Tabletten liegen nebeneinander und zeigen einen DNA-Streifen
09.12.2021    Miriam Rönnau
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Primäre Prävention – das klingt zwar etwas holprig, trifft aber den Kern dessen, was die Gesundheitsversorgung in Zukunft aus­zeichnen wird. Denn wenn die Versorgung individuell auf jede einzelne Person zugeschnitten wird und so Erkrankungen verhindert werden, bevor sie überhaupt entstehen, dann profitieren alle – der einzelne Mensch und das Gesundheitssystem als Ganzes. Denn wer nicht krank wird, verursacht auch keine Kosten. 

Warum die Prävention das Zukunftsthema der Medizin ist und wieso es bei Longevity nicht nur um ein langes, sondern vor allem um ein lebenswertes Leben geht, diskutieren Ulrich Leitermann von der SIGNAL IDUNA und der Mediziner Professor Dietrich Grönemeyer.

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Porträt von Ulrich Leitermann

Ulrich Leitermann

ist seit Juli 2013 Vor­sitzender der Vorstände der SIGNAL IDUNA

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Porträt von Dietrich Grönemeyer

Dietrich Grönemeyer

ist praktizierender Arzt und emeritierter Professor für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke

US-Studien sagen sogar, dass Menschen theoretisch 1.000 Jahre alt werden könnten. Ist das Größenwahn oder tatsächlich irgendwann denkbar?

Dietrich Grönemeyer: Ich kenne eine Vielzahl von Studien, die wissenschaftlich fundiert darlegen, dass Mädchen, die heute geboren werden, erwartungsvoll auf ein hundertjähriges Leben blicken können. Das heißt: Aufgrund des heutigen Wohlstands und des Forschungsstands der Medizin wäre es zwar möglich, sehr alt zu werden. Aber auf der anderen Seite gibt es am und im menschlichen Körper auch viele Zerfallsprozesse, gegen die wir noch keine Mittel gefunden haben. Was nützt also ein Leben, das hundert oder gar tausend Jahre dauert, aber nicht lebenswert ist?

Sehen Sie Möglichkeiten, den Degenerationsprozess irgendwann aufzuhalten oder zu verlangsamen?

Grönemeyer: Wenn wir frühzeitig die Gesundheitsdaten von Patientinnen und Patienten erhalten und diese auch ganzheitlich analysieren, also eine Prävention individuell auf den Menschen zuschneiden, dann können wir eine ganz andere Form von Medizin realisieren. Und die könnte es Neugeborenen schon heute ermöglichen, mehr als 120 oder 130 Jahre alt zu werden. Die Versicherungsbranche ist mit Blick auf den Datenaustausch schon gut aufgestellt und hat bereits Möglichkeiten, gewisse Vorhersagen zu treffen

Wie kann die Versicherungsbranche individuelle Präventionsmaßnahmen ermöglichen?

Ulrich Leitermann: Mithilfe von Künstlicher Intelligenz und der Auswertung individueller Daten können wir schon heute ziemlich genau sagen, wie viele unserer Versicherungsnehmerinnen und -nehmer im kommenden Jahr an Diabetes erkranken werden. Dafür analysieren wir zum Beispiel die Symptome der Krankheit und unter welchen Bedingungen diese in Erscheinung treten. Dann könnten wir individuell auf den jeweiligen Patieten schauen und prüfen, ob dieser prädestiniert ist, an Diabetes zu erkranken. Als Krankenversicherer hätten wir die dafür notwendigen Daten, weil bei uns alle Arztrechnungen eingereicht werden. Die primäre Prävention bekommt so einen völlig anderen Stellenwert, weil wir nicht mehr allen Patienten Prävention anbieten müssen, sondern ganz gezielt vorgehen könnten. Und das gilt natürlich nicht nur bei Diabetes, sondern auch bei anderen Krankheitsbildern wie etwa Schlaganfall.

Grönemeyer: Ich denke, dass die Prävention eines der Zukunftsthemen in der Medizin sein wird. Das gilt für die primäre Prävention, die Krankheiten verhindert, bevor sie eintreten. Und das gilt auch für die sekundäre Prävention, die wiederkehrende Erkrankungen verhindern soll. Doch vorab müssen wir unseren Datenschutz entsprechend anpassen.

Der Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky sagte dazu einmal: „Die häufigste Todesursache in Deutschland heißt Datenschutz.“ Stimmen Sie dem zu?

Grönemeyer: Einerseits plädieren wir für Datenschutz, andererseits teilen wir über Fitnesstracker,  Smartwatches, Alexa, Siri und Co. permanent sensi­ble Infos mit Tech-Giganten in den USA. Das macht so keinen Sinn; das müssen wir ändern. Nehmen Sie die Coronapandemie als Beispiel: Die Diskussion sollte sich nicht darum drehen, den Datenschutz komplett aufzuheben, um Infos über das Virus zu sammeln. Auch dürften Datenschutz-Richtlinien in Krisensituationen nicht starr angewandt werden. Patienten sollten zur digitalen Erfassung von aktuellen Symptomen und Vorerkrankungen wie einer Herzmuskelentzündung vor und nach Tests oder einer Impfung ihre Daten freigeben dürfen. Als Arzt sowie wissenschaftlich wäre es dringender denn je wichtig zu erfahren, wie sich Viren verhalten, um konkrete Maßnahmen abzuleiten. So eine Freigabe funktioniert über die Krankenkasse bereits sehr gut, doch die Gesetze hinken hinterher. 

Leitermann: Ein anderes Verständnis von Datenschutz wäre hierzulande wünschenswert. In anderen europäischen Ländern wird die Datenschutz-Grundverordnung ganz offensichtlich auch anders ausgelegt. Aus der Perspektive eines bundesweiten Versicherers ist es aktuell so, dass wir 16 Datenschutzbeauftragte in den Ländern haben. Das sind Hemmnisse.

Gehen wir mal davon aus, der Datenschutz wird den technischen Möglichkeiten in der Medizin angepasst. Was wäre dann möglich?

Leitermann: Wenn wir sehen, wie viele Leute Smartwatches tragen und welche Daten des täglichen Lebens aufgenommen und theoretisch ganzheitlich analysiert werden könnten, wäre schon jetzt einiges möglich. Aufgrund der Daten könnte man Menschen genau sagen: „Mit Ihrem Verhalten, Ihren Essgewohnheiten und Ihrem Lebenswandel würden wir empfehlen, sich mehr zu bewegen, die Ernährung auf eine bestimmte Art und Weise umzustellen, damit diese oder jene Symptome nicht herbeigeführt werden.“ So könnten wir etwa noch mehr Schlaganfälle oder Herzinfarkte vermeiden.

Also im Grunde wären wir damit wieder beim Thema individuelle Medizin.

Leitermann: Genau. Und damit einher gingen natürlich auch Veränderungen in der Versicherung. Die Tarife, die angeboten werden, würden dann stärker auf Prävention abgestimmt sein können. Statt ein riesiges Leistungsvolumen zu umfassen, wären sie spitz auf bestimmte Krankheitsbilder zugeschnitten. Das würde auch Kosten reduzieren.

Doch wenn Menschen aufgrund der Prävention gesünder und somit länger leben könnten, würde das nicht am Ende wieder zu mehr Kosten führen?

Leitermann: Wenn der Mensch tatsächlich 200 Jahre alt werden kann, dann müssen wir auch seine Produktionskraft entsprechend anpassen. Es wird logischerweise nicht möglich sein, mit 67 Jahren in Rente zu gehen und dann noch 133 Jahre zu leben. 

Grönemeyer: Mich hat mal ein 59-Jähriger gefragt, ob er bei mir arbeiten kann, weil er in einem Konzern ausrangiert wurde. Heute ist er 80 Jahre alt, der beste Controller, den ich je hatte – und er läuft meines Wissens nach sogar noch Marathon. Menschen sind sehr unterschiedlich. Und es ist schon heute in der Medizin vieles machbar. Nur die Rahmenbedingungen stimmen noch nicht ganz.

09.12.2021    Miriam Rönnau
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