Das Jahrhundertereignis Corona-Pandemie hat die Welt nachhaltig verändert. Wir haben neue Begriffe wie „Aerosolkonzentration“ oder „mRNA-Impfstoff “ gelernt; wir sehen und handhaben heute vieles anders als zuvor. Wie in einem gewaltigen Experiment wurde uns vor Augen geführt, welches Potenzial in der Digitalisierung steckt und welches Potenzial unsere Gesellschaft entfalten kann. Bei allem Schrecken: Wir sind der Zukunft ein gutes Stück näher gekommen.
Und darin liegt eine große Chance. Denn die Menschheit steht vor weiteren großen Herausforderungen. Zum Beispiel im Bereich Ernährung und Landwirtschaft: Im Jahr 2050 werden rund zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben und müssen möglichst umweltschonend und nachhaltig ernährt werden. Dabei ist der Hunger auf der Welt schon heute präsent; durch den Krieg in der Ukraine verschlimmert sich die Ernährungssituation sogar. Zugleich erschwert der Klimawandel die landwirtschaftliche Produktion – etwa weil extreme Wetterereignisse wie Dürren oder Überflutungen häufiger werden.
Große Herausforderungen gibt es auch im Gesundheitsbereich. Es leben nicht nur immer mehr Menschen auf der Welt, diese Menschen werden auch immer älter, wodurch Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs zunehmen. Wir haben also – trotz enormer Fortschritte in der Medizin – auch in Zukunft einen sehr großen Bedarf an neuen, besseren Medikamenten und Behandlungsmethoden.
Zugleich machen gewaltige wissenschaftliche Fortschritte Hoffnung, dass wir diese Herausforderungen bewältigen. Neue Erkenntnisse in Biologie und Chemie ermöglichen im Zusammenspiel mit der Digitalisierung bahnbrechende Innovationen, die das Zeug haben, Gesundheit und Ernährung zu revolutionieren. Schauen wir uns das also etwas genauer an.
Innovation in der Landwirtschaft: Präzision, Tempo und neue Geschäftsmodelle
Um die Herausforderungen in der Landwirtschaft zu bewältigen, reicht es nicht, sich mit dem Stand der Wissenschaft und der Technik zufriedenzugeben. Noch weniger zielführend wäre es, zu den landwirtschaftlichen Methoden der Vergangenheit zurückkehren zu wollen. Stattdessen müssen wir die Grenzen des Möglichen weiter verschieben und neue Technologien konsequent nutzen. Kurzum: Wir brauchen Innovation.
Digitale Instrumente können dazu beitragen, die Forschung zu beschleunigen und Innovationszyklen zu verkürzen. Die Bayer-Division Crop Science hat zum Beispiel im Sommer 2022 an ihrem Forschungsstandort in Monheim am Rhein einen wichtigen Schritt unternommen, um die Voraussetzungen dafür zu verbessern: Im hochmodernen Gewächshaus der Insektizid-Forschung, in dem sich die verschiedensten Klimabedingungen individuell simulieren lassen, wurde das erste 5G-Netz in Betrieb genommen. Auf einer Fläche von rund 11.000 Quadratmetern steht den Forschenden dort eine Netz- und IT-Infrastruktur zur Verfügung, mit der sie in der Insektizid-Forschung effizienter und schneller neue Technologien testen können. Roboter, die vollständig autonom arbeiten, können beispielsweise Bilder, Videos und andere Daten digital auswerten und mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) schneller neue Erkenntnisse über die Gesundheit der Pflanzen gewinnen.
Eine weitere wichtige Einsatzmöglichkeit digitaler Instrumente liegt in der landwirtschaftlichen Produktion selbst. Landwirte können heute auf umfangreiche Daten zugreifen, die ihnen bei ihren Produktionsentscheidungen helfen:
- Daten über lokale Umweltbedingungen kommen von Wetterstationen direkt aufs Tablet
- Sensoren, die an landwirtschaftlichem Gerät oder im Boden angebracht sind, steuern Daten über den Zustand des Felds bei
- Drohnen oder Satelliten liefern Bilder.
Auf dieser Grundlage können Landwirte viel bessere Entscheidungen über den Einsatz ihrer Betriebsmittel treffen. Sie können zum Beispiel effizienter und gezielter Pflanzenschutzmittel einsetzen – was Ressourcen spart und die Umwelt schont.
Hunderte Millionen Kleinbetriebe brauchen digitale Hilfe
Dabei ist der Einsatz digitaler Tools nicht auf moderne Landwirtschaftsbetriebe in Industrieländern beschränkt. Und das ist auch gut so, denn in vielen Ländern, beispielsweise in Asien oder Afrika, bestimmen Kleinbetriebe das Bild. Weltweit gibt es rund 550 Millionen davon; sie produzieren etwa 80 Prozent der Nahrungsmittel in den Entwicklungsregionen Asiens und der afrikanischen Länder südlich der Sahara.
Aber gerade solche Kleinbetriebe haben häufig keinen Zugang zu aktuellen Informationen. Dafür gibt es nun eine mobile App, die den Kleinbauern mit Echtzeitdaten zur Wetter- und Marktlage sowie agrarwissenschaftlichen Experteninformationen hilft, Ernten und Erträge zu steigern.
Zugleich werden durch die Nutzung digitaler Tools aber auch ganz neue Geschäftsmodelle denkbar, beispielsweise im Bereich Klimaschutz. Etwa 25 Prozent der Treibhausgas-Emissionen weltweit stammen aus der Wertschöpfungskette der Landwirtschaft – hier liegt also ein gewaltiger Hebel. Vor diesem Hintergrund arbeitet Bayer daran, den Ausstoß von Kohlendioxid in der landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette dauerhaft zu reduzieren und zu kompensieren.
Im Rahmen dieser Initiative wurde zum Beispiel „Project Carbonview“ entwickelt, eine spezielle digitale Lösung, die Landwirten in den USA dabei hilft, den CO2-Fußabdruck ihrer Wertschöpfungskette zu messen. Auf dieser Grundlage könnten sie eines Tages – bei entsprechender Marktakzeptanz – für die Nutzung klimafreundlicher Verfahren vergütet werden, was dem Klimaschutz in der Landwirtschaft eine völlig neue Dynamik verleihen würde.
Digitalisierung im Gesundheitsbereich: KI ist besser als jedes menschliche Gehirn
Auch im Gesundheitsbereich bietet die Digitalisierung gewaltige Chancen. Ebenso wie die Forschung im Agrarsektor kann auch die Pharmaforschung durch digitale Instrumente erheblich beschleunigt werden.
Zum Beispiel nutzen viele Pharma- und Biotechnologieunternehmen KI, um neue sogenannte Zielmoleküle für innovative Medikamente zu identifizieren. Computer sind in der Lage, in kürzester Zeit Zusammenhänge in riesigen Mengen von Molekular- und Gesundheitsdaten zu erkennen. Sie können so etwas viel besser, als es ein menschliches Gehirn je könnte. Mithilfe immer besserer Algorithmen können geeignete Arzneimittelkandidaten so immer schneller und effizienter identifiziert werden.
Ein erhebliches Potenzial zur Verkürzung der Zeit, die ein neues Medikament braucht, bis es auf den Markt kommt, liegt außerdem im Bereich klinischer Studien. Sie sind in der Regel besonders langwierig und teuer. Aber durch digitale Technologien können sie heute teilweise dezentral durchgeführt werden. Mithilfe von Software und Sensoren werden die Patientinnen und Patienten dabei virtuell zu Hause betreut und ihre Gesundheitsparameter überwacht. Die Anzahl der Klinikbesuche kann dadurch reduziert werden – was auch für die Patientinnen und Patienten eine Erleichterung darstellen kann.
Zudem ermöglichen die Digitalisierung von Gesundheitsdaten und der Fortschritt in der Präzisionsmedizin es heute, schneller diejenigen Patientinnen und Patienten ausfindig zu machen, die am ehesten von einem bestimmten Prüfpräparat profitieren würden. Dadurch kann sich die Studiendauer verkürzen. Und es kann auch bedeuten, dass weniger Patientinnen und Patienten benötigt werden, um zu zeigen, dass eine Behandlung anschlägt – was die Studiendauer ebenfalls verkürzt.
Die Nachfrage nach medizinischen Bildgebungsverfahren steigt
Aber die Digitalisierung hilft natürlich auch bei der Behandlung – angefangen bei der Diagnose. Die alternde Bevölkerung und die veränderten Lebensgewohnheiten führen zu einer wachsenden Zahl chronischer Krankheiten wie Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen. Entsprechend steigt die Nachfrage nach medizinischen Bildgebungsverfahren, um Krankheiten zu diagnostizieren sowie Behandlungsentscheidungen und Therapien zu stützen.
KI bietet das Potenzial, schneller zu Befunden zu kommen und den Durchsatz radiologischer Untersuchungen zu erhöhen. Daher hat Bayer vor Kurzem die Markteinführung einer KI-Plattform bekannt gegeben – eine Art App-Store für Radiologinnen und Radiologen mit digitalen und KI-basierten Applikationen. Diese haben das Ziel, in allen Phasen des Patientenwegs – von der Diagnose bis zur Behandlung – zu unterstützen.
Genetische Veranlagung und Präzisions-Arzneimittel
Ein weiterer wichtiger Trend in der Pharmabranche, bei dem digitale Instrumente eine entscheidende Rolle spielen, sind Präzisions-Arzneimittel, die auf eine bestimmte genetische Veranlagung zugeschnitten sind. Möglich wird dies durch Fortschritte in der Molekularbiologie, der Chemie und der Genomforschung, die durch die Tools der Datenanalyse unterstützt werden.
Beispielsweise entwickelt Bayer einen KI-Algorithmus zur Identifikation von Patientinnen und Patienten, deren Krebs wahrscheinlich auf einer bestimmten genetischen Veränderung beruht – und denen dann gezielt ein Medikament gegeben werden kann, das speziell zur Behandlung solcher Krebserkrankungen entwickelt wurde.
Zugleich werden auch im Gesundheitsbereich Informationen immer besser verfügbar. So entstehen immer leistungsfähigere Digital-Health-Plattformen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Gesundheit besser zu managen. Dabei geht es zum Beispiel darum, per Handy-App Symptome besser zu verstehen und Krankheitsbilder zu identifizieren – und im Bedarfsfall auch gleich den richtigen Arzt oder die passende medizinische Versorgung zu finden.
Und auch bei gesundheitsrelevanten Entscheidungen des Alltags können Apps helfen. Ein Beispiel dafür ist Care/of, ein New Yorker Start-up, an dem Bayer im Jahr 2020 eine Mehrheitsbeteiligung erworben hat. Das Unternehmen hat eine App entwickelt, die auf der Grundlage eines Fragebogens wissenschaftlich fundierte personalisierte Empfehlungen zur regelmäßigen Einnahme von Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln gibt, die zum jeweiligen Lebensstil und zu den Gesundheitszielen passen.
Deutschland muss bei der Digitalisierung aufholen – und zwar jetzt
Die genannten Beispiele zeigen konkret, welches Potenzial in der Digitalisierung steckt. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Gesundheit und Ernährung. Die Digitalisierung ist für sämtliche Branchen bedeutsam: Sie bietet in allen Bereichen den entscheidenden Hebel, der den Unterschied bedeuten kann zwischen Verwalten und Gestalten, Wissen und Bauchgefühl, Präzision und „Gießkanne“. Häufig verleihen erst digitale Tools unserem technologischen Können die Struktur und Zielgenauigkeit, die es braucht, um Probleme wirklich zu lösen.
Vor diesem Hintergrund ist es verwunderlich, dass die Politik in Deutschland und Europa weiter den eigenen Ansprüchen hinterherläuft: Im „Digital Riser Report 2021“ des European Center for Digital Competitiveness gehörte keines der großen EU-Länder unter den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern (G20) zu den besten. Deutschland belegte vor Indien und Japan nur den drittletzten Platz.
Diese technologische Lücke zu anderen Ländern muss geschlossen werden. Schließlich ist der Grad der Digitalisierung nicht nur ein entscheidender Faktor für unsere Problemlösungsfähigkeit, sondern auch für volkswirtschaftliches Wachstum. Wir sprechen hier nicht über Zehntelprozentpunkte, sondern über fundamental unterschiedliche Wachstumspfade. Mit anderen Worten: Es geht um unseren Wohlstand, und die Zeit drängt.
Was ist konkret zu tun? Drei Punkte möchte ich hervorheben.
Das ist jetzt zu tun: Drei To-dos und ein Fazit
Erstens brauchen wir natürlich eine leistungsfähige Infrastruktur, und zwar flächendeckend. Gerade in strukturschwachen und ländlichen Gebieten werden Unternehmen nicht bereit sein zu investieren, wenn es dort kein schnelles Internet gibt. Dabei weiß jeder, der ab und zu im Ausland unterwegs ist, dass es besser geht. Und wir alle kennen die verwunderten Fragen ausländischer Besucher, gerade auch aus weniger wohlhabenden Ländern, warum die Netzqualität hierzulande so schlecht ist. Hier muss die Politik endlich den richtigen regulatorischen Rahmen schaffen, um dieses seit Langem bestehende Versprechen einzulösen.
Zweitens: Wir müssen uns bewusst machen, dass die Verkehrsfähigkeit oder Interoperabilität von Daten das A und O ist, ohne das die Digitalisierung nicht funktionieren kann. Und wir müssen diese Erkenntnis auch umsetzen – in allen Regelungen des täglichen Lebens, in der Wirtschaft, im Gesundheitssystem. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Noch tun wir uns damit sehr schwer: So können zum Beispiel Pharmaunternehmen – anders als praktisch alle anderen Stakeholder im Bereich Gesundheit – immer noch nicht zu Forschungszwecken auf entsprechende öffentliche Gesundheitsdaten zurückgreifen. Wichtig dabei ist: Ein angemessener Datenschutz muss immer gewährleistet sein. Aber er darf auch nicht dazu führen, dass die Chancen der Digitalisierung auf der Strecke bleiben. Wenn etwa im Extremfall Patientinnen und Patienten aus falsch verstandenem Datenschutz wesentliche Gesundheitsinnovationen nicht zur Verfügung gestellt werden können, läuft offensichtlich etwas schief.
Drittens brauchen wir einheitliche Regeln für Europa, um eine Fragmentierung in unterschiedliche Standards zu vermeiden. Ohne einheitliche Standards lässt sich das Potenzial der Digitalisierung nicht ausschöpfen. Die Pläne für ein European Health Data System (EHDS) gehen hier – allerdings nur für den Bereich Gesundheit – in die richtige Richtung und können für andere Bereiche als Vorbild dienen.
Fazit: Wenn es um die Gestaltung der Zukunft geht, nimmt die Digitalisierung eine Schlüsselrolle ein. Dies gilt insbesondere da, wo sie mit wissenschaftlichen Fortschritten in anderen Bereichen zusammentrifft – wie den Biowissenschaften. Es wird daher höchste Zeit, dass die Digitalisierung in Deutschland und Europa jetzt auf der Liste der politischen Prioritäten ganz nach oben rutscht. Und zwar so, dass die Vorteile bei Bürgern und Unternehmen auch wirklich ankommen. „Die Digitalisierung in Deutschland“, schrieb die FAZ, „ist ein Sammelbecken geplatzter Träume.“ Damit sich das ändert, braucht es mehr als wolkige Ankündigungen und vage Strategien.