Private Krankenversicherer sind mehr als Kostenerstatter
20.08.2021    Andreas Busch
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Das deutsche Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Mit Therapie-Apps, Tele­medizin oder neuen Medikamenten erweist es sich als innovativ. Ob die privaten Krankenversicherer dabei die Nase vorn haben vor den gesetzlichen Krankenkassen, diskutieren Michael Albrecht, Leiter Makler-Kooperationsvertrieb bei der Barmenia, Stephanie Griese, Bereichsleiterin Produktentwicklung und Tribe Lead – Kranken bei der Signal Iduna, sowie Oliver von Ameln, Geschäftsführer des Softwarespezialisten adesso insurance solutions.

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Zur Person

Stephanie Griese von Signal Iduna

Stephanie Griese

ist Tribe Lead Lösungen kaufen – Kranken sowie Bereichsleiterin Produktentwicklung, Firmenkundengeschäft und Kooperationen bei der Signal Iduna Kranken­versicherung

Zur Person

Michael Albrecht von der Barmenia

Michael Albrecht

ist Leiter des Makler- und Kooperationsvertriebs der Barmenia Versicherung, Geschäftsführer bei der Adcuri GmbH sowie Leiter des Produkt­managements

Zur Person

Oliver von Ameln von Adesso Insurance Solutions

Oliver von Ameln

ist Geschäftsführer bei adesso insurance solutions. Er verantwortet die Bereiche Marketing und Vertrieb und verfügt über langjährige Erfahrung in der Versicherungsbranche

Versicherte in der ­privaten Krankenversicherung kommen nach einer ­Studie der Universität Duisburg-Essen teils mehr als zehn Jahre früher als gesetzlich Versicherte in den Genuss neuer medizinischer Anwendungen. Warum?

Michael Albrecht: Die private Krankenversicherung, kurz PKV, erstattet nach medizinischer Notwendigkeit.   Dafür sind wir im ständigen Austausch mit unseren Kunden und mit Ärzten. Ich weiß von einer Studie, in der untersucht wurde, wie lange es in Europa dauert, bis ein neues Krebsmedikament eingeführt wird. Der Durchschnitt liegt bei 445 Tagen, in Deutschland dauert es 82 Tage. Das zeigt für mich, dass der Wettbewerb zwischen gesetzlich und privat in Deutschland jedem zugutekommt.

Stephanie Griese: Für uns bei der Signal Iduna ist es wichtig, neue Diagnoseverfahren und Arzneien, deren Qualität wissenschaftlich nachgewiesen ist, den Kunden anzubieten. Die gesetzliche Krankenversicherung, kurz GKV, hat andere Genehmigungsverfahren. Diese sind formaler. Und so kann es sein, dass der Prozess der Einführung von Innovationen bei der GKV eben länger dauern kann.

Oliver von Ameln: Die PKV war schon immer Treiber und maßgeblicher Finanzierer des Fortschritts im Gesundheitswesen. Dass ich mich einst privat versicherte, habe ich bis heute nicht einen Tag bereut. 

Ist womöglich der Gemeinsame Bundesausschuss, das oberste Beschlussgremium von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen, der Hemmschuh?

Albrecht: Nach dem Ausschuss hat der gesetzlich Versicherte Anspruch auf eine zweckmäßige, wirtschaftliche und ausreichende Grundversorgung. Und so wird im Gemeinsamen Bundesausschuss etwa bei allen neuen Therapieformen diskutiert, ob diese Kriterien erfüllt sind. Darin sitzen die Vertreter der Leistungserbringer und der Krankenkassen, welche die Kosten der Leistungen erstatten müssen. Diese Zusammensetzung wirkt bestimmt nicht beschleunigend.

Was unternehmen private Krankenversicherer, um auch in Zukunft gegen die gesetzliche Konkurrenz bestehen zu können?

Griese: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens hat rasant Fahrt aufgenommen. Digitale Innovationen sollen allen Beteiligten den Alltag erleichtern. Sowohl ältere als auch junge Kunden haben eine Erwartungshaltung. Lösungen sollen modern ausgestaltet und leicht verständlich sowie konsequent ausgerichtet auf den Bedarf der Versicherungskunden sein, ohne dabei Aspekte wie Informationssicherheit und Datenschutz aus den Augen zu lassen. Außerdem müssen die Lösungen mobil, beispielsweise auf dem Smartphone, zur Verfügung stehen. Längst können bei uns etwa Rechnungen per App eingescannt werden.

Hat die PKV in Sachen Technologie gegenüber der GKV die Nase vorn?

Griese: Etwa im Bereich Telemedizin war die PKV eindeutig Vorreiter. Wir richten unser Angebot konsequent am Bedarf der Versicherten aus. Insbesondere im Gesundheitsbereich geht es um weit mehr als die Abrechnung von Versicherungsleistungen. Unsere Kunden können daher zusätzlich zu dem bereits vorhandenen, umfassenden Leistungsspektrum ein wachsendes Portfolio digitaler Services nutzen, um ihre Gesundheit digital zu organisieren und zu verbessern. Trends wie mobiles Bezahlen, Streaming und Same-Day-Delivery – die Lieferung bestellter Dinge am selben Tag – verändern das System. Die Digitalisierung sorgt dafür, dass Kundinnen und Kunden heute anders auf unsere Produkte und Services schauen. Nutzungs­basierte Abrechnung und 24/7-Online-Service sind keine Innovationen, sondern werden als gegeben angesehen.Wer dahinter zurückbleibt, kann die Erwartungen der Kundschaft nicht mehr erfüllen. Unsere Aufgabe ist es, die Erwartungen und Probleme unserer Kundschaft zu verstehen und sie dort zu lösen, wo sie entstehen – und das so schnell und so kundenzentriert wie nur möglich.

Albrecht: Etwa bei Apps als Therapiehelfer liegt die PKV sicher vorn. Beide Systeme arbeiten an der elektronischen Patientenakte. Aber es geht nicht nur um gute Angebote für die Kunden. Wir müssen vor allem auch die internen Prozesse im Griff haben. Die Prozess­sicherheit und auch die Effizienz sind für Versicherer enorm wichtig.

Adesso insurance solutions und die Versicherungsforen Leipzig haben kürzlich eine Studie zur Zukunft der PKV erstellt. Was waren wichtige Ergebnisse?

von Ameln: Die Versicherten erwarten, dass die Anbieter nicht mehr asynchron mit ihnen umgehen. Das ist die Pflicht. Das geht zum Beispiel über Apps, die Daten digital direkt in die Leistungsmanagementsysteme der Versicherer durchleiten. Das ist für die Kunden das Amazon-Erlebnis. Sie merken bei der Eingabe synchron, dass das System funktioniert, beispielsweise eine Bestellung bestätigt wird. Man will nicht 14 Tage auf die Antwort eines Sachbearbeiters warten müssen.

Das ist alles?

von Ameln: Nein, wer im Wettbewerb bestehen will, muss Mehrwerte bieten. Das ist die Kür. Der Mehrwert kann nicht sein, ausschließlich die Kosten von Krankheit zu erstatten. Der größte Mehrwert der PKV liegt im Potenzial der aggregierten Daten über die Versicherten. Mit ihnen können zum Beispiel Korrelationen zwischen Therapien und ihren Erfolgen hergeleitet werden. Und die Daten könnten auch den gezielten Einsatz von Präventionsmaßnahmen ermöglichen. Trotz Datenschutz sollte man etwas beherzter auf diese wertvollen Daten zugreifen.

Stichwort Prävention: Gehört diese nicht zwingend in das Angebot eines Gesundheitsdienstleisters?

Griese: Auf jeden Fall. Wir sind für die Gesundheit unserer Kunden zuständig und deshalb nicht nur Rechnungserstatter, sondern Lösungsanbieter. Wir wissen, dass Kunden, die Prävention in Anspruch nehmen, später auch andere Krankheitsverläufe haben.

Albrecht: Die Barmenia will ebenfalls mehr präventiv unterwegs sein. Wir begleiten zum Beispiel Dia­betes-Erkrankte mit der regelmäßigen Messung der Blutzuckerwerte. Das ist sogar ein volkswirtschaftliches Thema, wenn man bedenkt, welche Lasten durch Diabetes entstehen.

Sind viele private Krankenversicherer nicht zu klein, um große Investitionen in Technologie zu stemmen? Braucht es mehr Kooperationen untereinander oder mit der GKV?

Albrecht: Sicher gibt es einige Anbieter, die nicht die Größe haben, solche Investitionen zu tätigen. Kooperationen auf der Leistungsseite gibt es bereits, an manchen ist etwa auch adesso insurance solutions beteiligt. Und wir kooperieren auch mit gesetzlichen Krankenkassen. Kooperationen kommen zudem ins Spiel, wenn der Versicherungsschutz erhöht wird oder eine Arbeitgeberversorgung dargestellt werden soll.

Griese: Aus Sicht der Signal Iduna sind unsere Kooperationen mit den IKKs die perfekte Kombination aus GKV und PKV. Sie bieten ausgezeichneten Gesundheitsschutz für alle gesetzlich Versicherten und die Mehrleistungen einer privaten Zusatzversicherung inklusive Erstattung vieler gesetzlich vorgeschriebener Zuzahlungen. Gemeinsam haben wir eine Online-Antragsstrecke entwickelt. In nur drei Schritten können Interessierte sowohl den Zahnzusatztarif der Signal Iduna als auch die IKK-classic-Mitgliedschaft abschließen, und das alles auf einer Website. Mit dieser Kombination sind wir die Ersten und bislang Einzigen am Markt. Seit Februar 2021 kann auch die Leistungsabrechnung für professionelle Zahnreinigungen gemeinsam erfolgen. Die Versicherten müssen ihre Rechnung also nicht mehr über zwei verschiedene Wege einreichen und sparen somit Zeit und Aufwand.

Also können Unternehmen wie adesso insurance solutions helfen, weil sie aufwendige technologische Entwicklungen leisten und mehreren PKV lizenziert zur Verfügung stellen?

von Ameln: Ja. Das tun wir natürlich nicht selbstlos. Wir leben davon, Software zu verkaufen. Ich habe Gesprächsrunden mit mehreren Versicherern moderiert, die alle das Bedürfnis hatten, sich zu modernisieren, und sich die Investitionen teilen wollten.

Wie entstehen Innovationen in der PKV? Denken sich Ihre Experten im stillen Kämmerlein etwas aus, oder sind die Entwicklungen eher kundengetrieben?

Albrecht: Das stille Kämmerlein ist Vergangenheit. Die Zeiten, in denen der Mathematiker in seinem Elfen­beinturm etwas zusammenschrieb, wovon er dachte, dass dies der Markt braucht, sind vorbei. Neue Produkte entstehen aufgrund von Anregungen der Kunden oder auch der Berater. Viele Ideen werden dann im Haus diskutiert.

Ist die Zukunft der PKV voll digital, oder wird es auch in zehn Jahren noch menschliche Ansprechpartner geben?

Griese: Der Bedarf an einer qualifizierten  Beratung ist weiterhin vorhanden, insbesondere bei einer Krankenvollversicherung. Die Kunden wünschen sich digi­tale Prozesse und einfache, leicht verständliche und digital durchdachte Produkte. Eine hybride Beratung, die Kombination eines digitalen Angebots mit einem persönlichen Gespräch, wird sicherlich der Standard werden. Perspektivisch wird es komplett digitalisierte Beratungsangebote für die Kunden geben, aber heute ist der Bedarf noch nicht vorhanden.

Albrecht: Die Entscheidung für eine Krankenvollversicherung ist eine Entscheidung, die man bewusst treffen muss, denn sie hat viele Facetten. Da geht es um spezielle Leistungen oder die Beitragshöhe im Alter. Wir werden den Kunden weiterhin individuelle Ansprechpartner bieten. Dies ist auch notwendig, da sich die Produkte im Laufe der Jahre entwickeln.

Ende September ist die Bundestagswahl. Was sind Ihre Wünsche an die neue Regierung hinsichtlich Reformen im Gesundheits­wesen?

Griese: Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass unser Gesundheitssystem – im Vergleich zu denen anderer Länder – die Coronakrise sehr gut gemeistert hat. SPD, Grüne und Linke wollen die Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung abschaffen und ein Einheitssystem einführen, das sie Bürgerversicherung nennen. Doch das ist ein gefährliches Experiment. Es würde unser hervorragend funktionierendes Gesundheitssystem aufs Spiel setzen und nur Verlierer erzeugen. Im internationalen Vergleich steht das deutsche Gesundheitssystem sehr gut da. Die starken medizinischen Ressourcen verdanken wir auch unserem dualen Versicherungssystem. Durch diesen Wettbewerb wird die Versorgungsqualität in Deutschland stetig verbessert, und alle Versicherten können an einer innovativen und qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung teilhaben. Das wissen die Versicherten zu schätzen: Eine aktuelle Allensbach-Umfrage ergab, dass 90 Prozent der Befragten zufrieden mit ihrer Gesundheitsversorgung sind. Das ist die höchste Zustimmung seit 20 Jahren.

Albrecht: Es wäre geradezu fahrlässig, mit einem der besten Gesundheitssystemen der Welt zu experimentieren. Mein Wunsch an die Politik ist, dass man die Diskussion versachlicht. Der National Health Service in England etwa ist steuerfinanziert. Dort gibt es extreme Wartezeiten für Arztbesuche. Es ist immer schlecht, wenn es keinen Wettbewerb gibt. Außerdem haben die rund elf Prozent privat Versicherten über Kapitalanlagen Altersrückstellungen gebildet. Sie ­würden in ein teils steuerfinanziertes Umlagesystem überführt und über die notgedrungen steigenden staatlichen Zuschüsse dann doch noch ihren Kindern und Enkeln zur Last fallen.

von Ameln: Käme eine Einheitsversicherung, würden wir sehen, dass sich die private Nachfrage nach besserer Gesundheitsversorgung ihren Weg bahnt.  Wir hätten auf der einen Seite eine staatliche Grundversorgung, die massive Finanzierungsprobleme hat, denn ihr würden wesentliche Mittel entzogen. Die würden in private Kanäle fließen, denn die Manager der PKV würden weitergehende Produkte der privaten Zusatzversicherung entwickeln. Und sie werden auf medizinische Dienstleister treffen, die dabei gern mitspielen. Es würde weiter Drei-Sterne-Medizin geben, aber gleichzeitig würde der Trend zur Zweiklassenmedizin befördert.

Und Ihr konkreter Wunsch an eine neue Bundes­regierung?

von Ameln: Von der neuen Regierung wünsche ich mir, dass sie von der Abschaffung der PKV ­Abstand nimmt. In diesem Jahr beträgt die Versicherungspflichtgrenze 64.350 Euro brutto Jahres­einkommen, vor 20 Jahren lag sie um mehr als 20.000 Euro darunter. Sie wird immer wieder hochgesetzt. Das halte ich für ungesund.

20.08.2021    Andreas Busch
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