Eine Schnellschwinger-Uhr von Frederique Constant wird gestellt
09.11.2022    Jan Lehmhaus
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Jedes Zeitmessgerät funktioniert nach dem Prinzip, dass es den Strom der Zeit in viele immer gleiche Schritte unterteilt. Und je kleiner diese Schritte sind, desto präziser sind Messergebnis und Zeitanzeige. Die Unterteilung nimmt ein Oszillator vor, ein Bauteil, das regelmäßig schwingen kann. In Großuhren ist das ein Pendel, in kleineren Werken der Unruhreif. Dessen Schwingfrequenz wird in Halbschwingungen pro Stunde gemessen oder in Hertz ausgedrückt: Halbschwingungen pro Sekunde.

Die ersten Armbanduhren zu Beginn des 20. Jahrhunderts liefen mit 18.000 Halbschwingungen, das sind 2,5 Hertz. Ihr Sekundenzeiger rückte pro Sekunde in fünf deutlich sichtbaren Schrittchen voran. Die größere Genauigkeit durch einen schnelleren Takt wurde aber bald zum Verkaufsargument; die übliche Frequenz stieg auf drei Hertz.

Sirren statt Ticktack

In den 1960er-Jahren etablierten sich daneben flotte Werke mit 28.000 Halbschwingungen, auch als Schnellschwinger bezeichnet. Und im Wetteifern der Marken um technische Leistungsfähigkeit schließlich Werke mit fünf Hertz, also 36.000 Halbschwingungen, auf den Markt. Die konnten zwar die Präzision nicht mehr wesentlich steigern, zeigten aber eine fast fließende Zeigerbewegung, verschmolzen das klassische Ticktack zu einem Sirren.

Von solchen Werken angetriebene Chronographen können die Zeit auf die Zehntelsekunde genau stoppen. Ihr Nachteil: Die Geschwindigkeit verbrauchte jede Menge Energie, also Gangreserve, und sorgte in manchen Konstruktionen für übermäßigen Verschleiß.

Auf die Zehntelsekunde genau

Das wohl bekannteste 5-Hertz-Kaliber, das „El Primero“ von Zenith, wird – technisch immer wieder überarbeitet – bis heute gebaut. Ende der 60er-Jahre, kurz vor der Quarz-Krise entwickelt, ist es der Inbegriff des Wiederaufstiegs klassischer Uhrmacherei. Der Schwingquarz war mit der Frequenz von 32.768 Hertz zwar uneinholbar überlegen, die Mechanik aber kann die Funktion der Uhr sichtbar und verständlich machen.

Darauf setzt Zenith mehr denn je, erklärt Product & Heritage Director Romain Marietta: „Natürlich kommunizieren wir die besondere Präzision unserer Werke und den praktischen Nutzen, der sich aus der Möglichkeit ergibt, die Zehntelsekunde zu messen. Heute können wir das mit der kontinuierlich laufenden Zehntelsekundenanzeige der ‚Defy Skyline‘ und dem Chronographen-Sekundenzeiger der ‚Chronomaster Sport‘, die jeweils nur zehn Sekunden für eine Umdrehung benötigen, noch deutlicher darstellen.“

Das sei natürlich auch ein spielerisches Element, hebe die Uhr aber von anderen ab. „Und wir erreichen damit ein junges Publikum“, hat Marietta beobachtet, „nicht nur in technikaffinen Märkten wie Deutschland, Japan oder Singapur, sondern auch in den USA.“

Neue Technologien erleichtern die Produktion der Schnellschwinger

Natürlich sieht auch er, dass zurzeit wieder mehr Schnellschwinger lanciert werden. Chopard hat gerade eine „Alpine Eagle“-Sportuhr mit seinem acht Hertz schnellen Chronometerwerk ausgestattet. Breguet bietet mit der „Classique Chronométrie 7727“ einen Zeitmesser, der nach ruhigem Takt aussieht, aber mit rasanten zehn Hertz arbeitet. Ganz neu sind 5-Hertz-Chronographen von Czapek und Patek Philippe.

Neuartige Schmierstoffe, Bauteile aus Silizium und Simulationsprogramme erleichtern jetzt die Konstruktion von Schnellschwingern, erläutert Marietta: „Im Prinzip kann das heute jeder bauen. Aber es bedeutet doch eine enorme finanzielle und zeitliche Investition, die wir eben schon vor Jahrzehnten geleistet haben.“

Tradition im Fokus

An eine große Tradition will auch Longines mit seiner „Ultra-Chron“ anknüpfen. Die robuste Taucheruhr atmet nicht nur optisch den Geist der Endsechziger. Angetrieben wird sie von einem 5-Hertz-Automatikkaliber, wie es schon in damaligen Divern der Marke steckte.

CEO Matthias Breschan sieht das Modell nicht nur als Reverenz an die 190-jährige Geschichte des Hauses, sondern auch als Ausweis seiner Zukunftsfähigkeit: „Longines war immer Pionier in der Entwicklung neuer Techniken, beispielsweise bei der Trockenschmierung. Das setzt sich beim Werk der neuen ,Ultra-Chron‘ fort: Die Silizium-Spirale des Kalibers L836 ist leicht, amagnetisch, korrosionsfest.“

Eine Lieferung an andere Marken des Swatch-Konzerns, zu dem Longines gehört, ist zurzeit nicht vorgesehen; das Schnellschwing-Thema sei spezifisch für Longines. Aber Breschan erwägt eine Weiterentwicklung: „Wir könnten uns durchaus vorstellen, das L836 zur Basis einer ganzen Kaliber-Familie zu machen.“

Kunden achten auf technische Aspekte

Mit Grand Seiko hat noch ein Branchen-Riese die schnelle Mechanik wiederentdeckt und zeigt, wie sie sich optimieren lässt. Die ersten 5-Hertz-Kaliber der Japaner wurden ab 1975 nicht mehr hergestellt. 2009 griff man die Tradition wieder auf.

„Wer den Zugang vor allem über die Ästhetik findet, greift vielleicht eher zu Modellen mit Quarzwerk“, sagt Frédéric Bondoux, Europa-Präsident von Grand Seiko. „Aber technisch versierte Kunden, Early Adopters und auffallend viele junge Leute bevorzugen Spring-Drive und eben den Schnellschwinger-Antrieb.“ Wobei Bondoux betont: „Ab einem Preisbereich von 6.000 bis 10.000 Euro ist der technische Aspekt immer sehr wichtig.“

Den verstärkt das Haus mit den im vergangenen Jahr vorgestellten Kalibern 9SA5 und 9RA5. „Wir haben uns die Aufgabe gestellt, die Gangreserve wesentlich zu erhöhen und das Werk dennoch ganz flach zu konstruieren“, erklärt Bondoux. Dafür wurde eine völlig neue, energiesparende Hemmung entwickelt; die Gangreserve des nur gut fünf Millimeter hohen Kalibers beträgt stolze 80 Stunden. Und Seiko forscht weiter; schließlich, so Bondoux, gebe es immer etwas zu verbessern.

Innovationen sind möglich

Dass sich mit modernen Mitteln die Frequenz klassischer Werke sogar vervielfachen lässt, hat unter anderem Schnellschwinger-Veteran Zenith längst bewiesen. Die „Defy El Primero 21“ aus seiner Chronographen-Kollektion kann – bei einer Frequenz von 50 Hertz – sogar Hundertstelsekunden messen, benötigt dafür aber enorm viel Energie. Die Zeitanzeige wird deshalb von einem zweiten Räder- und Zeigerwerk mit eigenem Kraftspeicher vorgenommen.

Versuche, beim Bau mechanischer Oszillatoren ganz neue Wege zu gehen, machten Furore, blieben dann aber auf der Strecke. 2017 stellte auch Zenith eine Konzeptuhr vor, bei der Unruh, Spiralfeder und Anker durch ein monokristallines Siliziumelement ersetzt sind, das mit 15 Hertz extrem präzise schwingt und dabei wenig Energie verbraucht. Schon 2020 war das Werk industrialisiert.

„Ein Riesenerfolg, es lagen zahlreiche Bestellungen vor“, erklärt Romain Marietta. Aber dann musste man umdisponieren – wegen der Pandemie, weil sich die neue „Chronomaster“ mit klassischer Mechanik so gut verkaufte, aber auch weil die Serienfertigung des Oszillators mehr Zeit in Anspruch nahm als erwartet, wie Marietta einräumt.

Ein Siliziumstück ersetzt 26 Bauteile

Frederique Constant gelang es 2021 als erstem Hersteller, eine völlig neue Hemmung in größeren Stückzahlen auszuliefern. „Monolithic“ heißt der Oszillator. Ein einziges Siliziumstück ersetzt 26 Bauteile des herkömmlichen Mechanismus, schwingt mit 40 Hertz – also zehnmal schneller als der Industriestandard – und lässt dem Werk FC-810 Energie für 80 Stunden Gangreserve.

„Das ist wirklich disruptiv“, so Frederique-Constant-CEO Niels Eggerding. Das Werk sei eine Herausforderung der seit 300 Jahren geltenden uhrmacherischen Standards. „Aber es ist doch wohl auch wichtig, diese Regeln zu hinterfragen, anstatt sich auf ihnen auszuruhen.“ Dass zuvor andere Hersteller grundlegend neue Techniken nicht realisieren konnten, habe auf dem Markt auch nicht für Skepsis gesorgt. „Das war eine Chance und kein Hindernis“, so Eggerding, „der Handel hat die Idee sofort verstanden und nicht gezögert, die Uhren zu kaufen.“

Die erste Serie der „Monolithic“-Werke arbeitet in ganz klassisch gestalteten „Slimline“-Modellen der Manufaktur. Durch eine Aussparung im Zifferblatt ist die Hemmung zu sehen, ihre schnelle Bewegung ist mit bloßem Auge allerdings kaum wahrnehmbar. Von Ticken kann da keine Rede mehr sein.

09.11.2022    Jan Lehmhaus
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