Was unterscheidet das Gehirn des Neandertalers von dem eines Homo sapiens? Größe konnte es nicht sein, also suchten im Jahr 2022 Forscherteams der Max-Planck-Gesellschaft um Wieland B. Huttner und den Nobelpreisträger für Medizin, Svante Pääbo, nach anderen Erklärungen. Das Ergebnis: Der moderne Mensch produziert während der Gehirnentwicklung mehr Nervenzellen im Frontallappen als der ausgestorbene Verwandte. Grund dafür ist eine Veränderung einer einzelnen Aminosäure im Protein Transketolase-like 1, kurz TKTL1.
Die Bildung von Neuronen im fötalen Gehirn gilt als wichtiger Faktor für die verbesserten kognitiven Fähigkeiten während der Evolution. Dass dabei TKTL1 eine entscheidende Rolle zukommt, mag überraschen: Als Dr. Johannes Coy am Deutschen Krebsforschungsinstitut das Gen Anfang der 1990er-Jahre entdeckte, postulierte er, dass dem Gen „in gewissen Zellen eine besondere Funktion“ zukomme. Mit dieser Meinung war er damals aber allein. „Zu dem Zeitpunkt hatten wir eine Kollaboration mit dem Sanger Centre in Großbritannien, und die sagten, das Gen sei kaputt. Ich könne das vergessen“, erklärt der Molekularbiologe.
Als defektes Gen wurde es von der Forschung ignoriert. Doch die Zeiten sind mittlerweile vorbei: TKTL1 ist laut Coy „von einem defekten Gen zum wichtigsten Gen des Menschen“ geworden. Das Enzym spielt nämlich nicht nur eine fundamentale Rolle bei der Entwicklung des Gehirns, sondern im gesamten Zellprozess – von der Zellteilung bis zur Reparatur geschädigter Zellen.
Hauptfaktor bei der Zellneubildung
TKTL1 ist der entscheidende Faktor bei der Neubildung von Zellen, brachten Wissenschaftler ihre Erkenntnisse in einer 2019 in „Nature Communications“ publizierten Studie auf den Punkt. So wird durch die Aktivierung von TKTL1 die Ribose-Produktion angekurbelt, die den Zellzyklus startet. „TKTL1 trifft die Entscheidung und sorgt dafür, dass die Bausteine vorhanden sind“, erklärt Coy den entdeckten Push-Effekt. Zu den Bausteinen zählt neben Ribose auch das Molekül Acetyl-CoA, wie Forscher der Universität Barcelona 2016 erstmals bestätigten. Es ermöglicht einer Zelle laut Coy eine „100-prozentige Überführung“ von Zucker in Fett und damit eine effiziente Umwandlung zum Aufbau neuer Zellbestandteile.
Generell sei die Wichtigkeit von TKTL1 kaum zu überschätzen. Menschen, denen das Enzym fehlt, hätten doch eine Lebenserwartung von lediglich 30 bis 35 Jahren. Vom TKTL1-Stoffwechsel profitieren jedoch nicht ausschließlich gesunde Zellen. Auch unerwünschte Zellen, wie von Viren infizierte Zellen und Krebszellen, sind Nutznießer des TKTL1-Stoffwechsels. So setzt sich Coy dafür ein, TKTL1 „in die Früherkennung und Therapie von Krebs einzubeziehen“.
TKTL1 als universeller Marker für Tumorarten
Wegen seiner Eigenschaften ist TKTL1 ideal in der Krebsfrüherkennung nutzbar – als Frühwarnsystem für alle Tumorarten und damit als universeller Marker. In der Krebsfrüherkennung gilt: Je eher ein Tumor aufgespürt wird, desto vielfältiger sind die Therapiemöglichkeiten und desto besser sind die Heilungschancen. Noch immer gibt es in Deutschland leider für 55 Prozent der jährlichen Krebsneuerkrankungen keine gesetzlichen Regelmaßnahmen in der Früherkennung. Abhilfe schaffen und diese Screening-Lücke schließen könnte der Bluttest „PanTum Detect®“ des Darmstädter Biotechnologieunternehmens Zyagnum AG, das Coy 2007 mitgegründet hatte.
Mithilfe der eigenen Plattformtechnologie „EDIM®“ (Epitope Detection in Monocytes) wird dabei der Mageninhalt von Makrophagen, den Fresszellen des Immunsystems, untersucht. Diese Immunzellen eliminieren unerwünschte Zellen im Körper. „Unser Immunsystem erkennt Tumorzellen und frisst sie auf“, weiß Coy. Der „PanTum Detect®“ sucht in den Makrophagen nach erhöhten Konzentrationen zweier Marker – einer davon ist TKTL1 –, die Prozesse abbilden, welche in allen Zellen angelegt sind und damit für alle Tumorarten gelten.
Bildgebung gezielter einsetzen
Ist die Konzentration des ersten Markers, des Enzyms DNaseX (Apo10), erhöht, sei das ein Hinweis darauf, dass der programmierte Zelltod (Apoptose) gestört sei. Dies ist bei Krebszellen der Fall. Erhöhte Konzentrationen von DNaseX lassen sich bei allen Tumoren – auch bei gutartigen – nachweisen. Findet man in den Makrophagen gleichzeitig auffällig viel TKTL1, sei klar, dass ein erhöhter Teilungsprozess krankhafter Zellen im Gange ist. Erst TKTL1 schafft die Voraussetzung dafür, einen gutartigen Tumor in eine bösartige Krebserkrankung zu wandeln, also dafür, dass Zellen invasiv wachsen können.
Sind DNaseX (Apo10) und TKTL1 erhöht, liefert der „PanTum Detect®“ ein auffälliges Ergebnis, das heißt, einen Hinweis auf ein bösartiges Krebsgeschehen. „Wenn man die Biomarker hat, dann kann man die Bildgebung gezielter einsetzen“, darin sieht Coy das große Potenzial von TKTL1 und „PanTum Detect®“ für die Krebsfrüherkennung. Verschiedene Studien, die unter anderem am Universitätsklinikum Tübingen durchgeführt wurden, sowohl mit vermeintlich gesunden Probanden als auch mit Krebspatientinnen und -patienten, unterstreichen die Leistungsstärke von Bluttest und Markern: So weist der „PanTum Detect®“ eine Sensitivität von 95,2 Prozent (Kranke werden als krank erkannt) und eine Spezifität von 99,5 Prozent (Gesunde werden als gesund erkannt) auf.
„TKTL1 ist ein Schutzschild“
Potenzial sieht Coy auch in der Krebstherapie: Dass Chemo- und Strahlentherapien derzeit nicht den maximalen Erfolg hätten, sei nicht verwunderlich. „TKTL1 ist für die Resistenz von Tumorzellen verantwortlich“, erklärt der Experte. Eine Hemmung des Enzyms könne deshalb die Resistenz gegenüber Standardtherapien überwinden und eine bestehende Therapie wieder erfolgreich machen. „TKTL1 ist ein Schutzschild“, erkläutert der Wissenschaftler das Problem, „der Schutzmechanismus wird angeworfen, und die Chemotherapie verpufft.“ Um die Tumorzelle effektiv zu schädigen, müsse das Enzym blockiert werden. Benfo-Oxythiamin (B-OT) kann TKTL1 und damit die Bausteinproduktion hemmen. Dies eröffnet neue Therapieoptionen, denn es macht Chemo- und Strahlentherapie wirksamer. Resistenzen können so überwunden werden.