17.05.2022    Madeline Sieland
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Was Arbeitnehmende in der hybriden Arbeitswelt am meisten fürchten? Den Proximity Bias. Das zeigt der Pulse-Survey des Future Forum. Damit gemeint ist die Angst davor, dass Führungskräfte diejenigen bevorzugen könnten, die mehr Präsenz im Büro zeigen als andere.

Und das hat Folgen: Beschäftigte im Homeoffice entwickeln das Bedürfnis, ständig erreichbar sein zu müssen – auch nach Feierabend in der Freizeit. Sie wollen Vorgesetzten beweisen, wie viel sie leisten können. Telepressure heißt dieses Phänomen. Die Folgen: Stress, Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation, schlimmstenfalls ein Burnout.

Damit es soweit nicht kommt, sind Arbeitgebende in der Pflicht, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Wie man Telepressure vorbeugen und das Erreichbarkeitsmanagement im Unternehmen verbessern kann, erklärt Dr. Ralf Ebbinghaus, Mitgründer des Unified-Communications-Anbieters Enreach.

Zur Person

Dr. Ralf Ebbinghaus

Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler ist Mitgründer und Geschäftsführer von Enreach, einem Anbieter von Unified-Communications- und Cloud-Contact-Center-Lösungen

Woran merken Führungskräfte, dass Telepressure unter ihren Angestellten ein Problem ist?

Ralf Ebbinghaus: Das ist nicht einfach, da Telepressure viel mit dem individuell empfundenen Stress zu tun hat, der für Außenstehende in den meisten Fällen nicht klar zu erkennen ist. Führungskräfte sind mehr denn je gefordert, mit ihren Mitarbeitern in Kontakt zu bleiben. Das ist besonders wichtig, wenn diese remote arbeiten. Eine Kultur, die auf offene Kommunikation, Vertrauen und Eigenverantwortung setzt, ist die beste Prävention. Wenn mir als Führungskraft auffällt, dass ein Mitarbeiter häufig spätabends oder am Wochenende Nachrichten schreibt oder mehr Projekte verantwortet als in seiner Arbeitszeit erledigt werden können, sollte ich das Gespräch suchen. Aufmerksam werden sollten Führungskräfte auch bei plötzlichen Verhaltensänderungen – wenn beispielsweise jemand, der zuvor aufgeschlossen und engagiert war, auf einmal antriebslos oder niedergeschlagen wirkt.

Im privaten Umfeld ist dieses Phänomen – vor allem mit Blick auf die teils exzessive Social-Media-Nutzung – schon länger als „fear of missing out“ bekannt. Ist Telepressure im beruflichen Kontext denn ein Phänomen der Coronazeit? Oder gab es das schon vor der Pandemie und es war nur nicht ganz so offensichtlich und nicht so weit verbreitet?

Ebbinghaus: Die Coronapandemie hat in der Arbeitswelt Entwicklungen beschleunigt, die sich vorher schon abzeichneten. Dazu gehören die zunehmende Bedeutung von orts- und zeitunabhängiger Arbeit sowie die Vermischung von Berufs- und Privatleben mit vielen positiven Folgen wie beispielsweise einer höheren Flexibilität, aber eben auch Risiken wie das Auftreten von Telepressure. Die Pandemie hat viele Menschen verunsichert: Mit Beginn des ersten Lockdowns hatten Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen keine Wahl als einen Großteil der Arbeit ins Homeoffice zu verlagern. Das begünstigt das Auftreten von Stress und psychischen Beschwerden. Beim aktuellen Übergang in hybride Arbeitsweisen ist es daher wichtig, die Mitarbeiter mitzunehmen, ihre Meinung einzuholen und ihre Bedürfnisse im Hinblick auf Arbeitsmodelle und Erreichbarkeit zu berücksichtigen.

Aus welchen Gründen fühlen sich Angestellte zur ständigen Erreichbarkeit „verpflichtet“?

Ebbinghaus: Gerade im Homeoffice fühlen viele Menschen besonderen Leistungsdruck: Weil sie sich nicht an einem festen Arbeitsplatz im Unternehmen aufhalten, wollen sie unter Beweis stellen, dass sie auch im Homeoffice etwas leisten und erreichbar sind. Oft machen sich Beschäftigte selbst Druck. Aber auch Führungskräfte können dazu beitragen, wenn sie Mitarbeitern im Homeoffice mit Misstrauen begegnen. Außerdem tragen schnelle Kommunikationswege kombiniert mit den Anforderungen der globalisierten Arbeitswelt auch unabhängig von der Pandemie dazu bei, dass Beschäftigte mehr Stress empfinden. Das gilt besonders, wenn die verschiedenen Kommunikationskanäle als sogenannte Insellösungen nicht miteinander vernetzt sind: Wer wäre nicht gestresst, wenn er sich gerade in einem Online-Meeting befindet, während über andere Kommunikationslösungen Anrufe, Chat-Nachrichten und E-Mails eingehen?

Welche Folgen hat die ständige Erreichbarkeit?

Ebbinghaus: Der ständige Erwartungsdruck kann sich negativ auf die Erholungszeiten auswirken und dazu führen, dass sich Mitarbeiter ständig gestresst fühlen. Das wirkt sich negativ aus, führt langfristig zu Leistungseinbußen, kann die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen und das Burnout-Risiko erhöhen.

Was können Angestellte, aber auch Führungskräfte tun, um Telepressure vorzubeugen? Welche konkreten Tipps haben Sie?

Ebbinghaus: Sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter sind in stärkerem Maße gefordert, auf eine stimmige Balance von Arbeit und Privatleben zu achten. Klare Vereinbarungen helfen: Alle Beteiligten sollten genau vereinbaren, welche Arbeitsergebnisse erwartet werden und wann ein Mitarbeiter erreichbar sein muss. Oft hilft es auch Pausen genauso in den Kalender einzuplanen wie Meetings und sich während dieser Auszeiten vom Arbeitsplatz – egal, ob im Büro oder am heimischen Küchentisch – zu entfernen.

Was zeichnet ein intelligentes Erreichbarkeitsmanagement aus? Und wie aufwendig ist die Implementierung von Tools, die das Erreichbarkeitsmanagement erleichtern können?

Ebbinghaus: Zeitgemäße Kommunikationslösungen führen verschiedene Kommunikationswege auf einer Benutzeroberfläche zusammen und tragen mit Statusanzeigen und Präsenzinformationen dazu bei, dass innerhalb eines Unternehmens ganz klar ersichtlich ist, welcher Mitarbeiter gerade erreichbar, im Gespräch oder abwesend ist. Nutzer können ihrem Präsenzstatus einen individuellen Text hinzufügen, sodass Kollegen direkt erkennen können, wenn jemand nicht gestört werden möchte und wann er wieder erreichbar ist. Mit intelligenten, regelbasierten Anrufweiterleitungen können Nutzer bestimmte Kriterien definieren und es beispielsweise von ihrem Präsenzstatus, dem Wochentag, Kalendereinträgen oder der Nummer des Anrufers abhängig machen, ob ein Anruf bei ihnen eingeht oder an einen Kollegen weitergeleitet wird. So kann ein Mitarbeiter etwa festlegen, dass er nach 17 Uhr nur noch für private Kontakte oder – falls gewünscht – seine wichtigsten Kunden erreichbar ist. Solche Kommunikationslösungen können aus der Cloud oder im flexiblen Abo-Modell bezogen werden und sind entsprechend schnell implementiert.

Inwieweit ist auch der Gesetzgeber gefragt, um Telepressure vorzubeugen? Reichen die Regelungen im Arbeitszeitgesetz aktuell aus oder sollte nachgebessert werden?

Ebbinghaus: Bei der Prävention von Telepressure hat Eigenverantwortung einen hohen Stellenwert, daher bin ich der Meinung, dass es keiner allgemeingültigen gesetzlichen Reglementierung bedarf. Der Übergang in die neue hybride Arbeitswelt bringt nicht nur Risiken, sondern auch große Chancen mit sich: Jedes Unternehmen, jeder Vorgesetzte und jeder Mitarbeiter hat gerade die Möglichkeit, Arbeitsmodelle neu zu denken und individuelle Regelungen zu finden, die sowohl den Anforderungen des Unternehmens als auch dem Wunsch der Mitarbeiter nach flexiblem Work-Life-Blending gerecht werden.

17.05.2022    Madeline Sieland
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