War for Talents

Neue Fachkräftestrategie: Ein Mittel gegen den Personalmangel?

Der Fachkräftemangel entwickelt sich zu einem immer größeren Problem und gefährdet die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. Mit einer neuen Fachkräftestrategie will die Bundesregierung dem entgegenwirken. Im Fokus stehen unter anderem der Ausbau von Weiterbildungsangeboten sowie der Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte. Doch Unternehmen haben auch selbst in der Hand, wie erfolgreich sie beim Recruiting sind. Um aus der Masse der nach Mitarbeitenden suchenden Firmen hervorzustechen, helfen vor allem unkonventionelle Maßnahmen.

19.10.2022

Sind Sie gerade auf der Suche nach passenden Mitarbeitenden? Damit sind Sie nicht allein. Fachkräfte zu finden wird in vielen Branchen komplizierter: Weltweit trifft der Fachkräftemangel laut einer Studie des Personaldienstleisters ManpowerGroup inzwischen 75 Prozent der Unternehmen – 2010 waren es lediglich 31 Prozent.

In Deutschland berichten Unternehmen jeder Größe von Schwierigkeiten bei der Suche nach Personal. Am stärksten betroffen sind jedoch kleine Firmen mit 10 bis 49 Mitarbeitenden: Hier gibt fast jedes dritte Unternehmen an, Schwierigkeiten beim Finden geeigneten Personals zu haben. Als meistgesuchte Berufsbilder im Jahr 2022 wurden von der ManpowerGroup unter anderem Expertinnnen und Experten für IT und Datenverarbeitung, Human Resources, Logistik, Vertrieb und Produktion identifiziert.

Neue Fachkräftestrategie des Bundes soll Abhilfe schaffen

Doch: „Nur mit einer guten Basis an qualifizierten Fachkräften kann die Wirtschaft flexibel auf neue Herausforderungen und vorausschauend auf absehbare Veränderungen am Arbeitsmarkt reagieren“, sagt Gerrit Külper, Director People and Employee Relations Central Europe beim Softwareanbieter Sage.

Mit einer neuen Fachkräftestrategie will die Bundesregierung nun dem allgemeinen Trend entgegenwirken. „Fachkräftesicherung ist Wohlstandssicherung“, sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). „Wir brauchen jeden klugen Kopf und jede helfende Hand, um wirtschaftlich stark zu bleiben. Denn wir können unser Land nur mit ausreichend gut qualifizierten Fachkräften moderner, digitaler und nachhaltiger gestalten.“

Im Fokus der Fachkräftestrategie stehen fünf Handlungsfelder:

  • eine zeitgemäße Gestaltung der Ausbildung sowie eine frühzeitigere Berufsorientierung für alle Schülerinnen und Schüler
  • gezielte Weiterbildung, um Beschäftigte für künftige neue Tätigkeitsbereiche zu ermächtigen
  • die Erwerbsbeteiligung von Frauen erhöhen – etwa durch mehr Angebote zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung und den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung
  • den Wandel hin zu einer mitarbeiterorientierten Arbeitskultur sowie den Übergang in den Ruhestand flexibler gestalten
  • die Einwanderungspolitik modernisieren und entbürokratisieren

Fachkräftesuche im Ausland erleichtern

Die Erkenntnis, dass Mitarbeitende im Ausland zu rekrutieren könnte helfen, den Fachkräftemangel abzufedern, ist nicht neu. Bereits vor zehn Jahren wurde daher EU-weit die Blue Card eingeführt, mit der sich Personen aus Drittstaaten zum Zweck der Erwerbstätigkeit legal in der EU aufhalten können.

Der deutsche Mittelstand zeigt sich davon allerdings ernüchtert. Ende 2021 arbeiteten lediglich 70.000 Fachkräfte mit der Blue Card in Deutschland. Markus Jerger, Vorsitzender des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW), spricht von einem „Flop“: „Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist es immer noch mehr als umständlich, Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen.“

Der BVMW fordert daher, die Einwanderung aus Drittstaaten weiter zu vereinfachen. Zudem müsse die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufs- und Studienabschlüssen erleichtert werden. „Das deutsche duale Ausbildungssystem ist international einzigartig – was gut und wichtig ist. Aber in diesem Fall ist es den ausländischen Bewerbenden teilweise unmöglich, einen gleichwertigen Abschluss vorzulegen“, so Jerger. Das mache eine Einwanderung nach Deutschland für viele Arbeitskräfte uninteressant.

Hürden für Einwanderung sind zu hoch

Für die Blue Card sind außerdem ein Hochschulabschluss und ein Bruttojahresgehalt von 56.400 Euro Voraussetzung. Doch es würden nicht nur hoch spezialisierte Fachkräfte, sondern auch weitere Arbeitskräfte benötigt, betont Jerger: „Für kleine und mittlere Unternehmen, die auch einfache Arbeitsbereiche besetzen wollen, ist das nicht zu bezahlen. Dieses Gehaltsniveau hilft zudem auch nicht, Stellen im Dienstleistungsgewerbe oder im Handwerk zu besetzen.“

Mit Blick auf die Digitalwirtschaft, wo der Fachkräftemangel schon länger sehr sichtbar ist, fordert Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder: „Es sollte auf eine behördliche Prüfung der Qualifikation von IT-Fachkräften aus dem Nicht-EU-Ausland ohne formalen Abschluss, aber mit ausgeprägter praktischer Erfahrung verzichtet werden. Ein Befähigungsnachweis des künftigen Arbeitgebers sollte für die Erteilung eines Visums ausreichen. Zudem spielt die deutsche Sprache in der Digitalbranche eine untergeordnete Rolle; die Forderung von Deutschkenntnissen für IT-Fachleute ist für den Zeitpunkt der Zuwanderung verzichtbar.“

Angespannter Ausbildungsmarkt

Die duale Berufsausbildung ist auch in der neuen Fachkräftestrategie von zentraler Bedeutung. Aber: Auch Fachkräfte selbst auszubilden wird immer schwieriger. Ende Juli – und damit kurz vor Beginn des Ausbildungsjahres – verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit pro 100 gemeldete Ausbildungsplätze lediglich 77 Bewerbende. Im Vorjahr waren es zum gleichen Zeitpunkt noch 83.

2021 konnten laut Ausbildungsumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) 41  Prozent der Betriebe nicht mehr alle Ausbildungsplätze besetzen; 2018 galt das noch für 32 Prozent. Die Zahl der Betriebe, die keine einzige Bewerbung erhalten haben, lag bei 36 Prozent.

Einen Grund sieht der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks in den coronabedingten Einschränkungen der letzten Jahre, durch die Berufsorientierung und Ausbildungsplatzsuche erschwert wurden. Viele Firmen haben allerdings auch bei sich Handlungsbedarf identifiziert: Drei Viertel der befragten Betriebe wollen ihre Angebote zur beruflichen Orientierung ausbauen, etwa durch mehr Schülerpraktika, Veranstaltungen und digitale Informationsangebote.

Aus- und Weiterbildungsprogramme kontinuierlich anpassen

Rohleder sieht darüber hinaus aber auch Nachbesserungsbedarf bei der Ausbildung selbst und steckt dahingehend Hoffnung in die neue Fachkräftestrategie: „Mit Blick auf die rasanten Entwicklungen in der Digitalbranche ist es der richtige Ansatz, die Aus- und Fortbildungsordnungen in der dualen Berufsausbildung laufend zu modernisieren. Wir können uns in der digitalen Welt keine jahre- oder jahrzehntealten Berufsbilder und Ausbildungspläne mehr leisten; sie müssen die Anforderungen der digitalen Transformation jeweils aktuell widerspiegeln.“

Das, so betont der Bitkom-Chef explizit, gelte auch für die Weiterbildung: „Eine Erleichterung und systematische Stärkung des Quereinstiegs in die Digitalwirtschaft ist zur Bekämpfung des Fachkräftemangels dringend notwendig. Dazu gehört zum Beispiel die stärkere Förderung von praxisnahen Coding-Schools und Bootcamp-Kursen“, so Rohleder. „Geplante Maßnahmen wie der Aufbau einer Nationalen Weiterbildungsplattform können hilfreich sein, wenn sie den bereits bestehenden Flickenteppich an Weiterbildungsangeboten zusammenweben und nicht weiter vergrößern.“

Zurück zum Ex-Chef?

Unabhängig von den Vorhaben der Bundesregierung, sorgt die zunehmend schwieriger werdende Suche nach geeigneten Fachkräften auch dafür, dass Recruiting-Strategien überdacht und teils ungewöhnliche Wege gegangen werden. So wird beispielsweise das sogenannte Boomerang-Hiring attraktiv. Gemeint ist das erneute Einstellen ehemaliger Mitarbeitenden.

Die Bereitschaft dafür auf Arbeitnehmerseite ist durchaus gegeben: Mehr als ein Drittel kann sich laut einer Umfrage des Jobportals Indeed vorstellen, an den alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Menschen unter 35 Jahren sind für diesen Schritt eher offen als ältere Beschäftigte.

„Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können etwa über soziale Netzwerke oder Alumni-Programme mit ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Kontakt bleiben und sich ab und an erkundigen, ob diese offen für eine Rückkehr wären“, sagt Annina Hering, Hiring-Lab-Ökonomin bei Indeed. „Der alte Arbeitgeber steht für bekannte Routinen und ein gewohntes Arbeitsumfeld, was ausschlaggebend bei der Jobauswahl sein kann.“ Als wichtigste Argumente für einen Wiedereinstieg beim ehemaligen Arbeitgeber werden ein höheres Gehalt, aber auch zusätzliche Benefits genannt.

Aktiv suchen statt abwarten

Dass sich zunehmend nicht nur Bewerberinnen und Bewerber um die besten Jobs bemühen müssen, sondern auch Unternehmen um die besten Mitarbeitenden, zeigt sich im Reverse Recruiting. Dabei bewirbt sich eine Firma beispielsweise mit einem Unternehmenslebenslauf bei potenziellen Angestellten. „Reverse Recruiting eignet sich besonders gut für sogenannte passive Talente, die sich in den seltensten Fällen aktiv auf Stellen bewerben“, sagt Julian von Blücher, Gründer der Personalberatung Talent Tree.

Reverse Recruiting soll auch dabei helfen, späte Absagen und damit hohe Kosten im Bewerbungsprozess zu vermeiden. Im Fokus sollten dabei aber immer die Bedürfnisse der Kandidaten und Kandidatinnen stehen. „Unternehmen müssen nicht alle davon erfüllen. Aber es bietet sich an, auf wichtige und auf erfüllbare einzugehen, um die Kandidatinnen und Kandidaten für sich zu gewinnen“, so von Blücher.

Auf freie Mitarbeitende setzen

Und offen gesagt: Manchmal ist das beste Recruiting gar keines – jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Denn Unternehmen, die vor allem auf der Suche nach Digitalexpertinnen und -experten sind, stehen in der Regel vor einer zentralen Herausforderung: „Für die meisten digitalen Talente gilt, dass sie nicht frei verfügbar, sondern in bestehenden Arbeitsverhältnissen sind und stark umworben werden“, sagt Niels Haußmann von der Beratung Digilents. Und genau in diesem Fall können Freiberuflerinnen und Freiberufler helfen, Fachkräftelücken zu schließen.

„Durch die Zusammenarbeit mit Freelancerinnen und Freelancern erhalten Unternehmen oft innerhalb weniger Tage die benötigte Unterstützung. Anstatt einen monatelangen Recruiting-Prozess für Vollzeitstellen zu durchlaufen, können sie einfach digitale Marktplätze nach den gesuchten Fähigkeiten durchforsten“, so Dirk Henke, General Manager Deutschland beim Freelancing-Marktplatz Malt.

Er ist überzeugt, dass sich Festangestellte sowie Freiberuflerinnen und Freiberufler optimal ergänzen können: „Man sollte Mitarbeitenden darlegen, welche Chancen in der Zusammenarbeit mit Freiberuflern für das Unternehmen, aber auch für jede und jeden Einzelnen liegen. Denn der Austausch mit erfahrenen Expertinnen und Experten bildet weiter, schafft neue Ideen und dient letztlich dem Projekterfolg.“