Nein, es ist kein Zufall, wenn Kunden beim Online-Kosmetikhändler Flaconi Produktempfehlungen bekommen, die perfekt auf ihren Haut- und Haartyp abgestimmt sind. Es ist das Werk einer Künstlichen Intelligenz (KI). Entwickelt wurde sie vom israelisch-amerikanischen Start-up Dynamic Yield. Dessen KI registriert unter anderem, über welchen Weg der Kunde auf eine Website kommt, wie lange er auf einer Seite verweilt und wohin die Maus bewegt wird.
Werden diese Daten mit Informationen über bereits getätigte Einkäufe verknüpft, kann das System dem Kunden ziemlich genau das zeigen, wonach er gerade sucht. Liad Agmon, Gründer von Dynamic Yield, spricht in diesem Zusammenhang gern von echter Personalisierung: „Anstatt sich auf generische Korrelationen zwischen Gruppen oder auf den durchschnittlichen Nutzer zu konzentrieren, sind Marketingspezialisten heute daran interessiert, auf die individuellen Bedürfnisse eines Kunden zu reagieren.“
Online gut betreut
Rund 600 Millionen Verbraucher weltweit klicken sich regelmäßig durch Online-Shops, in denen sie von Agmons KI beobachtet werden. Zu seinen Kunden gehören etwa Ikea, Media Markt, Deichmann und seit Kurzem eben auch Flaconi. Der Kosmetikhändler plant nun zudem, die Duftpräferenzen bei Empfehlungen zu berücksichtigen sowie ein auf den Kaufprozess und Warenkorbwert abgestimmtes Messaging einzuführen. Der Grundgedanke hinter solchen Maßnahmen: Wer sich online ähnlich gut betreut fühlt wie durch Verkäufer im Geschäft, bricht den Kaufprozess seltener ab.
Dass die KI von Dynamic Yield auch offline funktioniert, will McDonald’s beweisen. Die Fast-Food-Kette hat das Start-up für 300 Millionen Dollar gekauft. Mithilfe der Technologie will man nun zunächst in den USA die Steuerung der Werbung auf den Außendisplays optimieren sowie Drive-Thru-Kunden personalisierte Angebote unterbreiten.
Datensammler Supermarkt
Was bei der Personalisierung im stationären Handel bereits möglich ist, zeigt ein Blick nach China. Wer den Alibaba Fashion AI Store in Hongkong betritt, steht unter Dauerbeobachtung. Per Gesichtserkennung wird der Kunde sofort identifiziert. Sensoren an der Kleidung in den Regalen registrieren, was er sich anschaut. Smarte Spiegel zeigen dank Augmented-Reality-Funktion, wie das gewählte Produkt an ihm aussehen würde – Anprobe nicht nötig. Zusätzlich geben die Spiegel personalisierte Empfehlungen, etwa zu passenden Accessoires.
Ähnlich ist es bei Freshippo. Der Supermarkt gehört ebenfalls zum Handelskonzern Alibaba. Mit dem Betreten der Filiale wird automatisch eine Verbindung zu dessen Mobile-Payment-System AliPay hergestellt. Und schon erhält der Kunde Rabattcodes für Waren, die er sich zuvor online angeschaut hat, sowie Hinweise auf solche, die ihn entsprechend früheren Einkäufen interessieren könnten. Wer mehr über ein Angebot erfahren möchte – beispielsweise zur Herkunft oder richtigen -Zubereitung –, scannt den QR-Code auf den Preisschildern. Diese sind elektronisch und verändern die Preise in Echtzeit abhängig von Faktoren wie der erwarteten Nachfrage, dem Wetter oder Rabattaktionen der Konkurrenz.
Wer bei Freshippo einkauft, kann sein Portemonnaie getrost zu Hause lassen. Denn bezahlt wird per Smartphone. Oder per Gesichtserkennung. Smile to pay ist die nächste Stufe des bargeldlosen Zahlens: Ein Algorithmus gleicht den mit einer 3-D-Kamera aufgenommenen Scan des Gesichts mit den bei AliPay hinterlegten biometrischen Daten ab, um die Person eindeutig zu identifizieren.
Schöne neue Shoppingwelt
New Retail heißt das Konzept, das Alibaba-Gründer Jack Ma 2016 entwickelt hat. Es beschreibt die perfekte Verschmelzung von Online- und stationärem Handel. Und irgendwie klingt das vertraut: „Wir sprechen jetzt seit zehn Jahren über Omnichannel-Handel. Ich würde mich freuen, wenn E-Commerce irgendwann tatsächlich nicht mehr für Electronic Commerce, sondern für Everywhere Commerce steht“, sagt Benjamin Ferreau, Geschäftsführer von Akanoo. Das Unternehmen ist spezialisiert auf die Optimierung der Customer-Journey. „Dafür brauchen wir ein Umdenken – nicht was die Technologie angeht, sondern bei der Organisationsstruktur. Denn zu oft gibt es hierzulande noch getrennte Abteilungen für den Online- und den Offline-Handel.“
Wichtigstes Werkzeug in der New-Retail-Welt ist das Smartphone. Es dient als Verbindung zwischen Konsumenten und Händlern. Die zentrale Währung sind Daten. Und bei dem Thema sind Chinesen weit weniger empfindlich als Deutsche. Laut der „Global Consumer Insights Survey“ der Beratung PwC teilen Chinesen auch deshalb so bedenkenlos viele private Informationen mit Unternehmen, weil sie auf personalisierte Einkaufserlebnisse enormen Wert legen. Dafür wühlen sich KI durch Unmengen an Daten – auf der Suche nach Mustern, die helfen, den nächsten Schritt des Kunden vorauszuahnen.
Erste Experimente
Und hierzulande? Es ist nicht so, dass der Handel seinen Datenschatz völlig ignorieren würde. Laut Kölner EHI Retail Institute nutzt knapp ein Drittel der Handelsunternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz Machine-Learning-Systeme; weitere 36 Prozent pla?nen entsprechende Projekte in den nächsten drei Jahren. Erste Händler experimentieren etwa mit Robotern, die Kunden den Weg zum gesuchten Produkt weisen oder registrieren, wann Waren nachgefüllt werden sollten. So sind zum Beispiel Roboter namens Paul in einigen Saturn-Filialen im Einsatz. Aber die meisten KI-Anwendungen bleiben für den Kunden unsichtbar, etwa wenn die Technologie bei der Personalplanung hilft.
Die komplette Personalisierung hingegen ist in Deutschland primär ein Thema der Online-Welt. Denn: „Online-Shopping verfolgt einen praktischeren Ansatz, während der stationäre Handel stärker vom Moment der Entdeckung lebt“, sagt Agmon. „Gehen, sehen, hören, riechen und berühren sind Teil eines ganzheitlichen Einkaufserlebnisses. Es ist unmöglich, das online über eine zweidimensionale Website nachzuahmen.“