ein älterer Mann nutzt eine VR-Brille zur Neuro-Rehabilitation
30.09.2023    Madeline Sieland
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Julian Specht hatte Glück. Er musste sich 2015 einer Hirn-OP unterziehen, um seine epileptischen Anfälle in den Griff zu bekommen. Anfälle hat er seitdem nicht mehr, kognitive Einschränkungen sind von der OP auch nicht geblieben. Zum Glück. Denn die Therapiemöglichkeiten, von denen seine Ärztinnen und Ärzte vor dem Eingriff berichteten, haben ihn nicht sonderlich überzeugt.

Mithilfe von Stift, Papier und abstrakten, realitätsfernen Übungen nach einer Hirn-OP, einem Schlaganfall oder Unfall wieder in den Alltag zurückfinden – das klang für Specht nicht nach moderner, zeitgemäßer Neuro-Rehabilitation. Und so begann er noch während des Studiums gemeinsam mit seiner Kommilitonin Barbara Stegmann damit, etwas Neuartiges zu entwickeln.

Das Ergebnis: die Software teora mind. In Kombination mit einer VR-Brille werden damit alltägliche Situationen im virtuellen Raum geübt.

Zur Person

Barbara Stegmann ist CEO von living brain

Barbara Stegmann

ist Co-Founder und CEO des Heidelberger Health-Start-ups living brain. Ihren Mitgründer Julian Specht hat sie während des Studiums der Wirtschaftspsychologie an der SRH Hochschule Heidelberg kennengelernt

Welche Schwächen haben „klassische“ Maßnahmen der Neuro-Rehabilitation?

Barbara Stegmann: Sie haben meist einen sehr abstrakten Ansatz. Orientierungsfähigkeit wird trainiert, indem Patientinnen und Patienten auf einem Zettel den Weg durch ein Labyrinth finden sollen. Aufmerksamkeit wird trainiert, indem beispielsweise auf dem Computerbildschirm eine Reihe bunter Fische angezeigt wird, von denen nur rote angeklickt werden sollen.

Diese Übungen sind in sich schlüssig. Unser Gehirn ist jedoch nur schwerlich in der Lage, die Erfolge dieser abstrakten Übungen in die Realität zu übertragen. Das nennt sich Lerntransferproblem.

Im besten Fall müssten die Fähigkeiten im Alltagskontext trainiert werden. Hier ergeben sich aber mehrere Gefahren: Was, wenn sich Patientinnen und Patienten mit kochendem Wasser verbrennen oder schneiden? Wie stellen wir sicher, dass die Person die Konsequenzen ihrer Fehler sieht – das ist nämlich ein wichtiger Teil des Lernens –, ohne dass reihenweise Gegenstände beschädigt werden? Wie kann der Alltag in Zeiten des Personalmangels in der Pflege geübt werden? Bei diesen Problemstellungen setzen wir mit teora mind an.

Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie wurden mit Ihrem Virtual-Reality-Training teora mind bessere Ergebnisse erzielt als mit einer Standardbehandlung bei Schlaganfallpatientinnen und -patienten. Was zeichnet Ihren Therapieansatz aus?

Stegmann: Unsere Therapiemethode ermöglicht als erste in Europa kognitives Training, das so nahe am Alltag ist wie möglich. In unserer virtuellen Küche etwa können Patientinnen und Patienten das Kaffeekochen oder die Zubereitung eines Obstsalats üben – vollkommen gefahrlos, reproduzierbar und spielerisch. Im virtuellen Garten werden Tomaten gepflanzt und geerntet. In unserer Strandbude geht es um den Verkauf von Eis, Milchshakes oder Cola.

Bei allen Übungen kann der Schwierigkeitsgrad individuell angepasst werden, sodass er immer zu den persönlichen Fähig- und Fertigkeiten passt. Kombiniert haben wir diese Herangehensweise mit Lernstrategien, die es den Nutzerinnen und Nutzern einfacher machen, die Tätigkeit wieder zu erlernen. Dabei haben wir besonders darauf geachtet, dass die Umgebungen authentisch aussehen und sich echt anfühlen. Ein Glas zerspringt beispielsweise mit einem Klirren in viele Scherben, wenn man es fallen lässt.

Bei der Entwicklung haben wir jedoch auch die individuellen Lebensrealitäten der Nutzerinnen und Nutzer bedacht. Unsere Übungen sind mit einer Hand durchführbar, können im Stehen und im Sitzen angewendet werden und erfordern eine Kopfbewegungsfähigkeit von maximal 60 Grad nach rechts und links. Da es eine mobile Anwendung ist, kann die Therapie ortsunabhängig überall und zu jedem Zeitpunkt durchgeführt werden.

in der Software teora mind wird Kaffee gekocht

Alltägliche Bewegungsabläufe üben: Mit der Software teora mind und einer VR-Brille lassen sich im Rahmen der Neuro-Rehabilitation Tätigkeiten wie das Kaffeekochen neu erlernen

Welche Pläne haben Sie zur Weiterentwicklung?

Stegmann: Im nächsten Schritt werden wir unsere Therapie um weitere Szenarien ausweiten. Und wir werden beginnen, sie zu personalisieren – damit wir mit teora mind für jede Person den optimalen Therapieerfolg herausholen können.

Insbesondere Schlaganfallpatientinnen und -patienten sind häufig ältere Personen. Inwiefern erleben Sie in dieser Altersgruppe Berührungsängste mit technischen Gadgets wie VR-Brillen, die den Therapieerfolg beeinflussen könnten?

Stegmann: Unserer Erfahrung nach sind die vermuteten Vorbehalte häufig viel größer als die realen. Zu Beginn unserer Entwicklung haben wir diese Bedenken sehr oft gehört: „Schlaganfallpatientinnen und -patienten können mit VR nichts anfangen.“ Oder auch: „Ältere Menschen trauen sich sowas nicht.“

Deshalb haben wir uns entscheiden, auch dazu eine Studie durchzuführen. Wir haben die Akzeptanz und die User Experience in zwei älteren Gruppen getestet. Die eine Gruppe war gesund und im Schnitt über 60 Jahre alt. Die andere Gruppe war im gleichen Alter, hatte jedoch zuvor einen Schlaganfall erlitten. Wir konnten feststellen, dass beide Gruppen in Bezug auf unsere Anwendung eine positive User Experience und positive Akzeptanz hatten. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen war nicht signifikant.

Natürlich gibt es dennoch Menschen, die am Anfang Respekt vor der neuen Technologie haben. An dieser Stelle leisten wir viel Aufklärungsarbeit und führen die Personen langsam an die neue Methode heran. Um das zu erleichtern, haben wir ein Tutorial entwickelt, welches die Interaktion in der virtuellen Realität einfach und spielerisch erklärt. Sobald das Eis gebrochen ist, haben bisher nahezu alle Spaß daran gehabt.

Wie offen sind eigentlich Behandelnde wie Neurologinnen und Neurologen oder Neuropsychologinnen und -psychologen neuartigen Therapieformen gegenüber?

Stegmann: Die Reaktion von Behandelnden auf teora mind ist sehr positiv. Wir sind bereits in den ersten Kliniken als Therapietool im Einsatz und führen zahlreiche Testphasen in unterschiedlichen Bereichen durch, um das Potenzial weiter zu evaluieren. Viele Behandelnde sind neugierig darauf, wo sie teora mind überall einsetzen können und sehen die deutlichen Vorteile unserer Therapie im Vergleich zu aktuellen Standardmethoden. Unsere Studie konnte dieses Potenzial nunmehr evidenzbasiert zeigen.

Welches bisher ungenutzte Potenzial bietet Gamification für die Medizin?

Stegmann: Ich bin überzeugt, dass Gamification insgesamt ein unglaublich unterschätzter Bereich ist. Wir alle haben als Kinder gerne gespielt; unserer Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Wir haben nahezu alles in ein Spiel verwandelt. Eine langweilige Autofahrt wurde mit „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ viel spannender. Und mit der Buchstabensuppe haben wir lieber Worte geformt als im Hausaufgabenheft.

Viele Erwachsene verbinden das Wort „Spiel“ mit etwas Unwichtigem, etwas Kindlichen. Dabei ist Spielen entscheidend für die Entwicklung eines Menschen. Jede und jeder von uns übt Tätigkeiten lieber aus und ist motivierter, wenn sie Spaß machen.

Warum sollten wir langweilige Therapien also nicht spielerisch gestalten, um dafür zu sorgen, dass die Patientinnen und Patienten motivierter sind und Freude empfinden? Warum sollte man die Einnahme von Tabletten nicht mit einem Punktesystem verbinden, durch das man Belohnungen erhalten kann? Warum sollten wir nicht versuchen, die Ausbildung von medizinischem Fachpersonal möglichst spielerisch zu gestalten?

Wissenschaftlich betrachtet lernen wir besser und motivierter, wenn wir dabei Spaß haben. Ich denke, wenn wir alle frei zugeben würden, dass wir gerne spielen und dass zu spielen nichts Kindliches, sondern etwas Wichtiges und Motivierendes ist, können wir noch sehr viel mehr Potenzial in unserer Umwelt entdecken, ohne dass die Professionalität darunter leiden muss. Meiner Meinung nach schließt das eine das andere nämlich nicht aus.

in der Software teora mind werden Erdbeeren gepflanzt

Ab in den Garten: Fingerfertigkeit ist auch beim Gärtnern gefragt, dass sich ebenfalls mit der Software von living brain authentisch und spielerisch simulieren und üben lässt

Gründen im Health-Sektor, der vom Gesetzgeber stark reguliert ist, ist ein Mammutprojekt – und eines, bei dem man einen sehr langen Atem braucht. Mit welchen Herausforderungen waren Sie in den letzten Jahren konfrontiert?

Stegmann: Grundsätzlich ist die Medizinbranche im Vergleich zu vielen anderen Branchen sehr risikointensiv, da es so viele zusätzliche Hürden gibt. Die erste Herausforderung war die Finanzierung der Weiterentwicklung, um aus dem Prototyp ein richtiges Produkt zu machen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine gute Idee, einen Prototypen, ein mögliches Geschäftsmodell. Aber: keine Studie für das eigene Produkt, keine Zertifizierung, keine zahlenden Kunden. Das macht Early-Stage-Investments im MedTech-Bereich zu Hochrisikoinvestments.

Die nächste Challenge war für uns die klinische Evidenz – also unsere Effektivitätsstudie. Dafür mussten wir die richtigen Partner finden, sie überzeugen und Verträge abschließen. Dazu kommen Ethikanträge, Studiendesigns und die Finanzierung der Studie. Wir haben diese dann zu Beginn der Coronapandemie gestartet, was neue Herausforderungen mit sich brachte: Sie wurde immer wieder durch Coronafälle in der Klinik unterbrochen; einige Datensätze waren unvollständig und wir mussten sie aus der Studie ausschließen.

Das Thema Zertifizierung war ebenfalls sehr herausfordernd. Mittlerweile sind wir der erste Hersteller von VR-basierter kognitiver Therapie in Europa, der nach der MDR, der Medical Device Regulatory, zertifiziert ist. Aber der Weg dorthin war lang. Insbesondere, da wir zuvor keine Erfahrungen mit Qualitätsmanagementsystemen und Regulatorik hatten.

Wir haben uns alles selbst beigebracht, alle Prozesse selbst aufgesetzt und die Audits mit der Benannten Stelle alleine bewerkstelligt. Auch dabei spielt das Thema Finanzierung eine Rolle: Die Zertifizierung von einem Dritten vorbereiten zu lassen ist sehr teuer und am Ende muss man die qualitätsrelevanten Prozesse sowieso selber verstehen und umsetzen. Deswegen haben wir uns entschieden, das selbst zu machen. Der Weg war mit 18 Monaten sehr lang, sehr zeitintensiv und anstrengend.

Das sind Hürden, die man vorher nicht so groß einschätzt, wie sie tatsächlich sind. Wir haben die GmbH 2019 gegründet, Ende 2022 haben wir unser Produkt das erste Mal an Pilotkunden verkauft. Der Weg war sehr lang. Aber jedes Mal, wenn wir positive Rückmeldungen von den Patientinnen und Kunden bekommen, Angehörige anrufen und sich bedanken oder wir begeisterte Anrufe unserer Kundinnen und Kunden bekommen, wissen wir, warum wir dranbleiben.

Wie könnten Innovationen im Health-Bereich schneller einer größeren Zahl an Personen zugänglich gemacht werden?

Stegmann: Zunächst einmal müsste die Finanzierung klinischer Studien vereinfacht werden. Nicht jedes junge Unternehmen kennt sich mit der Durchführung klinischer Studien aus; nicht jedes junge Unternehmen hat das Kapital, um das eigene Produkt wissenschaftlich evaluieren zu lassen.

Meiner Meinung nach würde es helfen, wenn es in jedem Bundesland einzelne Hubs gibt, die junge Unternehmen dabei unterstützen, ein Studienmodell aufzubauen, Partner für die Durchführung zu finden und die Studie zu kalkulieren und zu finanzieren. Kleine Pilotstudien müssen nicht teuer sein. Es muss zu Beginn ja nicht immer die große Studie mit Hunderten von Probandinnen und Probanden sein. Manchmal reichen kleinere Gruppen aus, um erste Evidenz zu schaffen. Ich habe viele smarte Produkte und Ideen an genau dieser Hürde scheitern sehen.

Und zweitens: Wir brauchen mehr Transparenz bei der Regulatorik. Die Medizinprodukterichtlinie ist eine neugefasste Anforderung an alle Medizinproduktehersteller. Sie ist als Resultat eines Skandals vor einigen Jahren massiv verschärft worden. Nunmehr gibt es zahlreiche Anbieter, die die Erstellung von konformen Prozessen und Qualitätsmanagementsystemen für sehr viel Geld anbieten. Für viele junge Unternehmen ist das nicht bezahlbar. Hier wäre es meiner Meinung nach wichtig, dass wir junge Unternehmen durch Leitfäden und transparente Kommunikation stärker befähigen, die Qualitätsmanagementsysteme selbst aufzubauen.

Auch die Vereinfachung der Zertifizierungsprozesse wäre sicher ein wichtiger Schritt. Gerade diese massiven Hürden bremsen viele schon am Anfang aus und sorgen dafür, dass großartige Innovationen gar nicht erst in den Markt kommen.

30.09.2023    Madeline Sieland
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