Uhr Endeavour Centre Seconds Concept von H. Moser & Cie.
08.07.2021    Jan Lehmhaus
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Auto Moai malt und zeichnet Menschen ohne Gesicht; seit Jahren ist Anonymität ein Leitthema des 1990 in Japan geborenen Künstlers. Seine Werke sind genauso in internationalen Galerien zu finden wie auf Kleidung trendiger Streetwear-Marken. Jetzt sind seine seltsamen Wesen auch auf einer mechanischen Uhr zu sehen, einer limitierten „Seiko 5 Sports“. Es ist nicht die erste Kooperation der Marke mit einem zeitgenössischen Künstler. Schon vor Jahren druckte sie moderne Fotografien auf Zifferblatt und Armbänder einiger Modelle, stand damit allerdings noch allein. Wenn Seiko jetzt aber Auto Moai und den Grafikkünstler Guccimaze Zeitmesser gestalten lässt, passt das bestens in die Zeit. Denn inzwischen suchen auch andere Hersteller die Nähe zur Kunst.

Tradition trifft moderne Kunst

Vincent Brun, Geschäftsführer von Seiko Deutschland, erläutert, wen und was die Marke mit diesen Partnerschaften erreichen möchte: „Natürlich ist Seiko stolz auf die japanische Kultur, zeigt gern traditionelle wie aktuelle Themen aus dem Heimatland.“ Die Verbindung moderner Kunst mit „Seiko 5 Sports“-Modellen, also Uhren zum Einstiegspreis, solle dabei neue Zielgruppen erschließen. Bei der strategischen Planung werde erst die Zielgruppe definiert und dann über die passende Uhr nachgedacht. In diesem Fall geht es um ein gebildetes, kunstaffines Publikum. „Die Thematik der Uhr spricht die Zielgruppe direkt an. Mit dem Preissegment, in dem die Uhr sich befindet, fühlt sich der Kunde wohl, und es fällt ihm leicht, eine Kaufentscheidung zu treffen“, so Brun. Die Kombi aus Kunst und Uhrmacherei: ein unternehmerischer Kunstgriff also.

Hochwertige Uhren waren von jeher Träger feinster kunsthandwerklicher Arbeit, von Gravuren, Steinbesatz und Emaillemalerei. Ihre Gestaltung spiegelte den Zeitgeschmack. Avantgarde und verstörende künstlerische Experimente fanden dort nicht statt. Und nach der Neuerfindung der mechanischen Armbanduhr als quasi vor- oder sogar antimodernes Statement kaum denkbar. Popkulturelles gab es nur auf Kinder- oder Billiguhren. Wertvolle Zeitmesser mussten Erhabenes zeigen.

Etwas anders machen – aber mit Respekt

Womöglich arbeitet Romaric André unter dem Namen Seconde/Seconde deshalb vor allem mit klassischen Vintage-Uhren. Er ersetzt ihre Sekundenzeiger durch kunterbunte Miniaturen, die aussehen wie einem Comic entnommen. „Uhren sind eine Aufschichtung von Stil und Kultur“, erklärt er, „ich will eine weitere Ebene hinzufügen, die Balance stören, auch schockieren.“ Dabei ist seine Arbeit nicht Destruktion, sondern Dekonstruktion – und rückbaubar: Jeder verkauften Uhr wird auch der Originalzeiger beigelegt. „Viele Kunden sind Uhrensammler. Ich spiele mit ihrer Passion, aber ganz respektvoll.“

Mancher Marke ist die Modifikation ihrer Ikonen nicht respektvoll genug. Aber André weiß: „Unbehagen ist Teil der Reise. Wenn einem alle auf die Schulter klopfen, macht man nichts wirklich Neues.“ Für das Haus H. Moser & Cie., das schon mit manchem provokanten Design polarisiert hat, machte André eine Ausnahme vom Vintage-Konzept und gestaltete ein neues Modell: die „Endeavour Centre Seconds Concept seconde/seconde/“ (siehe Foto oben). Über dem index-, ziffern- und logofreien Zifferblatt rotiert statt des Stundenzeigers ein grob gerastertes Radiergummi.

Künstlerische Freiheit

Kooperationen mit mehr oder weniger etablierten Vertretern der zeitgenössischen Kunst finden sich vor allem bei recht jungen Marken – Unternehmen also, die ihr Profil nicht aus einer langen Geschichte, sondern aus Forschergeist, Hightech-Kompetenz und einer gehörigen Dosis Spielfreude gebildet haben. Hublot, erklärter Fusionsspezialist, bindet schon seit Jahren Künstler in die Uhrengestaltung ein. Zuletzt entstand dabei die „Classic Fusion Takashi Murakami All Black“. Auch die Zusammenarbeit mit dem Neo-Pop-Star Richard Orlinski und dem Tattoo-Künstler Maxime Plescia-Büchi verschaffte der Marke Renommee.  

Bei Roger Dubuis setzt man künftig ebenfalls auf Tattoos und Straßenkunst. Der Spezialist für Tourbillons und futuristische Mikromechanik verlässt sich nicht mehr länger allein auf die Verbindungen in die Sportwagenwelt. „25 Jahre nach unserer Gründung haben wir ein Design und eine technische Reife erreicht, die es uns ermöglicht, die Tür zu einer anderen Ebene der Kreativität zu öffnen“, kündigt Marketingchef Sadry Keiser an. Im vergangenen Herbst war ein erstes Konzept namens „Excalibur Superbia“ zu sehen, das von den Kreationen des japanischen Künstlers Kaz Shirane inspiriert war. Inzwischen wurden neue Mitglieder des „Urban Art Tribe“ gefunden: Tätowierer Dr. Woo aus Los Angeles, der Pariser Straßenkünstler Gully und der multimedial arbeitende Liu Wei aus Peking. 

„Unser Ziel ist es, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln und die Zukunft der Hyperhorologie zu gestalten“, sagt Keiser. Dabei sei die Zusammenarbeit für alle Seiten spannend. „Wir schätzen es, von den Künstlern und ihren Ideen auch an Grenzen gebracht zu werden. Natürlich ist es eine Herausforderung, die Ideen technisch umzusetzen, und bei manchen Dingen müssen wir ganz schön umdenken.“ Aber das liege in der Natur des Hauses. Bis zur Vorstellung des ersten gemeinsamen Produkts wird es noch dauern. Derweil lässt Roger Dubuis sein Publikum am Making-of teilhaben, gewährt Einblick in die Ateliers. Für die Uhrenkunst gelte dabei dasselbe wie für die Sportwagenkooperationen, ist sich Keiser sicher: „Unsere Kunden sind sehr ungeduldig und extrem anspruchsvoll.“

Schönes Schlagwerk

Auf ein Publikum mit hohem Kunstanspruch vertraut auch der Luzerner Hersteller Carl F. Bucherer für seine jetzt vorgestellte „Manero Minute Repeater Symphony“, ein innovatives, hoch kompliziertes Stück Mechanik mit eindrucksvoll klingendem Schlagwerk. „Schon vor fünf Jahren hatten wir die Idee zu dieser Uhr“, erinnert sich CEO Sascha Moeri.

Die Zusammenarbeit mit dem renommierten Lucerne Festival Orchestra mag so auf der Hand gelegen haben wie der Kompositionsauftrag zur Feier des neuen klingenden Modells. Das Orchester entschied sich für die schwedische Komponistin Lisa Streich, gab ihr freie Hand. Und das Ergebnis ihrer Arbeit ist
ein kompromisslos modernes Stück Musik. „Ich war erstaunt, verblüfft – und dann entzückt“, sagt Moeri. „Periphery“, bei der Watches and Wonders uraufgeführt, wird bestimmt nicht der diesjährige Sommerhit, taugt auch nicht zum Werbejingle, aber passt nach Moeris Überzeugung umso besser zur Uhr: „Es ist etwas für Menschen, die sich damit beschäftigen, sich damit auseinandersetzen können.“

Das Handgelenk als Ort der Kunstausstellung und -reflexion: Wenn die Armbanduhr trotz ihrer fortwährend behaupteten Überflüssigkeit nicht ausstirbt, liegt das eben auch daran, dass ihr immer neue Funktionen zuerkannt werden.

08.07.2021    Jan Lehmhaus
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