Amy Webb während ihrer Keynote auf der SWSX 2024
09.04.2024
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Sie tauchen schnell auf, haben vorübergehend eine große Wirkung und sind dann wieder verschwunden: Trends sind kleine, flüchtige Veränderungen in der Gesellschaft, die jede Generation durchmacht. Aber die Trends, die Sie und mich interessieren, passen nicht in diese Beschreibung. Diese Art von uns wichtigen Trends ist anders. Trends sind lang andauernde, feste Muster, die die Richtung einer Veränderung im Laufe der Zeit anzeigen. Trends gibt es immer. Aber dieser besondere Moment fühlt sich anders an.

In den letzten fünf Jahren gab es einen enormen Entwicklungssprung in drei Hauptbereichen der General Purpose Technology (GPT): Künstliche Intelligenz, vernetzte Ökosysteme der Dinge und Biotechnologie. Interessant ist, dass sich diese Bereiche seit ein paar Jahren einander annähern. Diese Konvergenzen haben ein großen Rad zum Rollen gebracht: KI-gestützte technische Durchbrüche bei Biotech-Wearables, die für Krankenhäuser und den Profisport gedacht waren, schufen beispielsweise einen Verbrauchermarkt für Dinge wie Smartwatches und -Ringe. Sobald dieses Rad in Schwung kam, schuf es einen neuen Wert für die Verbraucher. Dadurch entstand ein größerer praktischer Nutzen, der wiederum zu mehr Investitionen führte. Zudem wurden Talente angezogen.

Eine Innovationswelle wird die menschliche Existenz verändern

Das bringt uns dorthin, wo wir heute sind: Ende 2023 bemerkten mein Team und ich, dass sich ein neuer Trend hin zu einem Technologie-Superzyklus abzeichnete. In der Wirtschaft bedeutet ein Superzyklus eine längere Periode boomender Nachfrage, die die Preise für Rohstoffe und Vermögenswerte in beispiellose Höhen treibt. In der Vergangenheit wurden solche Superzyklen nur durch eine Technologie definiert.

Heute passiert etwas Anderes. Wir vom FTI haben herausgefunden, dass diese drei Allzwecktechnologien auf die eine oder andere Weise bereits mit jeder Technologie verbunden sind: Sie haben eine Verbindung zur Wissenschaft, zum Weltraum, zum Sport, zu jedem Unternehmen, zu jedem Aspekt unseres täglichen Lebens. Das bedeutet, dass die bevorstehende Innovationswelle so intensiv, kraftvoll und allgegenwärtig sein wird, dass sie unsere menschliche Existenz buchstäblich auf aufregende, gute – und gleichzeitig schockierende Art und Weise umgestalten wird.

Das Problem ist, dass die Entscheidungsträger feststecken. Sie sind zutiefst besorgt über all die Technologie, weil diese für sie immer noch sehr abstrakt ist. Sie machen sich Sorgen über KI und die digitale Transformation. Im Moment treffen CEOs Entscheidungen aus Angst und FOMO, der Furcht, etwas zu verpassen. Ich nenne es FUD: Angst (fear), Unsicherheit (uncertainty), Zweifel (doubt). FUD über die Zukunft.

Bevor wir uns aber mit FUD befassen, werfen wir einen Blick auf die Trends, die die Allzwecktechnologien dieses Technologie-Superzyklus ausmachen: Künstliche Intelligenz ist die Grundlage von allem. Es ist die nächste Ära der Informatik, und sie wird in alles eingebettet sein, was wir tun. Eine der Herausforderungen besteht darin, dass die KI trotz aller Versprechen von Ethikteams und verantwortungsvoller KI immer noch mit Voreingenommenheit (Bias) konfrontiert ist. Ganz gleich, ob Sie Midjourney, Dall-E oder sogar Anthropic bitten, einen CEO eines Unternehmens darzustellen oder zu beschreiben, sie alle liefern das Bild eines weißen Mannes mittleren Alters in einem teuren Maßanzug.

Nur Gemini, Googles generatives KI-System, schlug eine andere Richtung ein. Dessen überaggressiver Ansatz, Vorurteile dadurch zu korrigieren, in dem es gar keine Bilder von weißen Menschen erzeugte, verdeutlicht die Herausforderungen von ausgewogenen KI-Ergebnissen. Wir hoffen immer noch auf Veränderung, haben aber die falschen Anreize gesetzt. Nämlich schnell zu sein und zu skalieren, weil dort das Geld liegt. Das Problem wird sich also in Zukunft nicht bessern. Es wird noch schlimmer werden.

Trend: Vom Konzept zum Beton

Den zweiten Trend in der KI nenne ich „Concept to Concrete“ (Vom Konzept zum Konkreten). Heute müssen wir eine präzise Eingabeaufforderung schreiben, um zu bekommen, was wir wollen: Text zu Bild, Text zu Video, Text zu Code, Text zu Flirt. Aber das ändert sich. In zwei Jahren werden wir nicht mehr auf Einzelheiten eingehen müssen. Stattdessen werden wir mit einem sehr breiten, allgemeinen Konzept loslegen.

Wir werden zusammen mit einer KI ein Brainstorming durchführen, um kontinuierlich Ideen zu entwickeln und zu verfeinern, bis wir das bekommen, was wir wollen – einen konkreten Rahmen, technische Spezifikationen, einen neuen Geschäftsplan, alles Mögliche. Es gibt eine brandneue Plattform namens Pica, die schon ein Beispiel für eine solche Art von KI ist. Zora von OpenAI hat die gleiche Grundidee.

Ein weiterer Trend betrifft die ungesicherte KI. Heute gleicht KI immer noch einer Blackbox. Diese ist zwar eingeschränkt, aber sie entspricht einem sicheren, von einer Mauer geschützten Garten. Der Vorteil besteht darin, dass ein Unternehmen bei Bedarf mit sehr strengen Kontrollen gewährleisten kann, dass niemand dieses System korrumpiert oder Schlechtes damit anstellt. Bis vor kurzem veröffentlichten Unternehmen ihre Forschungsarbeiten etwa noch mit einer Erklärung zu ihren Erkenntnissen. Jetzt werden Studien nicht mehr so wie früher veröffentlicht. Es steht zu viel Geld auf dem Spiel.

Trend zu halboffenen oder vollständigen Open-Source-Modellen

Es gibt auch eine Bewegung in die entgegengesetzte Richtung, hin zu semi-offenen oder vollständigen Open-Source-Modellen. Dabei handelt es sich um leistungsstarke, aber ungesicherte KI-Systeme, die uns viel mehr Kontrolle über ihre Funktionsweise geben. Die Blackbox wird entfernt. Gleichzeitig entstehen dadurch mehr Schwachstellen. Grundsätzlich verfügen mittlerweile alle großen Technologieunternehmen über Open-Source-Modelle, wie zum Beispiel Metas Lama 2.

In Zukunft werden wir eine Spaltung des Walled-Garden-Modells und des Open-Source-Modells und der Unternehmen sehen. Es ist jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Open-Source-Modelle für wirklich Schlechtes genutzt werden können, was das Thema der Rechenschaftspflicht aufwirft. Die Geschichte lehrt uns, dass niemand zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn Technologie etwas tut, was uns nicht gefällt. Es gibt niemanden, den man anrufen kann, niemanden, den man um Hilfe bitten kann, und keinen Rückgriff.

Nehmen wir zum Beispiel den aktuellen Krieg zwischen Israel und der Hamas. Was wäre, wenn ein bösartiger Akteur in dieser Region ein Deep-Fake-Ereignis schaffen würde, auf das eine der beiden Seiten reagieren würde? Könnte die Situation schnell zu einem regionalen Konflikt eskalieren? Meiner Meinung nach ist die Antwort ja. Einen Schritt weiter gedacht könnte uns dieser regionale Konflikt sogar in einen katastrophalen nächsten Weltkrieg stürzen. So weit sind wir aber noch nicht.

KI als Alles-Maschine der Zukunft

Im Allgemeinen sind unsere Produkte und Dienstleistungen bereits von diesen Trends beeinflusst. Das macht KI zur Alles-Maschine der Zukunft. Und diese Alles-Maschine wird Daten brauchen. Das bringt uns zum nächsten Trend, nämlich den vernetzten Ökosystemen der Dinge. Denn irgendwann in den nächsten zwei Jahren wird uns das Internet nicht mehr reichen. Wir werden all unsere hochwertigen Texte und Daten aufgebraucht haben. Dieser Mangel an Daten wird den Fortschritt der KI verlangsamen. Um dies zu verhindern, erfinden Unternehmen neue Geräte, die sie verkaufen können, damit sie mehr Daten erhalten.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die meisten Trainingsdaten, die wir für KI verwenden, online sind – Wikipedia, Reddit, Bücher, Tabellenkalkulationen. KI kann während des Lernens nicht wirklich mit echten Menschen interagieren. Wir haben noch kein KI-Silico-Modell der realen Welt erstellt. Für die Zukunft brauchen wir also nicht nur mehr Daten, sondern auch mehr Arten von Daten – von sensorischen bis hin zu visuellen –, was bedeutet, dass große Sprachmodelle nicht ausreichen.

Große Aktionsmodelle (LAMs) sind die Modelle, die auf große Sprachmodelle folgen werden. Sie sagen vorher, was sie als Nächstes sagen und tun sollen. Sie zerlegen komplexe Aufgaben in kleinere Teile. In naher Zukunft werden wir von Millionen von Sensoren umgeben sein, die uns ständig überwachen und mehrere Datenströme gleichzeitig erfassen.

Wir stehen auch kurz vor einer kambrischen Geräteexplosion: Wearables, Extended-Reality-Geräte, das Internet der Dinge, Smart Homes, intelligente Autos, intelligente Büros – Sensoren überall. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk miteinander verbundener Geräte, die kommunizieren und Daten austauschen, um die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz zu erleichtern und voranzutreiben. Am Anfang werden viele davon ziemlich seltsam sein. Ein Beispiel ist eine KI-betriebene Katzentür, die Kameras und Sensoren nutzt, um die Katze draußen zu halten, wenn diese Ihnen ein totes Tier schenken möchte. Solange es das tote Ding nicht fallen lässt, kann die Katze nicht zurück in Ihr Haus. Das klingt schon schräg.

Wir werden in den nächsten Jahren viele solcher skurrilen Geräte sehen, die niemand will oder braucht. Dann kommt die Normalisierung, und am Ende werden wir eine Reihe von Geräten haben, die wir tatsächlich jeden Tag verwenden werden. Zu diesem Zeitpunkt wird die Basis des Tech-Superzyklus in den Hintergrund getreten sein und nur bei Bedarf zum Vorschein kommen.

Aus diesem Grund gibt es derzeit einen Ansturm auf die Entwicklung von AI-First-Geräten. Sie sollen kontinuierlich und in Echtzeit von Menschen lernen. Unternehmen wie IBM oder Watson haben eine Möglichkeit gefunden, ein großes Aktionsmodell zu erstellen und Sensordaten in einem Gerät zu nutzen, das wir ständig bei uns haben. Es ist, als hätte man sein eigenes kleines persönliches neuronales Netzwerk, oder – so lautet das Versprechen – ein kleines Gehirn in der Tasche.

Kaninchen R1 – Beginn der LAMs

Der Rabbit R1, der im Januar 2024 auf den Markt kam, ist der Anfang von diesen großen Aktionmodelle in der realen Welt. Dieses Gerät ist wie ein Walkie-Talkie mit einem Bildschirm, nur dass sich auf der anderen Seite kein Mensch, sondern eine KI befindet. Es spielt den von Ihnen gewünschten Spotify-Song ab oder informiert Sie über das Wetter. Es verfügt außerdem über einen Trainingsmodus. Je häufiger es verwendet wird, desto mehr lernt es über den Benutzer. Es ist ganz auf Sie zugeschnitten. Ich weiß nicht, ob die Zukunft genau so aussehen wird. Was es jedoch zeigt ist, dass die Zukunft in jedem Fall ganz anders aussehen wird als die Gegenwart heute.

Ein weiteres Gerät dieser Art ist die Vision Pro von Apple, mit der Menschen bereits vertraut sind. Wir lieben und hassen sie, und wir lieben es, dieses Gerät zu hassen. Vielleicht wird sich die Vision Pro wie das Original-iPhone entwickeln: Das war anfangs auch nicht sonderlich durchdacht, hatte weder einen Entwickler noch ein App-Ökosystem. Nach mehreren Versionen dominiert es jetzt allerdings den Markt. In jedem Fall hat Vision Pro schon heute die Weiterentwicklung von XR-Geräten vorangetrieben. So sind etwa Google, Samsung und Qualcomm eine Partnerschaft eingegangen, um ein echtes Extended-Reality-Gerät für Android zu entwickeln. Meta hat sein Gerät auf dem Markt. Snap hat seine Plattform. Diese Gesichtscomputer werden über kurz oder lang überall auftauchen.

Warum spreche ich von Gesichtscomputern? Weil es sich um Computer handelt, die vors Gesicht geschnallt werden. Die Vision Pro verfügt über 14 Kameras, die sämtliche Details innerhalb und außerhalb des Headsets erfassen, Lidar-Sensoren, die mithilfe von Licht Entfernungen messen und 3D-Karte um Sie herum erstellen, Infrarotkameras, Beschleunigungsmesser, Kreiselstabilisatoren und so weiter. Sie speisen all diese Informationen ein in einen mehrdimensionalen Raum, in eine räumliche Computerumgebung. Die anderen Gesichtscomputer, die dieses Jahr auf den Markt kommen, werden ebenfalls über eine Menge Sensoren verfügen. Diese Geräte sollen ihren Benutzern helfen, anders mit der Welt zu interagieren.

Aus meiner Sicht sind sie auch für andere Zwecke konzipiert. Sie sollen die Intentionen der Benutzer erkennen. Dies gelingt zum Teil dadurch, indem sie die Bewegungen der Pupillen lesen und vorhersagen. Jedes Mal, wenn uns etwas einfällt, reagieren unsere Pupillen automatisch. Wenn wir aufgeregt sind, verändert sich ihre Größe. Wir haben keine Kontrolle darüber. Unsere Pupille bewegt sich manchmal, bevor der Körper es tut. Dadurch weiß der Gesichtscomputer, was wir tun oder denken werden, noch bevor wir es wissen.

Gesichtscomputer sind derzeit sehr teuer und daher für die meisten Menschen unerschwinglich. Dies wird sich ändern, weil Unternehmen hoch motiviert sind, große Aktionsmodelle zu entwickeln und mehr Arten von Daten einzubinden. Letztendlich wird ein Kampf um die Vorherrschaft der Unternehmen unvermeidlich sein, wenn es darum geht, die Menschen dazu zu bringen, ihre Hardware zu tragen.

Ein weiteres Gerät stammt von einer Firma namens Humane. Es ist eine Brosche mit einer Kamera, einem Telefon und einem Projektor, und obwohl einige Leute sehr skeptisch sind, bin ich der Meinung, dass es Technologie-Nutzung verändern könnte. Es sammelt den ganzen Tag Daten und dient gleichzeitig als Schnittstelle für unseren Alltag. So baut es effektiv ein großes Aktionsmodell über seinen Benutzer auf.

Nächste Stufe des Kapitalismus

Ich glaube nicht, dass wir es mit einer massiven Verschwörung von Tech-Titanen zu tun haben, die ihre Vormachtstellung oder Dominanz planen. Ich denke allerdings, dass es sich dabei um die nächste Stufe des Kapitalismus handeln wird. Während der Tech-Superzyklus an Fahrt gewinnt, haben wir diesen Unternehmen einen Anreiz gegeben, ihre Produkte so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen.

Unternehmen werden nicht dafür bezahlt oder belohnt, das sicherste Gerät zu schaffen. Präventive Problemlösung bringt auf dem Markt keine Vorteile. Unternehmen verdienen Geld durch Zyklus-Upgrades und durch Dienstleistungen. Um den Umsatz zu steigern, werden sie deshalb weiterhin neuere, bessere Geräte herstellen, für die die Leute bezahlen. Wir befinden uns wirklich erst am Anfang.

Die Kombination aus KI und Collectibles könnte aber möglicherweise auch viel Gutes hervorbringen. So könnten Schulen über zuverlässige Lernmodelle verfügen, die das Bildungssystem verbessern. Gleichzeitig könnten diese Geräte allerdings zu Social Scoring führen. Was wäre, wenn es in Zukunft keine festen Preise geben würde? Stattdessen erhalten Sie personalisierte Preise für alles, was Sie kaufen, um Sie dazu zu bringen, noch mehr zu kaufen. Oder Preise würden für den Zeitpunkt optimiert, an dem Sie wahrscheinlich Geld ausgeben, damit Sie mehr Dinge kaufen.

Was wäre, wenn Sie in Zukunft anhand des Kaufverhaltens wissen würden, wer reich und wer arm ist? Ohne angemessene Schutzmaßnahmen können die Geräte leicht in die Privatsphäre eindringen und vertrauliche Informationen sammeln. Was passiert, wenn beispielsweise Malware an unsere physische Bewegung gebunden wird? Was ist, wenn jemand Ihre Bewegungsidentität knackt? Es gibt keine praktikable Möglichkeit, dies zu ändern. Dafür gibt es kein Passwort. Es ist buchstäblich wer wir sind.

Hinzu kommen weitere Herausforderungen hinsichtlich der Ressourcen. Mit der Ausweitung der KI und immer mehr Geräten wächst auch die Nachfrage nach Chips. Chips sind sehr, sehr schwer zu bekommen. Wir wissen auch, dass Moores Gesetz zu scheitern beginnt. Wir stoßen an Grenzen.

Also ja, es könnte möglich sein, immer kleinere Dinge auf Chips zu bringen. Es wird aber auch immer teurer. Deshalb brauchen wir jetzt etwas Neues. Es gibt Gerüchte über alternative Architekturen. Es gibt dieses neue Ding namens grok, das es GPT ermöglichen würde, etwa 14-mal schneller zu laufen als derzeit. Aber Tatsache ist, dass wir immer noch die Materialien dafür brauchen. Derzeit stecken wir also wieder einmal fest.

Tonnenweise Aktivität im Biotechnologiebereich

Hier rückt die Biotechnologie – der dritte Teil des Technologie-Superzyklus – in den Fokus. Der Grund dafür, dass Biologie mit KI und Collectibles verbunden ist, liegt darin, dass die Biologie Informationen auf eine Weise verarbeitet, die Silizium nicht kann. Mit anderen Worten: Wenn wir versuchen, Maschinen zu bauen, die so denken und sich verhalten können wie wir, müssen wir sie im wahrsten Sinne des Wortes uns ähnlicher machen. So sehr das letzte Jahr ein großes Jahr für die KI war, war es tatsächlich ein viel, viel wichtigeres Jahr für die Biotechnologie. Wir werden in diesem Bereich in Zukunft eine Menge Aktivität erleben.

Zwei schnelle Trends, die für die Biotechnologie äußerst bedeutend sind: Der Erste hat mit der Materialwissenschaft zu tun. Kürzlich wurde ein brandneues KI-Modell namens Evo auf den Markt gebracht, das die Sprache der Biologie verwendet. Es untersucht DNA, RNA und Proteine, um Vorhersagen zu treffen und Moleküle bis hin zu vollständige Genome designen zu können. Evo ermöglicht Ihnen, die Größe, Form, Funktion und was auch immer des gewollten Proteins einzugeben. Dann spuckt es die Formel dafür aus. Es funktioniert wie ChatGPT, aber für Organismen. Das führt mich zur Schlussfolgerung, dass nach der generativen KI die generative Biologie kommt.

DeepMind hat ein KI-Tool für die generative Biologie entwickelt und 2,2 Millionen neue Materialien gefunden. 380.000 davon befinden sich derzeit zur Entwicklung in einem Labor und werden möglicherweise zukünftige Technologien vorantreiben. So können wir eine neue Biologie hervorbringen – das bedeutet wiederum neue Therapeutika, neue Wege zur Bewältigung des Klimawandels, neue Wege zur Bewältigung der globalen Nahrungsmittelknappheit. Aber hilft uns das beim Halbleiterproblem?

Organoide spielen Video-Pong

Diese Frage bringt uns zum letzten Trend: Irgendwann im nächsten Jahrzehnt werden wir sowohl mit künstlicher Intelligenz als auch mit organoider Intelligenz zusammenarbeiten. Unter Organoid versteht man eine winzige Gewebenachbildung, die wie das Organ funktioniert und strukturiert ist. Wissenschaftler nehmen eine spezielle Art von Stammzellen und geben diese in eine gallertartige Mischung.

Danach fügen sie Moleküle hinzu, um sie entweder in eine Herzzelle, eine Gehirnzelle oder ein anderes Organ zu verwandeln. Dann wächst es. Im Jahr 2021 entwickelten Forscher der Johns Hopkins University in Baltimore ein Gehirnorganoid. Wissenschaftler am Cortical Lab Institute in Melbourne wiederum stellten ein Miniaturgehirn her, das wie ein Computer funktionierte. Sie stellten das Organoid her, befestigten es an einigen Elektroden und brachten ihm bei, das gute, alte Videospiel Pong zu spielen.

Organoide Intelligenz (OAI) verwendet biologische Materialien und Gehirnzellen zur Informationsverarbeitung und nutzt deren inhärente Fähigkeiten, die über die von siliziumbasierten Systeme hinausgehen. Dabei handelt es sich nicht um Science-Fiction. Das ist bereits geschehen. Kürzlich gab es ein Bio-Computing-System aus lebenden menschlichen Gehirnzellen, das mithilfe von Audioclips und anderer KI-Technologie lernte, eine menschliche Stimme aus 240 Stimmen zu erkennen.

Irgendwann werden biologische Computer schneller, effizienter und leistungsfähiger sein als das, was wir heute kennen. Außerdem werden sie für ihren Betrieb nur einen Bruchteil der aktuellen Energiemenge benötigen. Biotechnologie wird uns folglich über siliziumbasierte Computersysteme hinausbringen.

Klug, erfolgreich, aber rassistisch

Was passiert also, wenn wir KI, Collectables und Biotechnologie miteinander verbinden? Wenn wir solche Computer entwickeln wollen, müssen die Organoide ja von irgendwoher oder von irgendjemandem kommen. Was wäre, wenn wir aus einem Katalog einen Biocomputer bestellen könnten, der aus den Gehirnzellen einer bestimmten Person hergestellt wird? Wir könnten deren IQ und deren akademische Leistungen sehen. Was wäre, wenn Ihr Unternehmen einen Biocomputer aus den Zellen eines bestimmten Mannes bestellen würde? Von einem angesehenen Mathematiker, der 200 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht hat. Von einem, der in jeder Hinsicht perfekt ist – aber leider auch ein bisschen rassistisch.

Sicherlich entstehen nicht nur schlechte beziehungsweise katastrophale Szenarien, wenn man Biotechnologie, Collectables und KI kombiniert. Doch ohne Intervention sehe ich genau diese auf uns zukommen. Seit Jahrzehnten wird uns gesagt, dass es nicht die Technologie ist, die zu katastrophalen Folgen führen könnte. Technologie ist nicht schlecht oder gut, es kommt nur darauf an, wie die Menschen die Technologie nutzen. Doch was ist mit den Menschen, die die Technologie entwickeln oder deren Unternehmen finanzieren, und der zunehmenden Kontrolle, die sie in unserem Alltag ausüben?

Im Technologie-Superzyklus konzentriert sich die tatsächliche Macht auf eine gefährlich kleine Gruppe von Menschen, die über erheblichen Einfluss in der Gesellschaft, in der Regierung, in der Politik und in unseren Volkswirtschaften verfügen. Sie kontrollieren unsere technischen Ressourcen. Sie haben großen Reichtum angehäuft und bestimmen nun, wie wir Ideen untereinander kommunizieren.

Einige von ihnen sind dafür bekannt, private Inseln zu kaufen. Einige von ihnen arbeiten in entwickelten Volkswirtschaften, in sogenannten Sonderwirtschaftszonen, also in regulierungsfreien kleinen Regionen, in denen man Biotech-Experimente durchführen, neue Gentherapien testen und neue Computertypen bauen kann.

Schon bald werden Tech-Heilsbringer versuchen, uns vor dem Technologie-Superzyklus zu retten. Jeder Tech-Messias wird uns auf seine ganz eigene Art retten wollen. Der eine nennt es effektiver Altruismus. Der andere spricht von Techno-Optimismus. Von außen betrachtet sieht es eher nach marktwirtschaftlichem Techno-Autoritarismus aus. Damit bin ich nicht einverstanden. Wir brauchen niemanden, der uns rettet. Wir müssen einfach besser für die Zukunft planen.

Übergangsministerium soll nach vorne schauen, nicht zurück

Bessere Planung ist auch der Ausweg aus FUD, und ich empfehle ganz konkrete Schritte: Unsere gewählten Machthaber müssen nach vorne blicken, nicht nach hinten. Sie müssen ein Übergangsministerium einrichten, das aufhört Modelle zu bauen. Stattdessen sollte dieses Übergangsministerium ein Hospiz für Unternehmen schaffen: Es ist an der Zeit anzuerkennen, dass bestimmte Unternehmen und Arbeitsplätze verschwinden werden. Wir müssen für eine sanfte Landung in dieser Zukunft sorgen, damit die Wirtschaft nicht lahmgelegt wird.

Schauen Sie sich die Bereiche an, in denen auf lange Sicht auf jeden Fall ein Mensch benötigt wird – etwa Klempner, Elektriker oder Dentalhygieniker. Bestehen Sie nicht mehr darauf, dass jeder eine vierjährige Universität besuchen und einen Abschluss machen muss. Erinnern Sie die Menschen besser daran, dass diese handwerklichen Berufe gleichermaßen wertvoll und wichtig sind. Und wenn es für jemanden an der Zeit ist, einen beruflichen Übergang zu vollziehen, geben Sie ihm ein steuerbegünstigtes Bankkonto und schaffen Sie eine Möglichkeit, dass diese Familie den Wechsel überleben kann.

Unternehmen empfehle ich, ein „Mapping des Wertschöpfungsnetzwerks“ zu machen. Das ist ein Werkzeug, das wir an der Business School lehren. Alle Partner und verschiedene Einheiten im Ökosystem tragen gemeinsam zum Wert eines Unternehmens bei. Als BlackBerry beispielsweise Innovationen hervorbrachte, Fortschritte machte und Werte schuf, machten sie das alle zusammen. Das Problem insbesondere von erfolgreichen Unternehmen besteht allerdings darin, dass solche Wertschöpfungsnetzwerke nicht statisch sind. Sie entwickeln sich weiter.

BlackBerry scheiterte in weiterer Folge, weil es das iPhone und deren beiden Kernbereiche, nämlich die Entwicklung von Video und Musik, völlig übersah. Da es diese Wertnetzwerkkartierung nicht durchführte, erkannte das Unternehmen nicht, dass das neue Wertversprechen des Telefons nicht nur für die Arbeit gedacht war.

Hier können und sollten Unternehmen ansetzen, denn der Technologie-Superzyklus wird das zukünftige Erscheinungsbild des Wertschöpfungsnetzwerks völlig verändern. Damit können Unternehmen die Zeit effektiv verlangsamen. Sie können Störungen erkennen, bevor diese auftreten – und dadurch  wiederum können künftige Werte geschaffen werden.

Regierungen, Unternehmen, jeder Einzelne von uns muss für die Zukunft kämpfen. Uns darf und soll es gut gehen. Wir können erfolgreich und resilient sein. Der Tech-Superzyklus kann sich alles in Allem positiv auswirken. Wir können der Menschheit einen besseren Ort hinterlassen. Wir können in etwas wirklich Wunderbares übergehen. Aber wir alle müssen uns an die Arbeit machen.

Zur Person

Porträt von der Zukunftsforscherin Amy Webb

Amy Webb

ist eine weltbekannte Futurologin, Hochschullehrerin und Gründerin des Future Today Institute in New York. Viel beachtet sind ihre Auftritte auf der Tech-Messe „South by Southwest“ in Austin, Texas

09.04.2024
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