Lieferketten
„Entkopplung der Wirtschaft? Ein Albtraum“
Mehr Risikobereitschaft, mehr Pragmatismus und weniger Rosinenpickerei: Das wünscht sich Professorin Lisandra Flach, Leiterin des ifo Zentrums für Außenwirtschaft, von deutschen Unternehmen. Im Interview spricht sie außerdem über Deglobalisierung, störende Bürokratie und neue Wege in der Handelspolitik.
Lisandra Flach
Die Coronapandemie, ein quer stehendes Containerschiff, der Ukraine-Krieg: Globale Lieferketten sind zu einem spannenden Problemthema geworden. Wie kommen Produkte in einer zerrütteten Weltlage eigentlich künftig von A nach B? Laut Ihrer ifo-Umfrage haben 87 Prozent der Unternehmen in Deutschland ihre Beschaffungsstrategie geändert. Da stellt sich die Frage: Steht das Ende der Globalisierung bevor?
Lisandra Flach: Auf der einen Seite erleben wir gerade alle eine sehr besondere Situation: Die Störungen der letzten Jahre hatten wir wahrscheinlich zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Von einer Deglobalisierung kann meiner Meinung nach trotzdem nicht die Rede sein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In der Welt wird heute wieder mehr gehandelt als vor der Pandemie. Worin Sie aber recht haben: Wir erleben natürlich wichtige Veränderungen, die die Zukunft der Globalisierung prägen werden. Wir beobachten zum Beispiel Veränderungen in der Beschaffungsstrategie von Unternehmen, die ganz neue Risiken stärker berücksichtigen und einpreisen müssen. Das heißt, und wir sehen das auch in unseren Daten: Es gibt tatsächlich einen Trend Richtung Regionalisierung der Lieferketten. Unternehmen werden sich also künftig tatsächlich stärker diversifizieren und Abhängigkeiten verringern. Aber das bedeutet eben noch lange nicht Deglobalisierung. Für die deutsche Wirtschaft wäre so eine Entkopplung jedenfalls ein Albtraum, ein sehr kostspieliger Albtraum. Man sieht ja, wie es dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit ergangen ist: Während sich jetzt die EU nach der Coronapandemie schneller erholt, ist das Vereinigte Königreich wegen des Brexit im Bereich Außenhandel immer noch unter dem Vorkrisenniveau.
Können sie ein Beispiel für Diversifizierung in Deutschland nennen?
Flach: Unternehmen, die zum Beispiel früher Güter oder Vorleistungen aus China importiert haben, suchen heute vermehrt weitere Zulieferer in anderen Weltregionen. Die Hälfte der von uns befragten Firmen, die stark auf Vorleistungen aus China angewiesen sind, hat angegeben, dass sie Importe aus China reduzieren will. Und vier von fünf dieser Unternehmen möchten vermehrt Güter aus anderen EU-Mitgliedstaaten beziehen. Regionalisierung spielt also eine wichtige Rolle. [dub-article-box id="63e3c37e09560"]
Welche Folgen hat das noch?
Flach: Ich würde sagen, dass wir die Zunahme einer neuen Art von Globalisierung erleben – nämlich den enormen Anstieg der Bedeutung von Dienstleistungshandel, zum Beispiel Finanzdienstleistungen. Oder: Ich kann jetzt bei mir zu Hause eine Vorlesung in Harvard hören. Oder ich kann ein Unternehmen in Indien beauftragen, mir eine Software zu entwickeln. Das ist zwar auch Globalisierung, aber eben eine andere Art – weg vom Güter-, hin zum Dienstleistungshandel. Das wird ein Megatrend im Bereich Außenhandel, getrieben von Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung.
Sie haben die Reduzierung von Abhängigkeiten und einen stärkeren Dienstleistungshandel als Zukunftstrends genannt. Welche sehen Sie noch?
Flach: Dynamisches statt reaktives Handeln. Und Investition in Technologie. Daran führt kein Weg vorbei. Das heißt: Wir müssen Abhängigkeiten identifizieren und uns genau überlegen, was wir tun wollen. Und wir müssen vor allem einseitige Abhängigkeiten identifizieren und sie reduzieren, um die Lieferketten resilienter zu gestalten.
Ein Beispiel: Sollen wir Gesichtsmasken in Deutschland herstellen, weil sie gerade gebraucht werden – oder ist das zu reaktiv? Ich denke: Die Zukunft liegt eher in der Dynamik. Deutschland muss Felder identifizieren, die morgen für einen hohen Anteil in der Wertschöpfung sorgen können. Und dort investieren wir dann in Technologie und auch in Forschung. Nur so werden wir 2030 bei den Schlüsseltechnologien ganz vorn dabei sein. Und ich nenne gern noch mal die Digitalisierung, auch wenn das abgedroschen klingt. Aber auf diesem Gebiet ist Deutschland tatsächlich immer noch Entwicklungsland. Für uns als Wissenschaftler ist das manchmal sehr beunruhigend.
Inwiefern?
Flach: Ein Beispiel: Wir arbeiten ja besonders mit Daten und bekommen sie auch aus vielen Ländern. Es gibt Daten für die USA, für Frankreich, für südamerikanische Länder. Aber für Deutschland bekommen wir diese Daten nicht. Weil es hier alles sehr bürokratisch abläuft, wenn man sie einholen will. Wir brauchen aber Daten, um die Politik besser beraten zu können.
Wie sehen Sie die Aufgabe der Politik?
Flach: Die Frage ist doch: Welche Art von Handelspolitik wollen wir in Zukunft? Handelsabkommen und strategische Partnerschaften spielen eine sehr wichtige Rolle, um Kosten zu reduzieren und um Unternehmen zu unterstützen, die ihre Lieferkette stärker diversifizieren wollen. Hier spielen politische Rahmenbedingungen eine sehr wichtige Rolle. Und es geht ja nicht nur um Handelspolitik, sondern auch um Abbau von Bürokratie, damit wir schneller zu Entscheidungen kommen, und um Aufbau von Infrastruktur, um Digitalisierung. Die große Frage ist, was die Politik in Zukunft tatsächlich umsetzen kann. Sie sollte auf jeden Fall Anreize setzen.
Damit wir nicht für immer abhängig von China bleiben?
Flach: Wir müssen uns fragen: Welche Art von Handelspolitik wollen wir 2030 haben? China hat zum Beispiel 2021 mit der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) das größte Freihandelsabkommen der Welt geschlossen – das betrifft ein Drittel der Weltbevölkerung und des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Wir sind aktuell zu so etwas nicht in der Lage. Da müssen wir uns schon mal selbst fragen: Wollen wir jetzt Normen und Standards setzen – oder warten, bis sie andere Länder setzen? Hier sollten wir strategischer denken und handeln.
China hat auch für südamerikanische und für afrikanische Länder extrem an Bedeutung gewonnen. Diese Länder sind teilweise deutlich abhängiger vom chinesischen Markt geworden. Und deswegen ist es auch wichtig, dass wir nicht vergessen, dass Handelsbeziehungen mit anderen Weltregionen als China und der EU sehr wichtig sind.
Wie groß ist die deutsche Abhängigkeit von China?
Flach: Zunächst mal, und das ist wichtig zu wissen: Die Hauptverflechtung der deutschen Wirtschaft besteht mit der EU. Fast die Hälfte der Vorleistungen für die finale Produktion in Deutschland wird aus anderen EU-Mitgliedstaaten bezogen. Wir haben andererseits eine Studie über Rohstoffe geschrieben, die Deutschland für die Produktion von Schlüsseltechnologien braucht – und dabei neun kritische Rohstoffe identifiziert, bei denen eine sehr hohe Abhängigkeit von wenigen Zulieferern herrscht. Und bei sieben dieser neun Rohstoffe ist China einer der fünf Top-Zulieferer.
Eine Entkoppelung von China wäre also für die deutsche Wirtschaft ein schwerer Schlag. Wir beobachten jetzt aber, dass etwa die Hälfte der Unternehmen, die stark auf chinesische Vorleistungen angewiesen sind, sagt: Ja, wir wollen diese Importe aus China reduzieren. Und da spielt eben die Politik tatsächlich eine wichtige Rolle. Wie können wir Unternehmen dabei unterstützen, weitere Märkte einzuschließen?
Brauchen wir, um neue Wege zu finden, vielleicht auch mehr mutige Persönlichkeiten, mehr Elon Musks in Deutschland? Also Menschen, die disruptiv sind und die sagen: Ich packe jetzt an und lege los?
Flach: Ja, wir brauchen vielleicht mehr Unternehmergeist in Deutschland. Mehr Pragmatismus und weniger Rosinenpickerei. Deshalb ist ja die Start-up-Szene für die Zukunft der deutschen Wirtschaft so wichtig. In der Grundlagenforschung ist Deutschland schon vorne dabei. Aber wenn es um Produktion oder Umwandlung von Forschung auf Produkte geht, fehlt häufig der Investitions- und Unternehmergeist. Und es fehlt an der Bereitschaft, Risiken einzugehen.
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