Laptop mit deaktiviertem Bildschirm und Coffee to go; Motiv dient als Symbolbild für das Recht auf Nichterreichbarkeit
18.01.2023    Madeline Sieland
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Ein Recht auf Nichterreichbarkeit gibt es in Deutschland offiziell nicht. Eine gesetzliche Pflicht zur Erreichbarkeit außerhalb der vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten existiert allerdings auch nicht. Deutsche Gerichte urteilen daher in Streitfällen in der Regel im Sinne der Arbeitnehmenden. Der Tenor: Wer Freizeit hat, arbeitet nicht – und muss daher auch nicht für den Arbeitgeber erreichbar sein.

Arbeitgeber müssen mit Nichterreichbarkeit in der Freizeit rechnen

„Es gehört zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in der Freizeit erreichbar sein will oder nicht“: So steht es in einer Urteilsbegründung, die das Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein kürzlich veröffentlicht hat.

Geklagt hatte ein Notfallsanitäter. Sein Arbeitgeber wollte ihn über eine kurzfristige Dienstplanänderung für den Folgetag informieren. Doch der Mann war telefonisch, per E-Mail und SMS nicht erreichbar – und trat seinen Dienst daher wie ursprünglich geplant an.

Aus Sicht des Arbeitgebers war das allerdings unentschuldigtes Fehlen. Der Sanitäter wurde zunächst ermahnt und – nachdem es ein zweites Mal passierte – abgemahnt. Zudem wurden ihm elf Stunden von seinem Stundenkonto gestrichen.

Recht auf Nichterreichbarkeit dient dem Gesundheitsschutz

Nachdem das Arbeitsgericht Elmshorn in erster Instanz zugunsten des Arbeitgebers entschied, urteilte das Landesarbeitsgericht im Sinne des Arbeitnehmers.

In der Begründung heißt es unter anderem, der Arbeitgeber musste damit rechnen, „dass der Kläger die ihm übersandte SMS erst mit Beginn seines Dienstes um 7:30 Uhr zur Kenntnis nahm. Zu diesem Zeitpunkt ist der Kläger verpflichtet, seiner Arbeit nachzugehen – und dazu gehört auch die in seiner Freizeit bei ihm eingegangenen dienstlichen Nachrichten des Arbeitgebers zur Kenntnis zu nehmen.“ Insofern habe sich der Mann nicht treuwidrig verhalten, wie die Unternehmensführung kritisiert hatte.

Darüber hinaus wird in der Urteilsbegründung klar betont: „Das Recht auf Nichterreichbarkeit dient neben der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes des Arbeitnehmers durch Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten (§ 5 Abs. 1 ArbZG) auch dem Persönlichkeitsschutz.“

Einfach mal abschalten können – das muss möglich sein

Mit dieser Argumentation bezieht sich das LAG Schleswig-Holstein auf ein Urteil des LAG Thüringen aus dem Mai 2018. Dieses befasste sich mit der Frage, ob Mitarbeitende ihrem Arbeitgeber ihre private Handynummer mitteilen müssen. Geklagt hatten zwei Angestellte eines kommunalen Rettungsdiensts. Sie wurden abgemahnt, weil sie sich weigerten, die private Nummer herauszugeben.

Die Abmahnungen waren nach Auffassung des Gerichts allerdings unwirksam. Laut dem Urteil sind Arbeitnehmende grundsätzlich nicht zur Herausgabe ihrer privaten Handynummer verpflichtet.

In diesem konkreten Fall wollte der Arbeitgeber die Notfallbereitschaft der Mitarbeitenden über die privaten Mobiltelefone organisieren. Nach dem Zufallsprinzip sollten Rettungskräfte im Notfall außerhalb der Arbeitszeit zu Sondereinsätzen gerufen werden können.

Doch so ein Vorgehen stellt aus Sicht der LAG Thüringen einen schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar. Denn damit ist der Arbeitnehmende de facto rund um die Uhr erreichbar, kann nicht mehr richtig abschalten und so auch die im Arbeitszeitgesetz geregelten Ruhezeiten nur schwerlich einhalten.

Ständige Erreichbarkeit ist purer Stress

Der gefühlte Druck, konstant erreichbar sein zu müssen, wird Telepressure genannt. „Der ständige Erwartungsdruck kann sich negativ auf die Erholungszeiten auswirken und dazu führen, dass sich Mitarbeiter ständig gestresst fühlen“, sagt Dr. Ralf Ebbinghaus, Mitgründer des Unified-Communications-Anbieters Enreach. „Das wirkt sich negativ aus, führt langfristig zu Leistungseinbußen, kann die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen und das Burnout-Risiko erhöhen.“

Um Arbeitnehmende vor den negativen Folgen der ständigen Erreichbarkeit auf ihre körperliche und seelische Gesundheit zu schützen, wurden bereits Anfang 2021 im Europäischen Parlament Rufe nach einem EU-weiten Grundrecht auf Nichterreichbarkeit laut. Dieses sollte klar regeln, dass Angestellte außerhalb der Arbeitszeit keine arbeitsbezogenen Aufgaben erledigen müssen und dass keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu fürchten sind, wenn beispielsweise auf Kontaktversuche des Arbeitgebers in der Freizeit nicht reagiert wird.

Doch auch wenn sich vor zwei Jahren 472 der 705 Abgeordneten für eine entsprechende Gesetzesinitiative aussprachen, ist bisher nur wenig passiert. Erst sieben Länder haben ein explizites Recht auf Nichterreichbarkeit gesetzlich verankert: Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, die Slowakei, Portugal und Spanien.

Wie ist die Gesetzeslage in Deutschland?

In Deutschland sind Höchstarbeits- und Ruhezeiten sowie ein Mindesturlaub gesetzlich geregelt.

So darf die werktägliche Arbeitszeit bei maximal zehn Stunden liegen – allerdings nur, wenn innerhalb von sechs Monaten durchschnittlich höchstens acht Stunden werktäglich gearbeitet werden. Das gibt das Arbeitszeitgesetz vor. Darin heißt es in §5 auch: „Die Arbeitnehmer müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben.“ Ausnahmen gelten nur für einige klar definierte Branchen.

Und laut Bundesurlaubsgesetz stehen jedem Arbeitnehmenden mindestens vier Wochen bezahlter Urlaub pro Jahr zu. Dieser diene – so steht es in §1 des Bundesurlaubsgesetzes – explizit der Erholung.

Dennoch gaben in einer Studie des Softwareunternehmens SD Worx 23 Prozent der befragten deutschen Arbeitnehmenden an, dass sie während des Urlaubs arbeitsbezogene E-Mails und Telefonate beantworten.

Klare Regeln für die Erreichbarkeit festlegen

Um jederzeit klare Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben ziehen zu können, sollte die Erreichbarkeit im Unternehmen eindeutig geregelt werden. „Alle Beteiligten sollten genau vereinbaren, welche Arbeitsergebnisse erwartet werden und wann ein Mitarbeiter erreichbar sein muss“, sagt Ebbinghaus und empfiehlt Angestellten als erste schnell umsetzbare Maßnahme: „Oft hilft es auch Pausen genauso in den Kalender einzuplanen wie Meetings und sich während dieser Auszeiten vom Arbeitsplatz – egal, ob im Büro oder am heimischen Küchentisch – zu entfernen.“

Wichtig ist zudem, Transparenz über An- und Abwesenheiten herzustellen: „Zeitgemäße Kommunikationslösungen tragen mit Statusanzeigen und Präsenzinformationen dazu bei, dass innerhalb eines Unternehmens ganz klar ersichtlich ist, welcher Mitarbeiter gerade erreichbar, im Gespräch oder abwesend ist“, so Ebbinghaus. „Nutzer können ihrem Präsenzstatus einen individuellen Text hinzufügen, sodass Kollegen direkt erkennen können, wenn jemand nicht gestört werden möchte und wann er wieder erreichbar ist.“

Ein Tipp für die Praxis:

Ein Patentrezept fürs Erreichbarkeitsmanagement gibt es nicht. Jedes Unternehmen muss dafür einen individuellen Weg finden. Das Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) hat eine Checkliste entwickelt, mit deren Hilfe Firmen und Beschäftigte gemeinsam regeln können, wann und wie eine digitale Erreichbarkeit erforderlich ist. Die kostenfreie Checkliste kann HIER heruntergeladen werden.

18.01.2023    Madeline Sieland
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