränderungen unmittelbar mitzubekommen. Die fünf Minuten vor einem Meeting, in denen man sich gegenseitig fragt: „Na, wie gehts?“ Das kurze Gespräch beim Kaffee, in dem manchmal wichtigere Dinge als im großen Termin besprochen werden. Der kurze Gedankenaustausch im Vorbeigehen auf dem Flur, bei der gemeinsamen Fahrt im Aufzug oder auf dem Weg zur Haltestelle. All das ist nicht zu ersetzen. Darum kann ich mir nicht vorstellen, dass wir 2030 nur noch oder zu einem überwiegenden Teil von zu Hause arbeiten.

Der Mensch ist auf soziale Kontakte angewiesen, und gute Mitarbeiterführung funktioniert nicht auf Distanz. Kreativität und Innovation kann auf die Dauer nur im Team gedeihen. Denken Sie an Design-Thinking-Prozesse, in denen Menschen verschiedener Disziplinen zusammen an kreativen Problemlösungen arbeiten. Das ist nicht vom Computer aus, sondern nur in einem physischen Umfeld möglich, das Kreativität fördert. 

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch Next.2030.

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Es gibt auch Menschen, die das können, und denen nichts fehlt. 

Suckale: Wenn Mitarbeitende nur von zu Hause arbeiten, dann kann es ihnen doch eigentlich egal sein, ob sie für die Firma A, B oder C arbeiten. Wenn so ein reiner „Homeofficer“ kündigt und einen neuen Job bei einer anderen Firma annimmt, wählt sie oder er sich lediglich mit einem neuen Passwort ein, geht auf eine andere Website und arbeitet ansonsten weiter wie bisher. Eine echte Mitarbeiterbindung können Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber so nur schwer herstellen. Das Office-Home-Verhältnis sollte daher immer einen stärkeren Ausschlag zur Anwesenheit im Büro haben.

Hinzu kommt, dass sich das Homeoffice während der Pandemie auch im gewissen Sinne entzaubert hat. Denn nach ersten positiven Erfahrungen haben nicht wenige spätestens im zweiten Lockdown über Zoom-Fatigue, Vereinsamung und Bewegungsmangel geklagt. Umso erfreulicher ist es, dass die Generation Z laut einer Studie von LinkedIn gerne ins Büro kommen will. Danach ist noch nicht mal jede beziehungsweise jeder Fünfte der Millennials am reinen Homeoffice interessiert. Als Hauptargument wird der Wunsch nach einer klaren Trennung von Arbeit und Privatem genannt.

Welche Rolle spielen 2030 Image und Nachhaltigkeit des Unternehmens, in dem ich arbeite?

Suckale: Eine immer wichtigere! Mitarbeitende merken, ob es sich beim Unternehmensimage lediglich um eine geschickt formulierte Außendarstellung handelt oder um etwas, das die Führungsmannschaft im Kern antreibt. Werden die Versprechen nicht eingehalten, schauen sich die Mitarbeitenden am Markt um und wechseln den Arbeitgeber.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir 2030 generell mehr Jobwechsel sehen. Schließlich wurde die Generation Z nicht so erzogen, dass dies etwas Negatives ist oder gar die Karriere gefährdet. Das war früher anders. Da hieß es: „Du musst spätestens mit 40 den Arbeitgeber gefunden haben, bei dem du in Rente gehen willst.“

Wichtig ist, die Mitarbeitenden beim Thema Nachhaltigkeit ganz stark einzubinden. Sie haben die besten Ideen und wollen die Transformation aktiv mitgestalten. Sie wollen nicht nur verstehen, welchen ökologischen Fußabdruck ihr Unternehmen heute hat und in Zukunft anstrebt, sondern auch den Weg dorthin nachvollziehen können. Nur ein Ziel wie die Klimaneutralität bis 2030 oder 2040 in den Raum zu stellen – das reicht bei Weitem nicht aus. Die Performance eines Unternehmens lässt sich nur auf nachhaltigem Wege steigern. Alles andere, insbesondere wenn Wachstum auf Kosten von Menschenrechten erzielt würde, wäre für die Reputation des Unternehmens und die Identifikation der Mitarbeitenden fatal.

Gibt es 2030 bessere Möglichkeiten für Arbeitnehmende, die Versprechen der Unternehmen auf Nachhaltigkeit zu überprüfen?

Suckale: Ein Stück weit gibt es das ja schon: Arbeitgeber-Rankings und externe Plattformen, auf denen Mitarbeitende sich äußern können. Übrigens wird auch auf firmeninternen Social-Media-Kanälen dazu sehr offen kommuniziert. Und wir haben die klassischen Medien, die regelmäßig über Unternehmen berichten. Hinzu kommen Analysten, die börsennotierte Unternehmen in puncto Nachhaltigkeit unter die Lupe nehmen. Und Politikerinnen und Politiker sowie NGOs, die ihre Erwartungen an die Wirtschaft äußern. So transparent wie heute war es also noch nie; man kann und sollte sich auf vielen Wegen informieren.

Einige Arbeitgeber bieten Bewerberinnen und Bewerbern übrigens inzwischen Gespräche mit Mitarbeitenden im Unternehmen an, die die angestrebte Position bereits ausüben, damit sie sich ein Bild machen können. Oder man sucht sich direkte Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner über LinkedIn, Facebook, et cetera. Die Möglichkeiten, viele authentische Quellen zu nutzen, werden sich in den nächsten Jahren noch weiter verbessern. Arbeitgeber bewerben sich heute bei potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, nicht mehr umgekehrt. Diese Bewerbungen funktionieren heute und künftig zunehmend auf anderen Kanälen. Jobbörsen und Veranstaltungen an Universitäten werden zwar noch recht gut besucht, aber die sozialen Medien werden immer relevanter. Wer hier nicht die richtigen Formulierungen, die interessierenden Attribute und die passende Ansprache findet, dessen Stellenangebote werden die jungen Jobsuchenden kaum in Betracht ziehen.

Wie lernen denn die älteren Führungskräfte, die eher auf Gewinnmaximierung getrimmt sind, Purpose und zeitgemäßes Führen?

Suckale: Gewinnmaximierung um jeden Preis ist ein Modell, das längst ausgelaufen ist. Die fokussierte Shareholder-Orientierung hat sich zum breiten Stakeholder-Ansatz gewandelt. Und ein wichtiger Stakeholder sind Mitarbeitende.

Neben operativen und finanziellen Zielen wird daher heute in guten Unternehmen die Mitarbeiterzufriedenheit gemessen. Und eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit ist in einigen Unternehmen eines der Ziele, nach denen sich der Bonus für Vorstand und Führungskräfte berechnet. Und das ist gut so!

Mitarbeiterführung ist und bleibt die große Herausforderung. Denn auch ein wesentlich informelleres Miteinander, Duz-Kultur und lockere Kleiderordnungen ändern nichts daran, dass Mitarbeitende eine Führungskraft haben möchten, die ihnen Raum, Anerkennung und Wertschätzung, aber auch klares Feedback gibt. Eine Führungspersönlichkeit, die sie darin unterstützt, sich bestmöglich entwickeln und eine optimale Leistung zeigen zu können. Nicht jede und jeder kann führen. Viele denken aber, es tun zu müssen, weil es mit einem Aufstieg in der Hierarchie verbunden ist. Einige wären aber in einer Expertenkarriere viel glücklicher.

Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie viele Mitarbeitende auch heute noch mit ihren Führungskräften unzufrieden sind, obwohl Mitarbeiterführung in den Unternehmen seit Jahrzehnten ein Top-Thema ist und ich gleichzeitig unterstelle, dass die überwältigende Mehrheit der Führungskräfte gute Intentionen hat.

Wie könnte die Lösung aussehen?

Suckale: Aufstieg muss nicht notwendigerweise Führungsverantwortung einschließen. Daher ist es wichtig, dass Unternehmen Expertenkarrieren anbieten. Manche Menschen sind ausgezeichnet auf ihrem Fachgebiet, haben aber nicht den Wunsch oder die Fähigkeit, andere Menschen anzuleiten oder sie zu unterstützen, ihr Potenzial zu entfalten. Warum soll man sie verlieren? Das haben viele Unternehmen erkannt.

Trotzdem ist es oft noch so: Wenn eine schlechte Führungskraft gute Ergebnisse bringt, bleibt sie auf dem Job. Schlechte Führung ist immer noch zu selten ein Grund für eine Ablösung. Darum sollten Unternehmen ihren Führungskräften regelmäßiges 360-Grad-Feedback ermöglichen. Auch systemisches Coaching ist eine gute Möglichkeit, Situationen durchzuspielen und das eigene Verhalten aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Viele hochrangige Managerinnen und Manager nutzen heute offensiv die Unterstützung durch einen Business-Coach und stehen dazu.

Nicht nur in Führungspositionen, sondern ganz allgemein im Berufsleben spielen Frauen keine gleichberechtigte Rolle. Nur etwa jede zweite Frau in Deutschland arbeitet Vollzeit. Was muss sich hier ändern?

Suckale: Ich bin überzeugt davon, dass Frauen bereits viel verändert haben, weil sie ein Rollenmodell leben, das mittlerweile von immer mehr Männern übernommen wird. Eigentlich haben sie die Arbeitswelt revolutioniert, indem sie konsequent die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eingefordert haben. Sie sind sich und ihren Werten treu geblieben und haben die etablierten Modelle nicht akzeptiert.

Mittlerweile haben auch viele Männer die Vorteile einer höheren Flexibilität erkannt und möchten diese nicht mehr missen. Und Arbeitgeber haben gemerkt, dass sie es dennoch mit leistungsorientierten und ambitionierten Mitarbeitenden zu tun haben. Was, alles zusammengenommen, auch zu einem ganz neuen Führungsstil geführt hat. Ich stelle immer mehr fest, dass der Führungsstil, den man eher den Frauen zuschreibt – also etwa: kooperativ, moderierend, nicht so hierarchisch, Teams formend, zuhörend, unterschiedliche Meinungen zulassend –, immer mehr auch von Männern bevorzugt wird.

Von Männern, die früher und manchmal auch heute ganz anders tick(t)en...

Suckale: Auch Männer haben früher ja ausschließlich männliche Rollenmodelle gehabt. Wer also in einer Unternehmenskultur aufsteigen wollte, in welcher der auf sich bezogene und laut auftretende Chef erfolgreich war, hat dies möglicherweise kopiert und darüber sein Team vernachlässigt. Heute weiß jede und jeder: Angst vorm Chef ist leistungstötend. Neue Managementstile, die häufig von Frauen bevorzugt werden, tragen erheblich dazu bei, dass das Umfeld freundlicher und wertschätzender ist.

Aber ich will hier nicht zu schwarz-weiß malen. Ich hatte in meinem Leben viele männliche Vorgesetzte, die ausgezeichnete Führungspersönlichkeiten waren. Ohne deren Unterstützung wäre ich nicht so weit gekommen. Wenn ich aber gleichzeitig höre, dass es immer noch Manager gibt, die ihre Mitarbeitenden respektlos und von oben herab behandeln, dann frage ich mich, was in diesen Leuten vorgeht.

Von welchem Arbeitsmarkt müssen wir ausgehen? Wir haben in unserem Gespräch bisher den Idealfall angenommen. 

Suckale: Der Arbeitsmarkt ist immer Schwankungen unterworfen. Mal hören wir von Entlassungen und Kurzarbeit, dann wieder von Tausenden unbesetzten Stellen. Das Problem unserer Zeit ist nicht nur der Fachkräftemangel, sondern generell ein Mangel an geeigneten Arbeitskräften. Ob hoch qualifiziert oder ohne Schulabschluss, überall werden leistungsbereite Menschen gesucht. Wir leben wie gesagt in einem Arbeitnehmermarkt. Arbeitgeber müssen sich daher gut überlegen, was sie Bewerberinnen und Bewerbern anbieten können. Und sie sollten sich viel einfallen lassen, um sie zu halten. Personalmangel führt immer mehr dazu, dass Unternehmen Aufträge ablehnen und ihre Prognosen nach unten korrigieren müssen. Vor allem für die Digitalisierung gibt es nicht genug Personal. Laut einer Bitkom-Studie fehlen in Deutschland 100.000 IT-Fachkräfte.

Wie lösen wir das?

Suckale: Der Fachkräftemangel ist seit Jahren offenkundig. Die Ideen sind da, werden aber nicht konsequent umgesetzt. Eine Stellschraube ist die Höherqualifizierung. Die Telekom hat zum Beispiel frühzeitig im Rahmen ihrer digitalen Transformation mit Re- und Upskilling-Initiativen begonnen – mit gutem Erfolg.

Initiativen wie die Wissensfabrik Deutschland mit rund 130 Unternehmen und Stiftungen aller Branchen und Größen vermitteln nicht nur Wissen, sondern wollen MINT-Nachwuchskräfte begeistern. Gerade bei den Zukunftsthemen spielt naturwissenschaftliche Kompetenzen eine Schlüsselrolle.

Aber auch die klassische Ausbildung muss attraktiver werden. So hat zum Beispiel Infineon früh auf eine zeitgemäße Ausbildung geachtet; dazu gehören heute auch Auslandseinsätze.

Neben der Weiterbildung sollten wir auch konsequenter die qualifizierte Einwanderung nutzen. Die Bundesagentur für Arbeit nennt die Zahl von 400.000 qualifizierten Einwanderern, die wir jedes Jahr bräuchten, um unsere wirtschaftliche Position als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt zu halten. Und diese Zahlen werden in den nächsten Jahren weiter steigen. Wenn wir nicht im internationalen Wettbewerb zurückfallen wollen, sollten wir nicht warten, bis wir irgendwann genügend Fachkräfte an den Unis ausgebildet haben.

Die große Koalition hat doch ein Fachkräfte-Zuwanderungs-Gesetz verabschiedet. Warum wird dies in der Praxis nicht umgesetzt?

Suckale: Das Zuwanderungsrecht braucht grundlegende Reformen. Qualifizierte Arbeitskräfte, die an die Tür klopfen, sollten wir schnell und unbürokratisch integrieren. Etwa zwölf Prozent der Studierenden in Deutschland kommen aus dem Ausland. Sie leben und studieren gerne hier, können aber nach Abschluss ihres Studiums in anderen Ländern häufig schneller eine Anstellung bekommen. Studierende sollten daher schon während ihres Abschlussjahres Gewissheit haben, ob sie bleiben können. Nach dem Examen müssen und wollen viele schnell eine Arbeit aufnehmen; und das Examenssemester sollte nicht mit Bleiberechtsfragen belastet sein.

Außerdem sollten wir an unserer Willkommenskultur arbeiten. Da hat Deutschland bekanntlich nicht den besten Ruf. Für qualifizierte Zuwanderer muss es mehr Anlaufstellen bei den Behörden geben, die auf die speziellen Wünsche und Bedürfnisse dieser Klienten eingehen können. Es existieren bereits einige gute Vorbilder – in Hamburg zum Beispiel, wo es solche Anlaufstellen gibt. Diesen Vorbildern müssen weitere folgen.

Und wenn das nicht funktioniert? Wie sieht das Worst-Case-Szenario 2030 aus?

Suckale: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen spätestens 2031 in Rente. 1964 war der stärkste: In Deutschland wurden fast 1,4 Millionen Kinder geboren; 2002 waren es nur noch halb so viele. Das zeigt die Dimension, über die wir sprechen. Und es wird deutlich, warum so viele Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben. Bestimmte bisher von Menschen ausgeführte Aufgaben können zwar zunehmend durch Automatisierung und Digitalisierung ersetzt werden, aber nach meiner Einschätzung wird dies nicht den entstehenden Arbeitskräftemangel kompensieren.

Worst Case heißt daher, dass Firmen nicht mehr funktionsfähig sind, weil Mitarbeitende fehlen. Das geht auf Kosten von Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit. Und im schlimmsten Fall bedeutet das Insolvenz.

Lassen wir die Menschen zu früh in den Ruhestand gehen?

Suckale: Wir sollten auf jeden Fall auch hier flexibler werden, zum Beispiel in Form von Übergangsmodellen. Viele Ruheständlerinnen und Ruheständler lassen sich vielleicht gern reaktivieren. Sie fühlen sich noch fit, wollen nur nicht mehr fünf Tage die Woche arbeiten, aber zwei oder drei Tage. Laut Bundesamt für Bevölkerungsstatistik sind in der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen nur noch rund 57 Prozent der Frauen und 66 Prozent der Männer erwerbstätig, während die Zahl in anderen Altersgruppen bei 72 und 79 Prozent liegt. Natürlich kann und möchten nicht alle in dieser Altersgruppe körperlich schwere Arbeit verrichten, aber bei attraktiver Entlohnung vielleicht gerne eine Tätigkeit am Schreibtisch.

Leider sind unsere Systeme so starr, dass ein Hinzuverdienst häufig unattraktiv ist. Das gilt genauso für Hartz-IV-Empfänger, für die ein Zuverdienst sofort zu Abzügen ihrer Sozialleistungen führt. Und sicherlich würden auch noch mehr Frauen mehr und länger arbeiten, wenn sie nicht durch unser Steuersystem einen großen Teil ihres Einkommens wieder abgeben müssten, weil der Ehemann die bessere Steuerklasse hat.

Trotz Arbeitskräftemangel: Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass immer bessere Künstliche Intelligenz immer mehr Jobs ersetzt? Deutschland steht auf diesem Gebiet eher am Anfang einer Entwicklung.

Suckale: Die Künstliche Intelligenz wird unser Leben stark verändern, aber die Vorteile überwiegen die Nachteile um ein Vielfaches. Das werden wir in der Medizin zu schätzen wissen, aber auch im Arbeitsleben. KI wird Jobs in Zukunft einfacher, sicherer und angenehmer machen, aber keineswegs immer wegrationalisieren.

In der Gastronomie könnte KI die Auslieferung von Speisen und Getränken übernehmen, denn die Gastronomie leidet ja besonders unter Arbeitskräftemangel. Ob die Gäste das akzeptieren, ist eine andere Frage. Es bleibt dann aber vielleicht mehr Zeit für das Gespräch mit dem menschlichen Personal über die Frage, welches Gericht man wählt und welcher Wein dazu passt.

Ein weiteres Beispiel sind Pflegeberufe, bei denen KI körperlich schwere Arbeiten wie das Bewegen von Patientinnen und Patienten übernehmen kann. So bleibt mehr Zeit für das Gespräch, für Trost und Aufmunterung.

Ideal ist Automatisierung immer dort, wo Freiraum für befriedigendere Tätigkeiten entsteht. Ich bin deshalb überzeugt, dass KI die Zufriedenheit am Arbeitsplatz steigern wird. Leider wurde das Thema Digitalisierung nicht gut eingeführt. Ich erinnere mich an Studien, die nur den Arbeitsplatzverlust adressierten, aber die demografische Entwicklung nicht berücksichtigt haben. Und sind die Prognosen bisher eingetreten? Natürlich haben sich viele Jobs durch die Digitalisierung verändert, einfache oder auch körperliche Tätigkeiten sind weggefallen. Aber deshalb ist die Arbeitslosigkeit nicht größer geworden. Im Gegenteil.

Gibt es zum Schluss noch etwas, was sie sich speziell als Aufsichtsrätin wünschen?

Suckale: Eine Analyse der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen hat vor einiger Zeit den Mangel an HR-Expertise in deutschen Aufsichtsräten aufgezeigt. Wie wichtig eine vorausschauende strategische Personalplanung für den Unternehmenserfolg ist, zeigt sich aber heutzutage mehr denn je. Daher hoffe ich, dass diese Qualifikation einen ebenso großen Stellenwert in den Kompetenzprofilen der Aufsichtsräte erhält wie Erfahrung in Rechnungslegung und Abschlussprüfung.

10.07.2023
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