Ganz klar: In den vergangenen Monaten wurde dem Einzelhandel übel mitgespielt. Zu Beginn der Coronapandemie hatte die Branche mit Verzögerungen in den Lieferketten zu kämpfen; Produkte kamen viel zu spät oder gar nicht in die Läden. Dann führte der Lockdown dazu, dass Geschäfte schließen mussten. Und auch heute gehen viele Menschen nur ungern einkaufen – teils, weil das Shoppen mit Mundschutz weniger Freude bereitet oder sie Angst haben, sich mit dem Virus zu infizieren. Teils aber auch, da sie aufgrund von Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit finanziell nicht mehr so gut dastehen.
Doch mit dem Einzelhandel eng verbunden sind auch andere Industrien, über die man in diesen Tagen allerdings weg hört. Dabei hat etwa die Textil- und Modeindustrie ebenso mit den Coronafolgen zu kämpfen.
Einblicke in die Textilbranche
„Am schlimmsten hat es die Bekleidungshersteller getroffen. Im Durchschnitt sind die Umsätze in den ersten sechs Monaten um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen“, sagt Anja Merker, Geschäftsführerin des Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrums Textil vernetzt beim Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie. In der Konsequenz mussten viele Unternehmen bereits Mitarbeiter entlassen oder in Kurzarbeit schicken.
In den vergangenen Jahren erwirtschafte die Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland relativ konstante Umsätze. Zuletzt waren es rund 18,5 Milliarden Euro. Das zeigen im April veröffentlichte Zahlen des Statistisches Bundesamts. Polen war zuletzt der größte Abnehmer von in Deutschland produzierten Textilien, aber auch die USA, Großbritannien und die Schweiz sind für den Export wichtige Märkte. Kein Wunder also, dass die Coronapandemie die Textilindustrie vor Herausforderungen gestellt hat.
Aufgabe des Kompetenzzentrums ist es, kleine und mittlere Unternehmen der Textilindustrie, des Textilmaschinenbaus und auch angrenzender Branchen bei der digitalen Transformation und der Implementierung KI-basierter Anwendungen zu unterstützen. Doch im Frühjahr musste spontan umgedacht werden. So wurde beispielsweise beim Gesamtverband Textil und Mode in den ersten Wochen der Krise ein digitaler Helpdesk für Unternehmen eingerichtet. Auf einer eigenen Corona-Sonderseite konnten Mitglieder mit allen wichtigen Informationen und Unterstützungsangeboten versorgt werden.
Nicht die erste Transformation
Schon vor der Krise stellten der Verband und das Kompetenzzentrum zahlreiche Angebote bereit, um die Innovationskraft der Branche zu sichern. Dazu gehören kostenlose Veranstaltungen, Webinare, Workshops und Praxisprojekte. Ein Beispiel: der „KI Escape ROOM“ in Denkendorf in Baden-Württemberg. Dort können sich Teams mit sechs Use-Cases befassen und so etwas über unterschiedliche Anwendungsfelder von Künstlicher Intelligenz lernen. Die Teilnehmer erleben beispielsweise eine Zeitreise in das Jahr 2083 und erproben intelligente Produkte und Services, um sich so die Nutzung von KI für das eigene Unternehmen zu erschließen.
„Uns begegnet eine große Offenheit in unserer Branche. Das Gros unserer Unternehmen ist mittelständisch geprägt und oft familiengeführt. In vielen Betrieben ist inzwischen schon die nächste Generation in die Geschäftsführung eingebunden und mit viel Elan in Sachen Digitalisierung am Werk", sagt Merker. Die Coronakrise habe darüber hinaus viele Unternehmen gezwungen, noch stärker an neuen Geschäftsmodellen oder dem Umbau ihrer Lieferketten zu arbeiten. „Die meisten Unternehmen müssen sich nicht zum ersten Mal einer Transformation stellen. Die Textilindustrie war an vielen Punkten der Industriegeschichte eine Vorläufer-Branche für große Umbrüche."
Die Nachfrage spricht für sich: Seit Eröffnung des Kompetenzzentrums vor knapp drei Jahren haben rund 3.000 kleine und mittlere Unternehmen Unterstützung gesucht. Damit wurden mehr als 4.000 Mitarbeiter des textilen und textilnahen Mittelstands erreicht. Über 700 Veranstaltungen und Termine an den Standorten Aachen, Berlin, Chemnitz, Denkendorf, Stuttgart und Villingen-Schwenningen haben bereits stattgefunden. „Der digitale Wandel ist in der Textilindustrie angekommen. Unser Team weiß, wo der Schuh drückt, und findet immer wieder unternehmensindividuelle Lösungsansätze", so Merker.