Viva con Agua de Sankt Pauli

Mehr Bewusstsein für den Wert von Wasser schaffen

Viele Menschen, vor allem auf der Südhalbkugel, haben keinen direkten Zugang zu sauberem Wasser. Diesen für möglichst viele zu gewährleisten, hat sich der Hamburger Verein Viva con Agua de Sankt Pauli zum Ziel gesetzt. Carolin Stüdemann, geschäftsführende Vorständin, erklärt, worauf es dabei ankommt.

30.05.2023

Viva con Agua de Sankt Pauli setzt sich seit 2006 für den Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle Menschen ein. Mit Spendengeldern sowie Einnahmen aus dem Verkauf von Viva-con-Agua-Mineralwasser und Goldeimer-Toilettenpapier, einem Gasthausbetrieb oder Kunstprojekten unterstützt der Verein Wasserprojekte vor allem im globalen Süden.

Allein 2021 konnte die Organisation knapp 3,1 Millionen Euro in die Projektarbeit stecken – und seit 2006 die Lebensbedingungen von rund 3,8 Millionen Menschen durch den Zugang zu sauberem Wasser verbessern.

Carolin Stüdemann, geschäftsführende Vorständin, spricht über die Projekte von Viva con Agua und erklärt, warum Technologie nicht immer ein Allheilmittel sein muss.

Carolin Stüdemann

ist seit 2018 geschäftsführende Vorständin von Viva con Agua. Zuvor leitete sie eine Jugendhilfeeinrichtung und war als Unternehmensberaterin tätig

Wir hier in Europa haben Wasser immer für eine Selbstverständlichkeit gehalten. Denn es kommt ja aus dem Wasserhahn, wann immer wir das wollen. Warum sollten wir eigentlich auf ein Problem zusteuern?

Carolin Stüdemann: Man überschätzt das manchmal. Unser Planet ist zwar zu über zwei Dritteln mit Wasser bedeckt, aber nur drei Prozent sind Süßwasser. Davon steckt ein Großteil in Gletschern, ist als Trinkwasser also auch nicht verfügbar. Nur 0,3 Prozent der gesamten Wasserreserven sind frei zugänglich und trinkbar. Das ist ein richtig kleiner Anteil und doch ist es die Grundlage unseres ganzen Lebens.

Dabei brauchen wir viel Wasser.

Stüdemann: Ja, unglaublich viel, vor allem in den Industrienationen. Wir verwenden es ja in allen Bereichen des Lebens, also nicht nur zum Trinken, sondern zur Produktion von Nahrungsmitteln, Kleidung, technischen Geräten und Strom. Das heißt: Der Fußabdruck jedes Einzelnen ist unglaublich groß. Das ist eine besondere Herausforderung unserer Arbeit: den Menschen bewusst zu machen, welchen Wert Wasser hat und wie man damit am besten umgeht.

Das klingt erstmal positiv.

Stüdemann: Genau. Wir wollen laut sein und die positiven, freudvollen Aspekte, die Wasser mit sich bringt, besetzen und Lösungsansätze präsentieren, wie die Welt von morgen aussehen kann. Oft heißt es: „Die Kriege der Zukunft werden mit Zugang zu Wasser zu tun haben.“ Oder: „Es wird immer mehr Dürren geben.“ Wir wollen aber keine Schuldgefühle erzeugen oder polarisieren. Wir plädieren für einen bewussteren Umgang mit Wasser, für mehr Informationen über diese Ressource, die für uns immer so selbstverständlich erscheint. Wir wünschen uns, dass jeder dazulernt und einzelne, kleine Schritte nach vorn macht. Und es gibt Positives zu berichten: Zum Beispiel haben heute über 500 Millionen Menschen mehr Zugang zu sauberem Trinkwasser als noch vor knapp 20 Jahren.

Aber wir können das Interview an dieser Stelle vermutlich nicht abbrechen mit den abschließenden Worten: 2030 ist in Sachen Wasser alles gut – nächstes Thema!

Stüdemann: Leider nein. Das Thema ist dringlicher denn je, weil es weitere Faktoren gibt, die die Verfügbarkeit von Wasser beeinflussen. Die klimatischen Veränderungen führen beispielsweise dazu, dass Extremereignisse wie Dürren oder Starkregen auftreten, die den Wasserhaushalt durcheinanderbringen.

Apropos Klima. Wir leben in einer Zeit, in der der Klimawandel eines der beherrschenden Themen ist. Glauben Sie, dass das Thema Wasser 2030 ähnlich wichtig sein wird wie heute der Klimawandel?

Stüdemann: Wasser und Klima – das geht eigentlich Hand in Hand. Die klimatischen Veränderungen haben einen direkten Einfluss auf die Wasserversorgung. Und andersherum genauso. Gerade global gesehen ist die Wasserthematik also heute schon genauso wichtig wie die Klimaveränderungen.

Wie gehen sie als NGO das Thema an?

Stüdemann: Wir bauen auf ehrenamtliche Netzwerke und zwischenmenschliche Beziehungen. Wir wollen zum Beispiel die Menschen ermutigen, Wasser viel mehr wertzuschätzen. Wenn Kinder und Jugendliche über unsere Aktionen spielerisch lernen, damit umzugehen, also mit diesem Wissen aufwachsen, sind sie später auch bereit, Wasser zu schützen und sich dafür einzusetzen. Darüber hinaus versuchen wir, über Businessmodelle auch die Wirtschaft zu transformieren. Wir nennen das Social Business und haben weltweit viele Projekte gestartet, zum Beispiel hierzulande die „Millerntor Gallery“ oder unsere Gasthäuser, in denen die Vision auf verschiedenen Ebenen transportiert wird und in denen jede Übernachtung Gelder generiert.

Geld, das sie zum Beispiel für Wasserprojekte in Ländern benötigen, wo Wassermangel längst Thema Nummer eins ist.

Stüdemann: Ja, die Situation in Deutschland ist nicht vergleichbar mit der in vielen Regionen auf der Welt, wo es gar keinen Zugang zu Wasser gibt, wo die Lebensgrundlage von Menschen gefährdet ist. Ein Beispiel: Die weltweite Zahl der Todesfälle, die mit Durchfallerkrankungen zu tun haben – sehr häufig durch verunreinigtes Wasser hervorgerufen –, ist fünfmal so hoch wie die, die mit allen kriegerischen Auseinandersetzungen auf der Welt zu tun hat. Hier setzen wir an.

Auf der einen Seite setzen Sie sich mit Viva con Agua und vielen Aktionen weltweit dafür ein, Menschen Zugang zu Wasser zu ermöglichen. Auf der anderen Seite gibt es da die globalen Probleme, die zu Wassermangel führen: etwa Klimaänderung, Industrialisierung, Landwirtschaft. Wo setzt man da an?

Stüdemann: Es gibt drei verschiedene Ebenen. Zum einen: systempolitisch auf Veränderungen hinwirken. Dann unternehmerisch. Dann auf Individualebene. Hier sind wir eher unterwegs, denn auch in der Politik und in Unternehmen arbeiten ja am Ende Individuen, die Entscheidungen treffen. Wenn wir es schaffen, diese zu erreichen und sie zu bewegen, den Sinn unserer Arbeit zu erkennen, ist die Tragweite viel größer. Das sehen dann auch Politikerinnen und Politiker und sagen sich: Ach, das scheint ja ein großes Thema zu sein, also nehme ich das mit in meinen Wahlkampf.

Funktioniert das denn?

Stüdemann: Natürlich führt es manchmal auch zu Wut und Frust, wenn wir beobachten, dass manche Menschen oder Unternehmen diese Notwendigkeit nicht sehen oder sehr konservativ agieren und es gar keinen Common Ground gibt.

Wagen Sie doch einen Ausblick auf 2030 aus dieser Sicht.

Stüdemann: Meine Prognose: Ich glaube, dass die Polarisierung bei Wasser stark zunehmen wird. Einerseits von Bewegungen, die sagen: Der Klimawandel wird stärker, die Herausforderungen werden größer, wir müssen sofort alles radikal ändern. Und auf der anderen Seite die passive Einstellung: Wir können doch gar nicht mehr machen, wir tun doch ganz viel, irgendwo ist aber auch mal gut.

Und dazwischen sehen Sie sich und die Lösung?

Stüdemann: Es ist eben nicht alles schwarz oder weiß. Wir wollen Handlungsräume finden. Inspirieren. Aufklären. Oder mit Kindern reden; da funktioniert viel über Sport, Spiel, Musik und Kunst. Wir denken so: Lasst uns aktiv bleiben und das Thema immer wieder in den Diskurs rücken. Vielleicht erreichen wir auf unseren Wegen so ein paar Firmenchefinnen und -chefs, die dann sagen: Ich will in meinem Unternehmen auch etwas tun.

Gehen Sie in diese Unternehmen oder in die Politik?

Stüdemann: Ja, wir sind oft im Austausch mit Firmen, die sich sagen: Da scheint etwas zu sein, was wir noch gar nicht richtig verstehen, und wir wollen dazulernen. Die also etwas tun wollen. Benny Adrion, Gründer von Viva con Agua, und ich werden zum Beispiel oft eingeladen, Keynotes zu halten. Manchmal führen wir auch Gespräche auf politischer Ebene. Vor allem auf lokaler Ebene in unseren Projektgebieten. Wir wollen nicht, dass unsere Projekte nur funktionieren, solange dafür bezahlt wird. Unsere Projekte sind immer nachhaltig angelegt, weshalb wir auch die Entscheidungsträgerinnen und -träger einbeziehen wollen und viele Schulungen für die Menschen vor Ort anbieten.

Beamen wir uns doch jetzt noch einmal ins Jahr 2030. Das Thema Wasser steht an einem guten Punkt, weil...

Stüdemann: ...zum Beispiel ein System eingeführt worden ist, das dem Nutriscore bei Lebensmitteln ähnelt, eine Wasserampel also. Firmen und Institutionen müssen dann ihren Wasser-Footprint messen und öffentlich machen. Produktionen, die Wasser verschmutzen, müssten also tracken, wie viel Wasser betroffen ist, und dieser Wert wird dann jährlich erhoben wie der CO2-Fußabdruck. Da würden heute gerade in Industrienationen erstaunliche Werte herauskommen, weil oft Wasser über Logistik und Produktion verschwendet wird. Maßgabe muss sein, dass Firmen in Techniken investieren, die ihnen helfen, diesen Wert zu reduzieren. Zusätzlich erfahren so auch die Verbraucher, wie groß ihr eigener Fußabdruck ist, und können sich so selbst überprüfen.

Geben Sie doch mal ein Beispiel.

Stüdemann: Auf einer Kaffeeverpackung würde dann stehen: Der Kaffee, den Sie gerade trinken, verbraucht 120 Liter Wasser.

120 Liter für eine Tasse Kaffee?

Stüdemann: Ja, in etwa, Kaffeebohnen müssen immer wieder ausgewaschen werden. Schon die Bewässerung ist sehr intensiv. Aber das ist nur ein Beispiel. Bei vielen anderen Produkten und Nahrungsmitteln ist es ähnlich. Rindfleisch, Baumwolle, Baugewerbe oder Technik – das alles benötigt viel Wasser. Wenn man dann als Einzelne:r den Fußabdruck misst, ist man schnell bei 20.000 Litern am Tag.

Sie haben vorhin von Social Business gesprochen.

Stüdemann: Social Business bedeutet auch, die Wirtschaft zu nutzen, um Einnahmen zu generieren und diese dann einem sozialen oder ökologischen Zweck zuzuführen. Für uns ist ein Social Business unter anderem ein Geschäftsmodell, das ein soziales Problem löst. Ein Beispiel: In Uganda gibt es ein Unternehmen, das Wasserfilter entwickelt hat und produziert – aus lokalen Materialien, die alle Bakterien aus dem Wasser holen. Das Projekt ist vor Ort entstanden, es wird richtig gut angenommen. Das Produkt wird mittlerweile auch in einigen anderen ostafrikanischen Ländern vertrieben. Und wir unterstützen es. Ich sage das, weil wir oft feststellen, dass Lösungen, die wir mit unserem europäischen Blick konstruieren, vor Ort gar nicht funktionieren. Deswegen arbeiten wir gern mit lokalen Organisationen zusammen. Unter Berücksichtigung von lokalen Wetterereignissen, kulturellen Besonderheiten, bestehenden Wassersystemen für Menschen und Tiere entstehen manchmal die besten Innovationen.

Welche Rolle spielen neue Technologien?

Stüdemann: Wir brauchen sie einerseits immer mehr, um Wasser zu reinigen. Es gibt aber zum Beispiel keine neuen, innovativen Systeme, die es bei starken Regenereignissen ermöglichen, Wasser aufzufangen und zu nutzen. Wenn heute plötzlich in großen Mengen Wasser zur Verfügung steht, ist es auch schnell wieder weg. Deswegen sage ich ja: Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, den Wert von Wasser zu realisieren. Ist das erst mal gegeben, kommt es auch schnell zu Innovationen, vor allem vor Ort. In einem Projekt in Tansania arbeiten wir etwa mit Nebelnetzen, die Wasser aus der Luft auffangen. Entsalzung ist ein großes Thema, weil immer öfter Überschwemmungen das Grundwasser versalzen. Wir brauchen in der Zukunft auch Technologien, die in Gegenden, wo der Klimawandel Fakten geschaffen hat, die nicht mehr zu ändern sind, Menschen Zugang zu Wasser ermöglichen. Oder eine Technologie, die zum Beispiel in Äthiopien herausfindet, wo genau man die tiefen Brunnen bohren muss.

Glauben Sie daran?

Stüdemann: Es wird auch künftig gute technische Lösungen geben, ja. Andererseits ist das eben auch eine sehr kapitalistische Denkweise: Wir haben ein Problem, jetzt brauchen wir eine Technologie, die es löst, die dann aber vielleicht eine eher passive Reaktion hervorruft, die wir gar nicht wollen – ah, Problem gelöst, dann kann ich jetzt noch mehr Laptops kaufen. Konsum deckt ja manchmal auch das ab, was in unserem Inneren als Mangel empfunden wird. Wir wollen deswegen Eigenverantwortung stärken, also heute etwas ändern, die Menschen überzeugen, damit das Problem morgen gar nicht erst entsteht. Wenn 2030 jeder Mensch, der den Wasserhahn aufdreht, denkt: „Wow, was für ein Schatz!“, wenn es total cool und ein Trendthema ist, Wasser zu schützen, haben wir unsere Aufgabe erfüllt. Dann ist der Sache schon viel geholfen.