Die Herausforderung, vor der Rafael Laguna de la Vera steht, könnte größer kaum sein. Er soll Freiräume schaffen, in denen Innovatoren radikal neu denken können, um „the next big thing made in Germany“ zu entwickeln. Etwas, das so „big“ ist, dass es die Tech-Riesen in den USA und in Asien in die Schranken weist.
Laguna de la Vera ist Direktor der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SprinD) – und in dieser Funktion ständig auf der Suche nach revolutionären Neuerungen vom Potenzial eines Smartphones. Die Einrichtung mit Sitz in Leipzig, initiiert von Bundeswirtschafts- und -forschungsministerium, hat im Januar 2020 die Arbeit aufgenommen. Aktuell fördert SprinD unter anderem
- die Entwicklung eines Medikaments, mit dem die biochemische Ursache von Alzheimer direkt behandelt und die Erkrankung besiegt werden kann;
- den Bau einer Mikroplastik-Filteranlage, um Gewässer zu reinigen;
- die Entwicklung eines Analogrechners-on-a-Chip. Dieser könnte 100.000-mal schneller als ein Digitalcomputer sein, verbraucht allerdings nur ein 100.000stel der Energie;
- den Bau eines Supercomputers, der die Arbeit des menschlichen Gehirns imitiert und dadurch der Künstlichen Intelligenz weiteren Schub geben soll.
„Big“ klingt das alles. Ob diese Innovationen nur in der Theorie oder auch in der Praxis das Zeug dazu haben, uns zu einem Sprung zu verhelfen, muss sich noch zeigen.
Radikal und richtungweisend
Sprunginnovationen teilen die Welt in ein Davor und ein Danach. Sie verändern etwas radikal und nachhaltig, sind also extrem disruptiv. Auto, Radio, Fernseher und E-Mail werden gemeinhin dazu gezählt, aber auch das Dateiformat MP3, das beispielsweise am Fraunhofer-Institut in Erlangen entwickelt wurde. Auch die Welt mit Smartphone ist eine andere als die Welt ohne den Minicomputer in der Hosentasche. Und die in Deutschland entwickelte mRNA-Technologie, die Biontech/Pfizer sowie Moderna in ihren Covid-19-Impfstoffen nutzen, hat definitiv das Potenzial, als Sprunginnovation in die Medizingeschichte einzugehen.
Gekommen, um zu bleiben, sind diese Dinge allerdings nicht zwingend. Denn jede Sprunginnovation läuft Gefahr, irgendwann selbst vom Markt verdrängt zu werden. Passiert das, ist von Exnovation die Rede.
Innovate – or die?
Trotz der jüngsten Erfolge bei der mRNA-Technologie hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass in deutschen Unternehmen seit Jahren eher Bestehendes verbessert als wirklich bahnbrechend verändert wird. Doch stimmt das überhaupt?
Eine Frage, die die DUP UNTERNEHMER-Redaktion mit Consultants sowie mit Führungskräften aus Unternehmen aller Größen und aus den unterschiedlichsten Branchen diskutiert hat. Paul Martin, CEO von vertical, einem Entwickler von Modern-Workplace-Lösungen, etwa sagt: „Am Tool-Set und der Methodenkenntnis scheitert es nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass viele ihre Ideen nicht exekutieren, dass der Prozess oft beim Design Thinking stecken bleibt.“ Und Ortwin Goldbeck, Gründer des Bauunternehmens GOLDBECK, ergänzt: „Es genügt nicht, kreative Ideen zu haben. Man muss auch die Kraft und die Fähigkeit haben, sie in Produkte umzusetzen. Das ist letztlich das, was ich unter Innovationskraft verstehe.“
Was ein innvovatives Unternehmen auszeichnet – das wollten die Marktforscher von YouGov von 10.000 Deutschen wissen. Das Ergebnis: Zukunftsorientierung, Ideenreichtum, Nachhaltigkeit – diese drei Attribute führen aus Sicht der Verbraucher zu Innovation. Der Mut zu Neuem sollte auch in der Außenwirkung spürbar sein: „Es ist enorm wichtig, als innovativ wahrgenommen zu werden“, betont Felix Leiendecker von YouGov. „Sonst stirbt man als Unternehmen mit der bestehenden Zielgruppe aus.“
Um das zu verhindern, gilt es, frühzeitig gegenzusteuern. Doch wie? Worauf muss man dabei achten? Und welcher Unternehmenskultur bedarf es generell, um etwas Innovatives hervorzubringen? Das Ergebnis unserer Gespräche mit Firmenlenkern und Consultants sind fünf Strategien, mit denen die Innovationskraft gestärkt werden kann.
1. Innovation ist Chefsache
Unternehmerinnen und Unternehmer – davon war der österreichische Ökonom Joseph Alois Schumpeter überzeugt – sind die treibende Kraft hinter einer Innovation. Sie sind maßgeblich für den Prozess der „schöpferischen Zerstörung“, bei dem Altes ständig durch Neues ersetzt wird, verantwortlich.
„Führungskräfte sollten jede Veränderung grundsätzlich positiv begleiten und mit einer strategischen Facette kombinieren. Also nicht nur eine kurzfristige Lösung im operativen Geschäft finden, sondern strategisch, nachhaltig und langfristig vom Ergebnis her denken“, setzt Andreas Glunz, Bereichsvorstand International Business bei KPMG, einen Rahmen.
Disruptive Innovation zu initiieren – dafür ist auch einiges an Weitsicht erforderlich, vor allem wenn das Geschäft eigentlich gut läuft. Und Mut. Denn: Transformation geht stets mit einem unternehmerischen Risiko einher. „Aber Innovation ist die DNA der Wirtschaft“, stellt Hans-Dietrich Reckhaus klar. Der Chef der Firma Reckhaus, bisher Hersteller von Insektenvernichtungsmitteln, ist gerade dabei, sein Produktportfolio grundlegend zu verändern.
Doch woher stammt die Inspiration dafür? Und wie gelingt die Transformation beispielsweise von einem produktzentrierten Industrie- zu einem kundenorientierten Dienstleistungsunternehmen? Und zwar so, dass nicht nur die Außen-, sondern auch die Innenwahrnehmung stimmt? Dirk Müller, Chef der Digitalisierungsberatung Schacht One, empfiehlt Entscheidern, Themen am Rand der eigenen Wertschöpfungskette zu identifizieren: „Wenn Sie dort demonstrieren, dass etwas funktionieren kann, nehmen Sie mehr Menschen in der Organisation mit.“ Ihr Kerngeschäft sollten Unternehmen laut Müller nicht sofort aufgeben. „Denn dort arbeiten die meisten Beschäftigten und dort wird das Geld verdient, das Innovationen möglich macht.“ Ambidextrie heißt das Kunststück, das alte und das neue Geschäft gleichzeitig zu managen.
2. Freiräume schaffen
Menschen müssten immer wieder ermutigt werden umzudenken, neue Ideen einzubringen, betont Arno Walter, Bereichsvorstand Wealth Management & Unternehmerkunden bei der Commerzbank. Das gelinge, wenn man auf einen Mix aus klaren Strukturen und Flexibilität setze.
Innovation braucht also Freiheiten – die allerdings nicht in allen Unternehmen zwingend gegeben sind. Bei Lufthansa wurde daher ein Innovation-Hub in Berlin gegründet. „Wir wussten, dass wir im Konzernumfeld in der Zentrale nicht genug Freiheitsgrade schaffen können, damit Menschen sich abseits der Hierarchien und des Alltags mal mit etwas beschäftigen können – und zwar ohne dass andere sagen: ‚Das ist ja Quatsch; lass es sein‘“, berichtet Andreas Bartels, Senior Vice President & Head of Corporate Communications bei der Lufthansa, und ergänzt: „Das Management ist in der Pflicht, diese Räume zu schaffen, und es muss das, was dort entsteht, auch unterstützen.“
Uwe Geissinger, Executive Vice President beim Autozulieferer Magna, plädiert ebenfalls für aktiveres Management: „Innovation muss man fördern, denn von allein kommt sie nicht.“ Was wichtig ist, um etwas Innovatives hervorzubringen? Flache Hierarchien, kurze Wege, offene Ohren, aber auch die Fähigkeit, mal unbequeme Entscheidungen zu treffen. „Denn als Führungskraft muss man erkennen, was uns wirklich weiterbringt. Nicht jede Innovation ist auch ein Erfolg“, so Geissinger.
3. Auf Empathie und Diversität setzen
Erfolgreiche Manager interessieren sich nicht nur für die fachlichen Fähigkeiten der Beschäftigten, sondern bauen eine persönliche Beziehung zu ihnen auf. Walter pocht darauf, ein „echtes Interesse an den Menschen, die sie umgeben, zu entwickeln. Vor allem junge Menschen fordern das von Führungskräften ein.“
„Sie müssen empathisch sein, Sie müssen authentisch sein und Sie müssen mutig sein“: So lautet Angelika Giffords leidenschaftlicher Appell an Führungskräfte. Sie ist Vice President für Zentraleuropa bei Facebook. Empathie erfordere Offenheit und sei zeitintensiv, lohne sich aber. Dass Empathie nicht nur gerade in Mode oder ein Nice-to-have ist, sondern ganz konkreten Einfluss auf den Unternehmenserfolg und die Innovationsfähigkeit hat, davon ist man bei Facebook überzeugt.
Ebenso wie Empathie ist Diversität ein wichtiger Aspekt, um die Innovationsfähigkeit zu verbessern. Gifford warnt jedoch davor, Diversität auf geschlechtsgemischte Teams zu reduzieren – Hautfarbe, Rasse oder Religion spielen keine geringere Rolle. Dadurch, dass Facebook auf sehr diverse Teams achtet, muss auch eine Begleitung der Führungskräfte stattfinden. Der „Bias“ – also Vorurteile, die über bestimmte Bevölkerungsgruppen bestehen – wird dadurch frühzeitig aufgedeckt, und Manager werden im Umgang mit Menschen anderer Kulturen oder sexueller Orientierung geschult. Auch Mut sei in diesem Zusammenhang von Führungskräften gefordert – der Mut, nicht immer nur einem selbst ähnliche Mitarbeitende einzustellen. Ein Fehler, den Gifford zu Beginn ihrer Karriere auch gemacht habe. Vielmehr gehe es darum, ein komplementäres, komplexes Team zusammenzustellen. Denn: Exzellenz brauche Vielfalt.
4. Technologien kennen – und nutzen
Ob Künstliche Intelligenz, Blockchain oder der neue Mobilfunkstandard 5G: Die technologische Basis ist grundsätzlich da. Fehlt noch die zündende Idee, wie welche Technologie den Turbo für das eigene Business zünden könnte. Doch bei der Entwicklung konkreter Anwendungsbeispiele hakt es in Deutschland zu oft, berichten Unternehmer.
„Bei den Geschäftsmodellen ist Deutschland relativ schlecht aufgestellt“, kritisiert Alexander Trommen, CEO der Tech-Schmiede Appsfactory. Sebastian Karger, Geschäftsführer der Digitalisierungsberatung Liquam, ergänzt: „Wir haben etwa 2.000 Weltmarktführer in Deutschland. Viele konzentrieren sich momentan darauf, ihre Produkte zu digitalisieren. Sie benötigen aber zudem ein Geschäftsmodell, das auch in Zeiten großer Marktverwerfungen funktioniert.“
Es ist ein Vorwurf, den sich Unternehmen hierzulande schon länger anhören müssen. „Jahrzehntelang haben deutsche Autohersteller den Otto-Motor perfektioniert und andere Antriebe vergessen“, nennt Karger ein Beispiel. Beim Thema E-Autos hatten Tesla und Co. daher die Nase vorn. Die Aufholjagd aber ist in vollem Gange – etwa bei Volkswagen. Und das hat einen Grund: „In den Führungsetagen hat ein Umdenken stattgefunden. Vor zwei, drei Jahren war das Mindset noch ganz anders“, ist der Berater überzeugt.
5. Kollaborationen eingehen
Es gibt kein Patentrezept für Innovation, keinen Weg, der alle zum gewünschten Ziel führt. Etwas Neues kann hinter verschlossenen Türen, etwa in der eigenen Entwicklungsabteilung entstehen. Dann ist von Closed Innovation die Rede. Andere Unternehmen entscheiden sich aber ganz bewusst für Open Innovation – sprich: sie gestalten die Zukunft zusammen mit externen Partnern, etwa mit Hochschulen, Start-ups oder gar dem direkten Wettbewerber.
Zusammen ist man bekanntlich weniger allein – und kommt mitunter auch schneller ans Ziel. Und Schnelligkeit ist dringend notwendig, denn an Herausforderungen mangelt es nicht. Eine der größten ist die Bekämpfung des Klimawandels. „Wenn wir die ambitionierten Klimaziele der Bundesregierung erreichen wollen, ist eine wahnsinnige Transformation nötig“, sagt Adrian Willig, Geschäftsführer des Instituts für Wärme und Mobilität, einer Einrichtung der deutschen Mineralölwirtschaft. Optimistisch stimmen Willig branchenübergreifende Allianzen, etwa wenn ein Energieunternehmen einen Anbieter von Ladesäulen für E-Autos übernimmt. Solche Kollaborationen können das Tempo von Innovationen hierzulande erhöhen. Eine wichtige Voraussetzung für den Sprung zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit.