DUP-Redaktion: Zahlreiche Krisen haben die Welt in den vergangenen Jahren in Atem gehalten: Produktivitätsrückgänge, Covid-Pandemie, Kriege in der Ukraine und in Israel, Inflation. Als Mitautor des Buches "Permacrisis: A Plan to Fix a Fractured World", können Sie uns eine Strategie umreißen, die zu globaler Heilung und zum Aufschwung beitragen kann?
Prof. Dr. Michael Spence: Die gegenwärtige Lage ist äußerst verworren, geprägt von Klimaextremen, geopolitischen Spannungen und nicht zuletzt Finanzkrisen. In den kommenden Jahren werden wir zweifellos mit weiteren solchen Erschütterungen konfrontiert sein, besonders in Ländern mit niedrigem Einkommen. Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite vollziehen sich bedeutende Strukturveränderungen, wie etwa die seit Jahrzehnten anhaltende multidimensionale digitale Revolution, begleitet von mindestens drei wissenschaftlichen und technologischen Revolutionen. Wir haben zum Beispiel eine Revolution in Biomedizin und Biowissenschaften mit erheblichen Investitionen und Auswirkungen, wie die er- staunlich schnelle Entwicklung von Impfstoffen zeigt, sowie eine technologische Revolution im Bereich der Energie, um Nachhaltigkeit zu erreichen. Das angesprochene Buch – verfasst von Gordon Brown, Mohamed El-Erian und mir – zeigt auf, dass strukturelle Veränderungen notwendig sind, um auf diese Erschütterungen angemessen zu reagieren. Wir betonen aber, dass es kein Patentrezept gibt, das alles sofort in Ordnung bringt. Unsere Empfehlung lautet, das komplexe Umfeld besser zu verstehen und kleine zielgerichtete Schritte in die richtige Richtung zu machen. Ziel ist es, den Menschen zu helfen, die Dynamik zu begreifen und nicht in veralteten Denkmustern gefangen zu bleiben. Ein Beispiel hierfür ist die lange Phase geringen Inflationsdrucks, die viele von uns geprägt hat. Ein tiefgreifender Wandel, wie er nach der Pandemie eingetreten ist – mit einem Nachfrageschub und einer Angebotsseite, die nicht wie erwartet reagiert hat –, führt zu Fehleinschätzungen, da sich die Mentalität der Menschen in der Politik und im Finanzmarkt erst an die neuen Gegebenheiten anpassen muss.
Sie haben auch einen sehr interessanten Artikel über den zukünftigen Einfluss von künstlicher Intelligenz (KI) geschrieben. Glauben Sie, dass solche Technologien uns ins Paradies führen werden, weil sie alle großen Probleme wie Klimawandel, Kriege, Produktionsrückgänge und Krankheiten lösen werden? Ist im Jahr 2034 alles besser als heute?
Nun, ich will nicht übertreiben, aber ich denke, dass wir relativ selten eine derartige Menge von Werkzeugen in die Hand bekommen, die so mächtig sind wie diese. Die generative KI ist das Ende einer Reihe von Durchbrüchen in der KI, die alle auf neuronalen Netzen und Deep-Learning-Algorithmen beruhen. Nach der Spracherkennung war die Bilderkennung, um 2015/16, der erste enorm wichtige Durchbruch. Damals übertraf die KI den durchschnittlichen Menschen bei der visuellen Identifizierung von Objekten. Und jetzt haben wir die Familie der großen Sprachmodelle von generativer KI. Diese sind im Begriff, multimodal zu werden. Ich glaube, darin steckt so ein riesiges Potenzial, weil es sehr schwer ist, in der Wirtschaft, Wissenschaft oder Technologie einen Bereich zu finden, für den es keine bedeutenden Anwendungen für diese Art von Werkzeugen gibt. Und obwohl sie jetzt noch etwas teuer im Training und in der Nutzung sind, werden all diese Kosten allmählich sinken. In dem Artikel, den ich zusammen mit James Manyika verfasst habe, haben wir im Wesentlichen einen dieser Bereiche ausgewählt: den Mangel an Arbeitskräften, der überall herrscht. In den USA zum Beispiel scheint die Angebotsseite weniger elastisch zu sein, als wir dachten. Die alten Menschen gehen in Scharen in den Ruhestand. Die Abhängigkeitsquoten steigen. Meines Erachtens besteht eine mögliche Lösung darin, den Abwärtstrend des Produktivitätswachstums umzukehren. Ein enormer Anstieg ist möglich. Aber ist er ein Selbstgänger? Nein. Wir müssen auf dem Weg dahin viele Schwierigkeiten überwinden. Überall herrscht großer Automatisierungswahn. Die Leute fragen sich: Wofür werden wir diese Dinge verwenden? Nun, wir werden sie natürlich einsetzen, um Menschen zu ersetzen. Erik Brynjolfsson, mein Kollege in Stanford, nennt das die „Turing-Falle“. Alan Turing schlug vor, den Fortschritt der KI anhand der Frage zu bewerten, wie nahe wir an der Entwicklung einer Maschine sind, die bei der Interaktion mit Menschen tatsächlich selbst menschlich wirkt. Und in der Tat wird KI immer an menschlicher Leistung gemessen. Der nächste Gedanke, den Menschen dann fast automatisch haben: Wenn die Maschine den Menschen übertrifft, warum schaffen wir dann nicht den Menschen ab? Das ist das Automation-Bias, also das übermäßige Vertrauen in digitale Assistenten als leistungsstarke maschinell-menschliche Kollaborateure. Man geht davon aus, dass wir einen enormen Produktivitätssprung erleben könnten, wenn wir genügend Menschen mit leistungsstarken digitalen Assistenten ausstatten, die den ersten Entwurf eines Arztberichts oder eines Computercodes schreiben. Der Grund, warum das nicht unausweichlich ist, liegt darin, dass es bei früheren Technologien, zum Beispiel der Automatisierung von Routinejobs, zu einer erheblichen Abweichung im Muster der digitalen Übernahme kam. In der Technologiebranche: hohe Akzeptanz; im Finanzsektor: hohe Akzeptanz. Aber sobald man den Regierungs- und Gesundheitssektor erreicht, sinkt die Akzeptanz erheblich. Es kann also sein, dass wir nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen, wenn die politische Agenda weiterhin lautet: Das ist wirklich gefährliches Zeug, wir sollten es besser regulieren; und wir haben kein Programm, das sicherstellt, dass KI für ein breites Spektrum von Wirtschaftsinstitutionen zugänglich und verständlich wird. Die kurze Antwort auf Ihre Frage lautet also: Es gibt hier ein riesiges Potenzial. In der wissenschaftlichen Forschung etwa wird KI mit Teilen der biomedizinischen Wissenschaft verschmelzen und für verblüffende Durchbrüche sorgen. Aber solche Durchbrüche könnten entweder nur punktuell oder flächendeckend erfolgen. Wir müssen demnach dafür sorgen, dass sie in der Wirtschaft möglichst flächendeckend stattfinden.
Vordenker wie Yuval Noah Harari glauben daran, dass Technologie langfristig zu einem besseren Leben führt. Allerdings müssten wir noch viele größere und kleinere Krisen durchstehen, die nicht alle von uns überleben werden, sat er
Ich stimme definitiv zu, dass jede neue und einflussreiche Technologie zwei charakteristische Merkmale aufweist: Erstens ist sie extrem disruptiv, da sie erhebliche Turbulenzen und Veränderungen mit sich bringt. So werden beispielsweise einige Arbeitsplätze wegfallen oder in abgespeckter Weise fortbestehen. Wenn dies nicht gut gehandhabt wird – also nicht in einer Weise, die Menschen schützt und ihnen hilft, sich an diese Übergänge anzupassen –, kann das zu politischen und sozialen Unruhen führen. Zweitens sind mächtige Technologien immer gefährlich. Vergessen wir die KI für einen Moment. Genome-Editing ist eine äußerst bedeutende Technologie, die erst in den letzten 10 oder 15 Jahren entdeckt wurde. Aber ihr Missbrauchspotenzial ist hoch, was sie zu einer ziemlich gefährlichen Sache macht, oder? Der Gedanke, dass wir vorsichtig sein und uns im Falle der biomedizinischen Wissenschaften selbst regulieren müssen, ist also völlig richtig. Diese Form der Technologie ist immer ein zweischneidiges Schwert. Der einzige Punkt, in dem ich von Hararis Ansicht abweiche: Ich glaube nicht, dass diese Technologien automatisch die Welt aus den Fugen reißen, dass sie geopolitische Spannungen außer Kontrolle geraten lassen, dass sie alle multilateralen Institutionen an den Rand drängen, die wir für die Navigation in eine unsichere Zukunft benötigen. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht ein überschwänglicher Optimist, aber ich denke, wir können es besser machen als in der jüngsten Vergangenheit.
ChatGPT ist seit letztem Jahr verfügbar, wird aber immer noch misstrauisch beäugt. Sie haben geschrieben, dass KI zu Beginn des nächsten Jahrzehnts zu einem der wichtigsten Faktoren für den weltweiten Wohlstand werden könnte. Das klingt sehr aufregend, aber wohin wird es uns führen? Wo stehen wir im Jahr 2034?
Die kurze Antwort lautet: Niemand weiß das, denn wir müssen uns erst mal auf die Reise begeben. Und wir können auf dem Weg zum Ziel entweder unser Bestmögliches leisten – als Regulierungsbehörden, politische Entscheidungsträger und so weiter –, indem wir die Menschen schützen, das disruptive Potenzial der KI erkennen und die wichtigen Investitionen des öffentlichen Sektors tätigen; oder wir können scheitern. Lassen Sie mich dazu anmerken: Die Plattformen und Cloud-Computing-Systeme, die über die nötige Rechenleistung verfügen, um die großen Sprachmodelle und die generative KI zu trainieren, werden multimodal sein, und das sind sie auch schon. Alle diese Plattformen befinden sich in China und in den Vereinigten Staaten. Europa braucht sie auch. Eine Wirtschaftseinheit von der Größe Europas sollte eine einflussreiche Rolle spielen und unseren Kurs steuern, so wie Europa auch steuert, wohin wir uns bei Klimawandel und Energiewende bewegen. Wir brauchen meiner Meinung nach dringend eine europäische Führung. Und dafür sind Investitionen des öffentlichen Sektors erforderlich. In den USA gibt es kein wissenschaftlich verfügbares Cloud-Computing-System, das die Forschungsgemeinschaft nutzen kann. Also müssen sie sich an Amazon, Meta, Google, Microsoft und Co. wenden, um ihre Algorithmen zu trainieren. Das bedeutet, dass selbst wir in den USA eine milliardenschwere Investition benötigen, die uns dabei hilft, eine integrative Strategie vorzubereiten, bei der alle – insbesondere die Wissenschaftler – in diesen Trainingsprozess einbezogen werden. Das schafft einen Strukturwandel. In den USA hatten wir ein großes Infrastrukturgesetz. Dann hatten wir den CHIPS and Science Act, der zum einen China in Schach halten und zum anderen natürlich die modernsten Chipherstellungskapazitäten in die USA bringen soll, für den Fall, dass wir sie jemals ausbauen müssen. Aber zumindest geht es nicht darum, alles in die USA zu verlagern, sondern nur genug, damit wir das nötige Know-how zur Verfügung haben, falls sich die Welt in eine für uns untragbare Richtung entwickelt. Und dann sind da noch die enormen Investitionen in Wissenschaft und Technologie sowie der Inflation Reduction Act. Letzterer stellt für Europa ein kleines Problem dar, weil er im Grunde genommen ein Versuch ist, die Agenda zum Klimaschutz voranzubringen, auch im technologischen Bereich. Das sind einige große Investitionen. In einer Zeit, in der man den Strukturwandel vorantreiben muss, sind diese großen Investitionen des öffentlichen Sektors wichtig. Ich glaube, die meisten Menschen verstehen, dass in einer Zeit des Strukturwandels mehrere Akteure im Spiel sind – die Wissenschaft, die Regierung als Investor und natürlich der private Sektor, der gewissermaßen der Motor des Ganzen ist. Eines der Dinge, die mir in Europa Sorgen machen, ist, dass wir diese strukturellen Veränderungen brauchen, um über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren zu gedeihen. Aber mit der dezentralisierten Struktur, die wir dort haben, ist es sehr schwierig, diese Investitionen des öffentlichen Sektors effizient und in großem Umfang zu tätigen. Ich stimme also mit denen überein, die sagen: Wir verstehen, warum Sie keine vollständige Zentralisierung der Finanzen wollen, aber zentralisieren Sie wenigstens die wesentlichen Dinge – die großen Investitionen in Wissenschaft und Technologie, die diese strukturellen Veränderungen untermauern.
Sie haben über die Auswirkungen der technologischen Revolution auf verschiedene Sektoren geschrieben, insbesondere auf die Marketing- und Werbeindustrie, und dabei die Sorge geäußert, dass die Automatisierung Fachleute wie Maskenbildner, Kameraleute und andere kreative ersetzen könnte. Bedeutet das, dass vielen Menschen Arbeitslosigkeit droht?
Ein Wechsel in andere Branchen, in denen die Arbeit mit Menschen stärker gefragt ist, wie zum Beispiel im Gesundheitswesen, ist für alle Betroffenen kaum machbar. Ich möchte nicht den rosigen Eindruck erwecken, dass alle davon profitieren werden. Wenn wir letztendlich aus der Kohle aussteigen, werden eine ganze Reihe von Menschen in Polen ihren Arbeitsplatz verlieren – ganz zu schweigen von allen anderen Ländern, in denen Generationen von Familienangehörigen Kohle abgebaut haben. Also nein, es ist sicherlich nicht alles wunderbar. Ich habe versucht, mich gegen die Vorstellung zu wehren, dass jeder Beruf gleichbedeutend mit dem Schreiben von Medientexten ist. Wahrscheinlich gibt es eine relativ stabile Nachfrage nach dieser Art von Arbeit. Man kann sich eine Welt vorstellen, in der es einen enormen Anstieg der Nachfrage gibt, und wahrscheinlich sind die Auswirkungen auf die Beschäftigungsquoten nicht so groß. Aber das glaube ich nicht. Ich treffe immer wieder auf dieses Problem. Wenn man über die Auswirkungen großer Produktivitätsveränderungen nachdenkt, sagen wir mal solche, die nicht mit einer vollständigen Automatisierung gleichzusetzen sind, geht man immer davon aus, dass die Nachfrage feststeht. Das heißt, wir brauchen eine bestimmte Menge an Output. Wenn die Menschen, die den produzieren, produktiver sind, dann brauchen wir weniger Menschen, richtig? Was ich damit sagen will, ist, dass es Sektoren gibt, in denen sich die Nachfrage nur wenig ändert. Aber wenn wir uns die Software-Entwicklung ansehen, dann werden Software-Ingenieure digitale Assistenten haben – viele von ihnen haben das bereits –, die den ersten Entwurf verschiedener Teile des Codes schreiben. Und dann stellt sich die Frage, ob wir vielleicht weniger Ingenieure brauchen. Gleichzeitig müssen wir bedenken, dass wir ganze Volkswirtschaften auf Software aufbauen, und die Behauptung, dass die Nachfrage nach Software in den nächsten zehn Jahren konstant bleibt, erscheint mir zumindest fraglich. Vielleicht ist das die Meinung eines Ökonomen, aber es gibt mehrere Ansätze, wenn man versucht, die Auswirkungen zu ermitteln. Und der Produktivitätseffekt der Automatisierung ist nur einer davon.
Das pessimistische Szenario für 2034 könnte lauten, dass wir in den letzten zehn Jahren viele Fortschritte erzielt haben, aber zu wenige Menschen genug Geld verdienen werden, um von diesen Möglichkeiten zu profitieren.
Nun, das ist eine weitere Herausforderung. Im Allgemeinen bin ich der Auffassung, und die Geschichte bestätigt mich hierbei, dass, wenn man den Menschen Werkzeuge gibt, die sie produktiver machen, ihr Einkommen letztendlich steigen wird. Dies ist sozusagen die Geschichte der industriellen Revolution. Im Falle der digitalen Revolution haben wir aufgrund einer früheren Phase der Digitalisierung, in der wir im Wesentlichen Routinetätigkeiten eliminiert haben, negative Trends in der Einkommensverteilung gesehen. Dabei handelte es sich um Jobs, die – im Gegensatz zur modernen KI – von Maschinen selbstständig erledigt werden konnten. Durch die digitalen Technologien haben wir viele Arbeitsplätze abgebaut, und höchstwahrscheinlich werden wir noch viele weitere abbauen oder zumindest stark verändern. Der Übergang von einem Gleichgewicht zum anderen ist für viele Menschen unangenehm. Deshalb fragen sich die Leute natürlich manchmal, ob es in Zukunft genügend Arbeitsplätze geben wird. Aber ich denke, das ist wahrscheinlich nicht allzu besorgniserregend, besonders wenn man den Anpassungsprozessen etwas Zeit gibt, um zu wirken. Auf mikroökonomischer Ebene könnten Führungskräfte, die jetzt Mitarbeitende entlassen und durch KIs ersetzen, jedoch irgendwann feststellen, dass die Nachfrage steigt und sie wieder Mitarbeitende einstellen müssen.
Dank KI wird es leichter, komplexe Problemlösung Global zugänglich zu machen. Glauben Sie, dass wir damit unsere Energieprobleme bewältigen können?
KI wird sicherlich einen bedeutenden Beitrag zur Energiewende leisten, sowohl in Bezug auf Energieeffizienz als auch auf die ökologische Gestaltung des Energiemix. KI wird auch intelligente Stromnetze effizienter betreiben als unsere derzeitigen Technologien. Allerdings ist KI nicht die alleinige Lösung. Wir brauchen auch die Materialwissenschaft: fortschrittliche Batterien, verbesserte Speichermöglichkeiten und Back-up-Energiequellen für Zeiten, in denen Sonne und Wind nicht verfügbar sind. Kurz gesagt, KI spielt eine entscheidende Rolle in vielen technologischen und wissenschaftlichen Bereichen, einschließlich der Energiewende, aber sie ist keineswegs die einzige Lösung. Was mich optimistisch stimmt – und wir auch im Buch diskutieren –, ist der Trend hin zu leistungsfähigen Technologien, die zunehmend kostengünstig werden und damit weltweit zugänglich sind. Ein Beispiel: Das Unternehmen DeepMind mit Sitz in London, das zu Alphabet gehört, ist dafür bekannt, dass es eine Maschine dazu gebracht hat, das Spiel Go in zwei Versionen zu gewinnen. Die zweite Version war verblüffend, weil die Maschine gegen sich selbst spielte und Strategien entdeckte, die vor ihr noch kein Mensch entdeckt hatte. Bei der heutigen Computertechnologie gibt es so viele Permutationen, dass man sie nicht katalogisieren kann. Dennoch haben die Entwickler einen Weg gefunden, wie die Maschine gegen die besten Spieler der Welt gewinnen kann. Ihr nächstes Projekt hieß AlphaFold, für das sie mit Wissenschaftlern und Biologen zusammenarbeiteten. Und obwohl es vielleicht etwas nerdig klingt, hatten sie sich das Ziel gesetzt, eine Maschine zu entwickeln, die die dreidimensionale Struktur von Proteinen anhand der Aminosäuresequenz, die ein Protein definiert, vorhersagen kann. Nach zwei Jahren harter Arbeit ist es ihnen schließlich gelungen. Diese Vorhersagemaschinen sind natürlich nicht unfehlbar. Im Falle von AlphaFold sollen sie eine Genauigkeit von 95 Prozent haben. Aber herauszufinden, wie das Protein aussieht, auch wenn es nicht ganz genau ist, ist entscheidend, um zu sagen, woran es sich binden wird. Es handelt sich also um eine Kerntechnologie für Biopharmazeutika, biomedizinische Wissenschaften, Impfstoffe und so weiter. Ein hoch qualifizierter Labormitarbeiter bräuchte Wochen, um nur eine solche Struktur vorherzusagen. Als man also feststellte, dass es funktionierte, nahm man die 200 Millionen bekannten Proteine der Welt, sagte alle ihre dreidimensionalen Strukturen voraus und veröffentlichte die Ergebnisse in einer offenen Datenbank, auf die jeder auf der Welt mit der richtigen Ausbildung kostenlos zugreifen kann. In der Welt der biomedizinischen Wissenschaft ist das eine enorm produktivitätssteigernde Technologie. Ich denke, wir werden diese Geschichte in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft und Technologie immer wieder erleben, und ich hoffe, dass sie sich als eine wichtige Kraft erweisen wird. Wenn man sich die Kosten für die DNA-Sequenzierung, eine weitere Kerntechnologie, ansieht, dann hat sie sich etwa zehn Jahre lang nach dem Mooreschen Gesetz verhalten. Dann fiel plötzlich der Groschen, und sie ließen das Mooresche Gesetz alt aussehen. Eine vollständige DNA-Sequenz kostete anfangs zehn Millionen Dollar – heute sind es nur etwa 250 Dollar.
Wenn es um Technologie geht, beobachten wir oft eine Preissenkung. Deutet das darauf hin, das ein Land wie Russland, das stark von Öl und Gas abhängig ist, aufgrund fehlender alternativer wirtschaftlicher Möglichkeiten dauerhaft Kriege führen muss?
Ich bin der Ansicht, dass Kriege keine gute Lösung für derartige wirtschaftliche Herausforderungen sind. Aber es stimmt, dass man sich an strukturelle Veränderungen anpassen muss, wenn man Technologien hat, die durch ihre Kosteneffizienz den Strukturwandel vorantreiben. Im Falle Russlands könnten fossile Brennstoffe aufgrund der Energiewende weniger rentabel werden, und das Land müsste alternative Wege finden, um wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Das ist sicherlich herausfordernd. Gleichzeitig verfügt Russland über reichlich menschliches Talent. Es gab eine Zeit, in der das Land einige der besten Software-Ingenieure und Mathematiker weltweit hervorbrachte, insbesondere aufgrund der weniger fortschrittlichen Hardware. Jedes Land hat seine Herausforderungen in Bezug auf die Regierungsführung, wir alle können irgendwann einmal den falschen Weg einschlagen. Trotz der aktuellen Schwierigkeiten sehe ich keinen Grund, warum Russland mit seinem Potenzial in Wissenschaft, Technologie und Mathematik diesen Übergang nicht bewältigen könnte. Er mag schmerzhaft sein, aber es ist nicht augeschlossen, dass sie es schaffen. Ich glaube nicht, dass das Land zwangsläufig einer katastrophalen Zukunft entgegensehen muss, nur weil die Nachfrage nach Öl und Gas möglicherweise nachlässt.
Wir sind es gewohnt, mit dem lösen von Problemen neue Probleme zu schaffen. Ein Beispiel: Derzeit verlieren viele Menschen in der Ukraine ihr Leben. Können Sie sich vorstellen, dass es nach dem Krieg zu einer Massenmigration von Frauen und Kindern nach Westen kommt?
Ja, das ist durchaus denkbar. Die umfassende Zerstörung von Häusern und Infrastruktur ist alarmierend. Eigentlich würde ich sagen, dass Menschen weiterhin dort leben wollen, wo sie sich zu Hause fühlen. Und wenn es gelingen würde, den Krieg zu beenden, und anschließend eine umfassende internationale Anstrengung unternommen würde, um beim Wiederaufbau zu helfen, könnte das eine Massenabwanderung möglicherweise abschwächen. Wenn jedoch der Krieg weitergeht und keine Bemühungen unternommen werden, den Wohlstand in der Ukraine wiederherzustellen, könnten die Menschen irgendwann resignieren und versuchen, zumindest ihren Kindern irgendwo anders einen Neuanfang zu ermöglichen. Leider hat bisher niemand, den ich kenne, eine Antwort darauf, wie man diesen Konflikt beenden kann.
Derzeit sind die USA und China Vorreiter in Sachen KI. Wenn KI die Welt in den nächsten zehn Jahren verändern wird, was bedeutet das für das künftige wirtschaftliche Gleichgewicht?
Nun, wir werden miteinander konkurrieren. Ein Grund für die aktuellen geopolitischen Spannungen liegt darin, dass die Menschen in der KI-Welt – ein Großteil Chinesen – früher ständig miteinander sprechen konnten und sich das jetzt völlig geändert hat: Sie können überhaupt nicht mehr miteinander reden. Auf grundlegender wissenschaftlicher Ebene hat sich also die nationale Sicherheitsagenda durchgesetzt, die immer mehr Einfluss auf die Wirtschaftspolitik nimmt. Außerdem versuchen die USA, China den Zugang zu den Chips zu verwehren, die zum Trainieren der größten generativen KI-Algorithmen verwendet werden, und China verfügt nicht über voll entwickelte Halbleiterkapazitäten. Diese beiden Akteure spielen also ein ziemlich komplexes Spiel, und dabei geht es nicht nur um Wirtschaft, sondern auch um nationale Sicherheit und strategischen Wettbewerb. Ich denke, dass beide Seiten auf die eine oder andere Weise versuchen, den wirtschaftlichen Schaden dieses Wettbewerbs zu begrenzen, weil sie einander nicht trauen. Der US-Sicherheitsberater Jake Sullivan nennt das „einen kleinen Garten mit hohen Mauern“. Der kleine Garten bedeutet, dass wir nicht wollen, dass sich die Beschränkungen auf die gesamte Wirtschaft ausweiten. Aber wir können nicht zu einer Welt zurückkehren, in der die gesamte Weltwirtschaft auf komparativen Vorteilen und Effizienz aufgebaut war. Die Fragen der nationalen Sicherheit sind einfach zu wichtig und komplex geworden. Die Unternehmen diversifizieren sich als Reaktion auf Erschütterungen und geopolitische Spannungen, deren Umfang und Anzahl immer größer werden. Wenn man in die Zukunft blickt, denke ich, dass es ein Szenario gibt, in dem Europa zu einem noch einflussreicheren Akteur wird, indem es als geschlossene Einheit auftritt – so wie es das angesichts des Klimawandels tut. Und dann ist da noch Indien: Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen ist Indien ungefähr so groß wie China im Jahr 2008. Aber als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt ist es ein zukünftiger Wirtschaftsriese. Mit Wachstumsraten von sieben oder acht Prozent wird es in relativ naher Zukunft Deutschland und Japan überholen. Und dann wird es die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein.
Wie sehen Sie die Zukunft Chinas?
Es gibt hier eine gute und eine schlechte Seite. Ein großer Teil der Welt hat ein Inflationsproblem und leidet unter einer Art Angebotsbeschränkung. In China ist genau das Gegenteil der Fall. China hat ein Problem mit der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, und das bremst das Land. Woher das kommt? Lassen Sie mich einen Zeithorizont dafür aufstellen: Ich denke, China wird ein wenig damit zu kämpfen haben, die Wachstumsdynamik wiederherzustellen, wahrscheinlich in den nächsten zwei oder drei Jahren, wenn sie die Dinge richtig anpacken. Der offensichtlichste Punkt ist der, über den jeder spricht, nämlich der Immobiliensektor. Sie haben sich in der Vergangenheit auf diesen Sektor verlassen, um das Wachstum anzukurbeln. Nun haben sie eine enorme Überkapazität und finanzielle Notlagen bei einem ziemlich großen Teil der Bauträgergemeinschaft. Sie müssen das bereinigen und versuchen, mit den Überkapazitäten fertig zu werden, was sie ebenfalls bremsen wird. Zweitens sind sie stark von Immobilien abhängig. In sie investieren die Menschen. Wenn dieser Markt in Schwierigkeiten gerät und die Werte sinken, wird der Konsum, der eine wichtige Komponente darstellt, fast automatisch gedämpft. Diese Komponente ist aber nicht so wichtig wie in anderen Ländern der Welt. China ist strukturell einzigartig, weil das verfügbare Haushaltseinkommen und die Verbrauchsseite der Wirtschaft im Verhältnis zur Gesamtnachfrage so niedrig sind. Das Land weiß das, und es muss strukturell umlenken. Die Politikexperten wissen, dass sie einfach den Investitionshebel umlegen können – das haben sie in der Vergangenheit auch getan, und es hat einige ziemlich gute Ergebnisse hervorgebracht, wie ein Autobahnsystem oder eine Hochgeschwindigkeitsbahn. Aber langsam gehen ihnen die Möglichkeiten aus. Wenn sie also nur die falschen, investitionsorientierten Anreize setzen, werden sie nur noch größere Probleme schaffen. Auch die Kommunalverwaltungen sind aus dem Gleichgewicht geraten, weil sie sich aufgrund der aktuellen Immobiliensituation nicht mehr durch Grundstücksverkäufe finanzieren können. Und sie haben nicht genug Einnahmen, um ihre Aufgaben im Hinblick auf die Erbringung von Dienstleistungen zu erfüllen. Sie brauchen also eine größere Steuerreform. Und die Chinesen haben ihre Meinung über die Regulierung des Privatsektors oft geändert. An einem Tag hämmern sie auf ihn ein, am nächsten sagen sie, dass sie ihn brauchen. Ich glaube, das Vertrauen in den privaten Sektor ist ein
wenig verloren gegangen. Die Investoren wissen also nicht so recht, wo ihr Platz an der Sonne unter dieser Regierung ist. Daher investieren sie auch zu wenig. Die ausländischen Geschäftsleute lassen sich in zwei Kategorien einteilen: diejenigen, die wegen der großartigen Möglichkeiten bleiben, und diejenigen, die das System nicht durchschauen und beschlossen haben, dass es unmöglich ist, zu investieren, weil die nationalen Sicherheitsgesetze zu vage für eine klare Richtlinie sind, die vorgibt, was man tun kann und was nicht. Sie geben deshalb auf und ziehen weiter. Ich glaube nicht, dass das fatale Mängel sind. Das chinesische Wachstumspotenzial ist enorm. Das Land tätigt hohe Investitionen in die Hochschulbildung und in das Humankapital. Es ist in Wissenschaft und Technologie in vielerlei Hinsicht führend. Man investiert in ein riesiges unternehmerisches Ökosystem im Bereich Biomedizin und Biotechnologie. Das ist die gute Seite. Die schlechte Seite ist, dass die Chinesen drei Jahre Zeit haben, einige ziemlich große Ungleichgewichte zu beseitigen und das Vertrauen wiederherzustellen. Sie kämpfen mit Gegenwinden, die sie nicht kannten: Jugendarbeitslosigkeit, eine schrumpfende Bevölkerung, eine schrumpfende Anzahl der Arbeitskräfte. Auch das betrachte ich nicht als fatal, aber in der Blütezeit des chinesischen Wachstums gab es diese Probleme nicht. Und unterm Strich sind viele Leute pessimistisch, was China angeht. Das ist eine Schande, denn das Land hat eine Menge kluger Köpfe, die wissen, was sie tun. Wenn man sie ihre Arbeit machen lässt, werden sie diese Probleme lösen. Ich sehe keinen wirtschaftlichen Grund, auch nur ein bisschen pessimistisch zu sein. Ich denke, sie können innerhalb des nächsten Jahrzehnts ein potenzielles Wachstum von fünf Prozent wiederherstellen. Und China verfügt über die Dinge, die in vielen anderen Ländern fehlen, die dieses Stadium erreichen, nämlich die immateriellen Werte, die man wirklich braucht, um zu wachsen. Die Frage ist nur, ob das Regierungsmodell diese gesamte technologische und wirtschaftliche Macht freisetzt oder nicht. Das Potenzial ist auf jeden Fall vorhanden.
Eine der größten Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist der Klimawandel. Glauben Sie, dass in den nächsten zehn Jahren eine Lösung in Zusammenarbeit mit China gefunden werden kann?
Grundsätzlich ja. Wir machen bereits Fortschritte, aber es ist ein schwieriges Unterfangen. Und eine gewisse Form des Klimawandels ist unvermeidlich. Doch Europa reduziert seine Kohlenstoffintensität in einem ziemlich schnellen Tempo, das sich wahrscheinlich noch beschleunigen wird. Auch die USA sind dabei, ihre sehr hohen Werte zu senken. China ist mit dem Faktor zwei der größte Emittent der Welt vor den USA. Wenn China also aussteigen würde, gäbe es im Grunde keine Lösung. Aber sie werden nicht aussteigen. Wahrscheinlich werden sie den Höhepunkt ihrer Kohlenstoffemissionen früher als alle anderen Länder in der Geschichte erreichen. Die meisten Experten gehen davon aus, dass dieser Höhepunkt vor oder bis 2030 erreicht wird. Der Joker ist Indien, denn das Land hat noch ein enormes Wachstum vor sich. Während die Pro-Kopf-Emissionen niedrig sind, sind die Gesamtemissionen aufgrund der großen Bevölkerungszahl sehr hoch. Wenn wir also dieses Problem lösen wollen, müssen wir einen Weg finden, mit Indien zusammenzuarbeiten und das Land dazu bringen, einen Weg einzuschlagen, der sich von allen bisherigen unterscheidet und bei dem die CO2-Emissionen viel früher im Entwicklungszyklus zurückgehen. Abgesehen davon: Werden wir die Ziele erreichen, die die Internationale Energieagentur und andere aufgestellt haben, um einen Temperaturanstieg von über 1,5 Grad Celsius zu verhindern? Ich bezweifle das, insbesondere die kurzfristigen Ziele. Deshalb werden wir uns unweigerlich mit dem Klimawandel und den damit verbundenen Risiken auseinandersetzen müssen. Das heißt aber nicht, dass wir das Problem nicht irgendwann gemeinsam lösen können. Aus meiner Sicht lautet die Schlüsselfrage: Werden sich die Hauptakteure, also die zehn größten Verursacher von Emissionen, engagieren und den Wandel vorantreiben? Wenn alle Industrieländer – also die USA, Kanada, Europa, Indien, China, Japan und so weiter – aggressiv an die Sache herangehen, packen wir einen ziemlich großen Teil des Problems an. Ich bin also vorsichtig optimistisch. Wenn man in Schwellenländern vor 15 Jahren das Thema ansprach, hielten sie es für uninteressant. Die politischen Entscheidungsträger verstanden es, aber die Menschen nicht. Jetzt, nach den Klimaereignissen und einer ganzen Reihe von Aufklärungsmaßnahmen, scheint das Engagement weltweit zuzunehmen. Daher denke ich, dass das nächste Jahrzehnt einige ziemlich dramatische Fortschritte bringen wird. Ob sie ausreichen, ist schwer zu sagen, aber sie gehen auf jeden Fall in die richtige Richtung. Wobei Europa eine wichtige Führungsrolle spielt.
Können Sie uns etwas Positives mit auf den Weg ins Jahr 2034 geben?
Seit der industriellen Revolution wurde das Wachstum im Wesentlichen durch die Anwendung von Wissenschaft und Technologie vorangetrieben. Und jetzt haben wir diese unglaublich mächtigen Werkzeuge. Ich denke, die größten Herausforderungen sind nicht wirtschaftlicher oder technologischer Natur. Sie sind politischer Natur. Um herauszufinden, ob ein Unternehmen oder ein Land etwas tun wird, frage ich mich immer: Haben sie die Ressourcen, die Kompetenz und den Willen? In Bezug auf Ressourcen scheinen die Dimensionen außergewöhnlich zu sein. Was die Kompetenz betrifft, so gibt es auf der Welt eine Menge Talente. Die Richtung, in die wir uns bewegen, hängt also davon ab, ob wir den politischen Willen haben, uns in eine Richtung zu bewegen, die das Leben der Menschen verbessert, das Risiko verringert und die Sicherheit erhöht. Ich hoffe, die Antwort ist Ja. Aber es gibt auch eine ganze Menge Anzeichen dafür, dass wir uns manchmal verirren und die falsche Richtung einschlagen. Ich habe kürzlich ein Buch von Rohini Nilekani gelesen. Sie ist Inderin, eine Philanthropin, und ihre These lautet, dass der Kern der Lösung nicht bei Regierungen oder Märkten liegt, sondern in der Gesellschaft, den Institutionen und den Werten, die sie letztlich antreiben. Sie sagt: „Society first“, also die Gesellschaft stehe an erster Stelle. Ich halte das für eine sehr interessante Perspektive.