Der Roboter Justin wurde am DLR entwickelt
03.08.2023    Alex Steudel und Jens de Buhr
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Seit Jahren diskutieren Wissenschaftler, Philosophen und Bestsellerautoren wie Yuval Noah Harari darüber, ob Künstliche Intelligenz (KI) eines Tages ein eigenes Bewusstsein, also ein Eigenleben entwickeln wird – und wie fern dieser Tag sein könnte. Bisher kannte niemand eine Antwort auf solche Fragen.

Ausgerechnet in Deutschland, genauer: in Pfaffenhofen/Bayern, haben Wissenschaftler jetzt womöglich einen Schritt in diese Richtung getan. Wie groß er war, darüber gehen die Meinungen der Experten auseinander. Einig sind sie sich darin: Es ist eine Revolution im Bereich der KI und Roboterforschung passiert.

KI hat gelernt, selbst dazuzulernen

Der im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) entwickelte humanoide Roboter „Justin“ fasste und drehte Ende Juni auf der Münchner Roboter-Messe „Automatica“ einen Würfel mit der Geschicklichkeit eines Menschen und löste ihm gestellte Aufgaben. Das sah täuschend echt aus.

Was den Vorgang unglaublich machte: Keiner der beteiligten Wissenschaftler wusste im ersten Moment genau, wie er das hinbekommen hatte. Selbst seine Schöpfer rätselten also, warum eine KI auf gewisse Weise eigenständig nachgedacht und Aufgaben auf einem Weg gelöst hatte, den ihr vorher niemand gezeigt hatte.

Aber dank sogenanntem Deep Reinforcement Learning, dem kombinierten Einsatz neuester KI-Methoden, hatte „Justin“ gelernt, selbst dazuzulernen.

Durchbruch bei „intelligenter Geschicklichkeit“

Professor Berthold Bäuml, der an der TU München einen Lehrauftrag hat und dessen Forschungsgruppe innerhalb des DLR-Instituts für Robotik und Mechatronik „Justin“ mit Deep Learning als Kernprinzip entwickelt hat, hebt auf die Frage, ob es nun also soweit sei und die weltweit erste KI ein Eigenleben entwickelt habe, die Arme. Er weiß, was diese Auslegung auslösen kann, und er glaubt keine Sekunde daran.

Bäuml will kein „Science-Fiction“ aus dem Vorgang machen. Eine negative Angst-Diskussion darüber, dass Roboter womöglich demnächst die Weltherrschaft übernehmen, wie das ja der weltberühmte Historiker Harari befürchtet, lehnt er ab. Bäuml redet lieber davon, dass man einen Durchbruch „intelligenter Geschicklichkeit“ von Robotern erzielt habe.

Professor Gerd Hirzinger, der 1993 den ersten Roboter in den Weltraum schickte und von der Erde aus fernsteuerte, und der bis 2012 Direktor des Instituts für Robotik und Mechatronik war, sprach kürzlich im „Münchner Merkur“ von einer „Weltsensation“.

Denkt und handelt „Justin“ wirklich eigenständig?

Die große Frage lautet nun: Warum hat die KI von „Justin“, dessen Hände im DLR schon seit 20 Jahren weiterentwickelt werden, auf einmal nach einem Würfel gegriffen, ihn in der Hand gedreht und angeordnet wie ein echter Mensch? Auch Bäuml war zunächst überrascht: „Er hat geschickte Bewegungsstrategien gefunden, bei denen wir uns hinterher tagelang gefragt haben: Wie macht er das genau?“ Solche Strategien, die die Details der Roboterhand nutzen, könne man gar nicht von außen programmieren – so wie ein Mensch eben auch sich selbst am besten kennen würde, so Bäuml.

Zugegebenermaßen klingt das schon ein bisschen, als stünde es in einer modernen Ausgabe von Mary Shelleys weltberühmten Roman „Frankenstein“.

Rückt es den Vorgang vielleicht nicht doch in die Nähe der Definition von Eigenleben? Bäuml sagt dazu kategorisch: nein. Hört man ihn über „Justin“ reden, können Nicht-Wissenschaftler aber zumindest ein bisschen den Eindruck bekommen, er spreche über einen eigenständig denkenden Roboter. Bäuml sagt: „Da sind Dinge, die nur der Roboter, weil er seinen Körper selber versteht, herausfinden konnte, und die wir händisch nie hätten programmieren können.“

Irgendwann habe man im Team die Lösung für die Bewegungen gefunden: „Manchmal hat er ganz schlau den Finger unter den Würfel geschoben, um ihn, falls er langsam runterrutscht, wieder hochzulupfen.“

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Großes Interesse an der Entwicklung des DLR

Der Fall „Justin“ schlägt Wellen. Es heißt, das Big-Tech-Unternehmen Apple beobachte die Höchstleistungen von „Justin“ mit Interesse – und das macht auch Sinn. Die iPhone-Produktion ist eine schweißtreibende Angelegenheit, die noch hauptsächlich von Menschen verrichtet wird. Alleine am Standort Zhengzhou/China werden rund 200.000 Arbeiter beschäftigt. Fingerfertige Roboter würden sie dort sozusagen mit Handkuss nehmen.

Profitieren kann von der revolutionären Entwicklung auch und besonders die Medizin. Professor Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Essen, sagt schon lange voraus, dass KI-gesteuerte Roboter eines Tages komplizierte chirurgische Eingriffe vornehmen werden (siehe Interview unten). Dieser Tag rücke nun näher, sagt er, und spricht von einer „Sensation. Ich bin davon überzeugt, dass KI-basierte OP-Roboter bestimmte Schritte der Operationen komplett eigenständig durchführen werden.“

Hirzinger wird noch konkreter. Selbst für „das Operieren am schlagenden Herzen“ habe man schon vor Jahren die technischen Grundlagen entwickelt, sagt er. Auch Hirzinger, der die höchsten internationalen Auszeichnungen auf dem Gebiet der Robotik erhalten hat, bestätigt, dass „Justins“ KI „auf Lösungen kam, die überraschend waren“.

Wohin das noch führt? Schon werde an einer Haut gearbeitet, die Roboterhände noch besser fühlen und realistischer aussehen lässt, sagt Bäuml. „Das ist gerade der nächste Schritt, den wir tun: in dieses geschickte Manipulieren jetzt auch feinfühlige Haut mit einzubeziehen. Das wird definitiv völlig neue Fähigkeiten im Bereich Geschicklichkeit eröffnen.“ Der Roboter werde, kündigt Bäuml an, einmal so geschickt und feinfühlig sein, dass er eine Prise Salz so lange zwischen den Fingern reiben könne, „bis nur noch ein Salzkorn übrig“ sei.

Erobert die Sensation aus Oberpfaffenhofen jetzt die Welt? Oder wird Robotik am Ende aus politischen Gründen auch zu den Bereichen gehören, in denen der Standort Deutschland mal wieder abgehängt wurde? Die Zukunft wird es zeigen. Oder weiß vielleicht „Justin“ schon mehr?

Jochen Werner

Professor Jochen A. Werner

ist Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen

„Entwicklung stimmt mich sehr zuversichtlich“

Welche Bedeutung hat die Entwicklung KI-basierter Robotik für die Medizin?

Jochen A. Werner: Eine sehr große Bedeutung. Was momentan passiert und geschildert wird, ist für mich ein ganz besonderer Schritt nach vorn und stimmt mich extrem optimistisch. Ich glaube, die Entwicklung wird sich weiter dynamisch fortsetzen und die Chirurgie in bestimmten Bereichen deutlich verbessern.

Können Sie Beispiele nennen?

Werner: Nehmen wir mal an, es soll ein Tumor im Bauch entfernt werden. Zahlreiche Blutgefäße finden sich unmittelbar benachbart. Die Anatomiedaten werden künftig mit dem maschinell geführten Präparationsweg gekoppelt und damit Genauigkeit und OP-Sicherheit erhöht.

Noch ein Beispiel: die radiologische Diagnostik. Mir ist vollkommen klar, dass der weit überwiegende Teil der Auswertung von Röntgen- oder CT-Bildern künftig maschinell erstellt wird. Und zwar mit einer deutlich höheren Genauigkeit als heute. In der Radiologie wird es dann weniger persönlich zu erbringende ärztliche Tätigkeit geben, damit aber wiederum mehr Möglichkeiten, den Patienten die Befunde persönlich zu erklären.

Ein drittes Beispiel: die manuelle Untersuchung. Für mich war nie vorstellbar, dass das mal eine Maschine übernehmen könnte. Angesichts der neuen KI- und Roboter-Entwicklungen sehe ich das jetzt anders. Das ist natürlich sensationell.

Professor Gerd Hirzinger spricht sogar von Robotern, die wie ein Butler funktionieren.

Werner: Das ist ein Punkt, der mich extrem beschäftigt: Wie gehen wir in der Zukunft mit dem Personalmangel in Krankenhäusern und ganz besonders in Alten- und Pflegeheimen um? Wann verfügen wir über Roboter, die die alten Menschen beschäftigen, die vielleicht sogar eine Beziehung mit ihnen aufbauen können? Vor diesem Hintergrund stimmt mich das, was die Professoren vom DLR berichten, sehr zuversichtlich.

03.08.2023    Alex Steudel und Jens de Buhr
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