Alle reden über Nachhaltigkeit, Politik wie Unternehmen. Die Finanzindustrie übersetzt das oft in grüne Investments. Doch eigentlich geht es um mehr – auch um das eigene Selbstverständnis als Bank, sagt Jürgen von der Lehr. Er verantwortet die Themen Strategie und Geschäftsentwicklung bei der Digitalbank ING Deutschland.
ING-Chefstratege
„Das Zeitfenster für die nachhaltige Transformation ist sehr eng“
Der Kampf gegen den Klimawandel ist in vollem Gange. Welche Rolle spielt die Finanzindustrie dabei? Jürgen von der Lehr, Chefstratege der ING, sieht die Banken in vorderster Front.
01.12.2021
Jürgen von der Lehr
ist Head of Strategy and Business Development der ING Deutschland
Kaum ein Unternehmen, das sich nicht bereit erklärt hat, das Thema Nachhaltigkeit zu forcieren. Welche Rolle spielt die Finanzindustrie?
Jürgen von der Lehr: Wir müssen Unternehmen helfen, sich zu transformieren. Dazu gehört auch, etwa ein Chemieunternehmen bei der Umsetzung seiner Nachhaltigkeitsstrategie zu beraten. Das Gleiche gilt für Privatpersonen: Es reicht nicht, einfach nur eine energetische Sanierung zu finanzieren. Als Bank kann ich viel weiter vorn anfangen, den Kunden inspirieren und ihn aktiv auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit begleiten. Es geht um deutlich mehr als nur Finanzprodukte – es geht darum, die Kundenbedürfnisse richtig zu treffen.
Worin liegen die zentralen Herausforderungen für Sie beim Begleiten dieser Transformationsprozesse?
von der Lehr: Eine Herausforderung sind flexible IT-Systeme. Sie müssen Kosteneffizienz erlauben und im Sinne von ganzen Ökosystemen sowohl technisch als auch projektbezogen an moderne Partnerschaften andocken können. Der andere Teil liegt in kulturellen Aspekten: Die Bereitschaft, neue Dinge auszuprobieren, ist in der Bankenindustrie weniger ausgeprägt, weil regulatorische Rahmenbedingungen und Sicherheitsaspekte stark im Vordergrund stehen.
Welches Zeitfenster haben Sie sich selbst als Bank für den beschriebenen Pfad gesetzt?
von der Lehr: Das Zeitfenster ist sehr eng. Bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu sein bedeutet für die Wirtschaft, jetzt die Grundvoraussetzungen dafür zu schaffen. Banken stehen dabei meiner Meinung am Anfang der Kette und sollten zu denjenigen gehören, die Veränderung auslösen.
Spielt die Notwendigkeit zur Transformation eher schlank aufgestellten FinTechs in die Karten? Was bringen die klassischen Finanzhäuser ein?
von der Lehr: Ich denke, das gesamte Finanzsystem – und das wird ein weiterer Erfolgsfaktor sein – wird stärker zu einem Ökosystem zusammenwachsen. Die Banken profitieren stark von den FinTechs, was innovative, kreative Lösungen angeht. Gleichzeitig lernen FinTechs auch immer mehr die Kooperation mit einer Bank mit einer breiten Kundenbasis zu schätzen, die das ganze regulatorische Umfeld abdecken kann.
Wie gehen Sie mit der Gefahr des Greenwashings um?
von der Lehr: Wir haben viele Ideen in unserer Entwicklungs-Pipeline, schauen uns aber sehr genau an, was wir nach außen versprechen. Denn maximale Transparenz und Ehrlichkeit sind gerade beim Thema Nachhaltigkeit unumgänglich. Wie Firmen sich jetzt aufstellen, entscheidet darüber, ob es ihnen gelingt, eine nachhaltige Rolle in der Gesellschaft zu spielen.
Redakteurin
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