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07.07.2022    Jan Lehmhaus
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Wenige große Marken setzen zurzeit die ­Themen in der Uhrenbranche. Sie schaffen die größte Aufmerksamkeit, wecken nie da gewesene Begehrlichkeit – umso mehr, als sie mit ihrer Produktion die Nachfrage nur zu einem Bruchteil decken können. Rolex, Patek Philippe und Audemars Piguet unterscheiden sich in ­Unternehmenskultur und Strategie, haben aber eines gemeinsam: Sie sind nicht eingebunden in eine der großen Multi-Marken-Luxusgüter-Gruppen Swatch, Richemont oder LVMH, sondern unabhängig und entsprechend agil.

Multi-Marken-Gruppen nutzen Synergieeffekte

Unabhängigkeit bedeutete in der Branche schon immer viel. Aber für lange Zeit gehörte sie ins nostalgische Narrativ von einer eigensinnigen und rundum vormodernen Uhrmacherei, die sich nicht in die Hierarchien internationaler Konzerne einfügen mochte. Dabei waren es gerade die Marken-Konglomerate, die die Uhrmacherei nach der Quarzkrise retteten und neu erfanden – mit Weitblick und unter Ausnutzung aller denkbaren Synergieeffekte. Dazu gehörte allen voran die Swatch Group, deren Marken weitgehend autonom agieren, aber eben auch die Vorteile der Gruppenarbeit loben.

Franz Linder ist Präsident gleich zweier Marken – Mido und Union Glashütte – und verweist darauf, dass alle Hersteller der Gruppe von deren industrieller Stärke und Innovationskraft profitierten. „Zum Beispiel war Mido die erste Uh­renmarke in ihrer Preislage, die eine Uhr mit Sili­ziumspirale herausgebracht hat.“ 

Die Integration neuer wie alter Marken in größere Unternehmen ist bis heute nicht abgeschlossen: ­Vergangenes Jahr wurde der Schwarzwälder Hersteller Stowa von der Münchner Tempus-Arte-Gruppe übernommen.

Autonomie bewahren funktioniert!

Dass man sich seine Autonomie, allemal nach außen, bewahren kann, zeigt etwa das Beispiel von Frederique Constant. Das Familienunternehmen wurde 2016 an die Citizen Group verkauft und hat seitdem ganz offenbar von deren Know-how profitiert, ohne seinen Charakter einzubüßen oder eine fremde Rolle im Portfolio annehmen zu müssen.

Genau das nämlich monieren nicht nur Traditiona­listen unter den Uhrenfans: dass nicht selten Gruppen-Marken in Auftritt und Produktpalette passend gemacht würden und Verfügungsmasse in der auf schnellen Gewinn zielenden strategischen Planung seien. Zumindest finden sich neben technischen Errungenschaften zuweilen auch neue gestalterische Features bald bei allen Schwestermarken eines Konzerns. Schließlich müssen sich die Investitionen in deren zentrale Entwicklung lohnen – und sei es auf Kosten des einen oder anderen Markenprofils.

Vor allem gilt es in der Branche als ausgemacht, dass die großen Gruppen mit weitreichender horizontaler wie vertikaler Integration zwar völlig autark sind, aber langsam wie große Behörden agieren.

Konzerne trennen sich von Marken

Der Uhrenmarkt hingegen hat sich in den vergangenen Jahren schnell gewandelt. Und es geschieht, was noch vor Kurzem undenkbar schien: Konzerne trennen sich von mit großem Aufwand akquirierten Uhrenmarken, die nicht etwa der Konkurrenz, sondern dem Management zum Kauf angeboten und damit in die unternehmerische Unabhängigkeit entlassen werden.

Der erste Versuch, eine Konzerntochter im Management-Buy-out zu übernehmen, scheiterte noch­: Favre-Leuba-CEO Philippe Roten musste den Plan, die von ihm geführte Marke der indischen Tata-Gruppe abzukaufen, schließlich aufgeben.

Patrick Pruniaux hingegen zieht ihn durch, wird vom angestellten Manager zum Unternehmer. Zu­sammen mit noch nicht genannten Investoren kaufte er der Kering-Gruppe die zwei Marken ab, die er zuvor als CEO führte: Ulysse Nardin und Girard-Perregaux. Beide gehörten einst, von enthusiastischen Besitzern geleitet, zu den gefeierten letzten unabhängigen Traditionshäusern, bevor sie von der Erbengeneration an Kering verkauft wurden. Für Pruniaux vielleicht ein gutes Omen: „Wir sind natürlich froh zu sehen, dass unabhängige Marken im Moment so gut performen“, sagt er. „Die Kunden sind nicht nur an Markennamen interessiert, sondern an einer überzeugenden Vision.“

Es braucht ein anderes Mindset

Im Konzerngefüge arbeiteten beide Hersteller durchaus hier und da zusammen; auf den Kitteln der Uhrmacher standen beide Firmenlogos. Jetzt soll die Eigenständigkeit der im Kern ganz unterschiedlichen Marken noch deutlicher unterstrichen werden. 

Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie einen Produkt­schwerpunkt im Preisbereich von 20.000 bis 40.000 Euro setzen, also dort, wo die großen drei – Rolex, Audemars Piguet und Patek Philippe – die enorme Nachfrage nach hochwertigen Uhren kaum bedienen können. Und es stehen laut Pruniaux genug Bewerber vor der Tür, die mehr Interesse am Aufbau unabhängiger Strukturen haben als an der Konzernarbeit. Natürlich mache es einen großen Unterschied, ob man Manager oder Unternehmer sei, ist er sich sicher: „Wahrscheinlich braucht es dafür ein völlig anderes Mindset. Aber ich bin fest überzeugt, dass es für beide Marken eine helle Zukunft gibt.“ 

Ba111od testet neues Vertriebsmodell

Daneben ist die Neugründung einer eigenen, unabhängigen Uhrenmarke mehr denn je eine Option für die, die einiges ganz anders machen wollen als die anderen. Etliche erfolgreiche Microbrands zeigen das deutlich. Zu den meistbeachteten Newcomern in der Industrie gehört das – noch – kleine Unternehmen Ba111od. Allerdings betont sein Gründer Thomas Baillod: „Ich wollte gar keine Marke etablieren.“ 

Baillod lehrte Betriebswirtschaft, wollte ein von ihm entwickeltes Vertriebsmodell auf seine Tauglichkeit überprüfen. „Dafür habe ich zunächst etliche unabhängige Marken angesprochen, bin aber nur auf Unverständnis gestoßen. Nach einem Jahr habe ich beschlossen: Das mache ich selbst.“ 

Seine Idee nennt der Ba111od-Gründer „Wecommerce“ und die „logische Evolution bisheriger Vertriebssysteme“. Während der klassische Weg über den Konzessionär die Herstellungskosten einer Uhr von 175 Franken auf einen Verkaufspreis von 1.000 Franken treibe, könne im Online-Vertrieb zwar auf die Händlermarge verzichtet werden, dafür aber seien die Marketingkosten enorm und steigerten den Preis am Ende vielleicht auf 700 Franken, rechnet Baillod vor. Bei ihm aber sei am Ende nur das Doppelte der Herstellungskosten zu zahlen.

Dafür dient ihm der Kunde als Testimonial und Verkaufspunkt. Zeigt und erklärt er einem Bekannten stolz seine Uhr, kann der sie über einen im Glas integrierten, aber natürlich unsichtbaren NFC-Chip online bestellen. Der Lohn für die Werbung sind Prämienpunkte, die in weitere Produkte und Events mit der Ba111od-Community getauscht werden können.

Ba111od-Gründer betont: Größere Freiheit bietet Vorteile

In La Chaux-de-Fonds geboren und in der Uhrenbranche gut vernetzt, ließ Baillod die ersten preiswerten Uhren in der Schweiz designen und fertigen, aber mit chinesischen Werken ausrüsten. Deren Absatz ermutigte ihn zu mehr: Sein Modell „Kapitel 4.1“ ist ein ausschließlich in der Schweiz hergestelltes skelettiertes Tourbillon im Titangehäuse und kostet auf dem deutschen Markt deutlich unter 5.000 Euro. Das ist so ungewöhnlich wie erfolgreich: Bislang hat Baillod 370 Exemplare verkauft, bis Ende 2022 könnten es 1.000 sein – und damit das meistverkaufte Schweizer Tourbillon. 

Natürlich sei es für ein unabhängiges Unternehmen schwer, den Ball erst einmal ins Rollen zu bringen, räumt der Neu-Unternehmer ein. Aber von Anfang an könne man auch den Vorteil der größeren Freiheit nutzen, die es anderswo nicht gegeben hätte. „Jedes System versucht sich selbst zu schützen“, habe er einsehen müssen. Inzwischen aber bekomme er zunehmend Anfragen von Herstellern, die sich für sein Modell interessierten, es womöglich adaptieren wollten. Und natürlich stellt Baillod sein Forschungsprojekt nun nicht ein, im Gegenteil: „Jetzt ist es eine Marke.“

07.07.2022    Jan Lehmhaus
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