Interview mit Prof. Klaus Kümmerer, Leuphana Universität
Kann Chemie nachhaltig sein?
Chemie und Nachhaltigkeit, ein Widerspruch? Nein, sagt Klaus Kümmerer, Professor an der Leuphana Universität in Lüneburg. Vor allem Unternehmer sollten ihm zuhören. Denn der neue Chemie-Ansatz eröffnet Chancen.
Klaus Kümmerer
ist Professor für nachhaltige Chemie und stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität Lüneburg
Nachhaltigkeit und Chemie – viele Menschen sagen, das passt nicht zusammen.
Klaus Kümmerer: Das stimmt, für viele Menschen geht beides nicht recht zusammen. Dazu kommt: Viele verwenden die Begriffe nachhaltige und grüne Chemie synonym. Aber das sind sie nicht.
Wo liegt der Unterschied zwischen grüner und nachhaltiger Chemie?
Kümmerer: Die grüne Chemie beschäftigt sich mit der Frage, wie man Stoffe mit weniger Energieaufwand synthetisieren kann. Oder damit, wie zum Beispiel weniger Abfallstoffe entstehen oder nachwachsende Rohstoffe verwendet werden. Nachhaltige Chemie befasst sich dagegen damit, wie Chemie zur Nachhaltigkeit beiträgt. Das ist also ein viel weiter gefasster Begriff. Im Mittelpunkt steht die Frage: Welchen Service, welche Funktion will ich eigentlich? Ein Beispiel: Ich möchte vermeiden, dass meine Hausfassade von Pilzen befallen wird. Der erste Schritt wäre der klassische chemische Ansatz: Es kommt ein Biozid in die Farbe. In der Folge gelangen diese Biozide aber von der Fassade in den nächsten Bach oder gar ins Grundwasser. Man könnte aber zuerst auch über die bauliche Ausgestaltung der Fassade nachdenken. Vielleicht findet sich eine Lösung, durch die weniger Regenwasser gegen die Fassade schlägt. Oder man fragt sich, ob das Ganze nicht nur ein ästhetisches Problem ist. Also wäre vielleicht eine graue oder grüne Farbe eine Lösung, aber eben ohne Biozid-Zusätze?
Was heißt das für die Unternehmen in der chemischen Industrie?
Können Sie ein Beispiel nennen?
Kümmerer: Bei Desinfektionsmittelherstellern gilt: Lasst uns Tonnage verkaufen, darüber generieren wir unseren Umsatz und Gewinn. Aber wenn man genauer hinschaut, geht es im Kern immer darum, dass Kliniken einen Standard der Hygiene aufrechterhalten müssen. Diese Aufgabe kann man auslagern und den Anbieter dafür bezahlen, dass er den Hygienestandard einhält, zum Beispiel messbar über die Anzahl der Infektionen und nicht über die Menge an verwendetem Desinfektionsmittel. Im letzten Fall würde ein hoher Desinfektionsmittelverbrauch eine gute Situation vortäuschen, die bei falscher Anwendung des Desinfektionsmittels aber gar nicht gegeben ist. Der Anbieter kann überall gleichermaßen desinfizieren oder sich fragen, ob das überall im gleichen Umfang erforderlich ist. Das wird er vor allem tun, wenn er dafür bezahlt wird, den Hygienestandard hoch genug zu halten. Was ist etwa mit den Fluren? Das Unternehmen merkt dann, dass es mit weniger Rohstoffeinsatz den gleichen ROI erzielt und weniger Infrastruktur vorhalten muss und weniger abhängig vom Rohstoffmarkt ist. Das wird verstärkt, zum Beispiel indem der Desinfektionsmittellieferant auch die Schulungen durchführt, baulich berät und so weiter. Er hat ja viele Kunden und damit ein viel breiteres Wissen in dieser Hinsicht als gegebenenfalls ein einzelner Architekt oder Klinikmitarbeiter, der vielleicht einmal in zehn Jahren mit solchen baulichen Fragestellungen umgehen muss. Und das Krankenhaus reduziert die Gefahr, durch flächendeckende Desinfektion multiresistente Keime zu schaffen, und es muss nicht mit gefährlichen Stoffen umgehen und die Ausrüstung dafür vorhalten, die dann im Laufe der Jahre veraltet und immer wieder neu angeschafft werden muss. Das Krankenhaus wird auch nicht in der Zeitung stehen, wenn etwas schiefgeht. Also aus einer Win-lose-Situation bei Verhandlungen darüber, wie viel Desinfektionsmittel gekauft wird für welchen Preis, wird eine Win-win-Situation. Denn jetzt haben beide Partner dasselbe Interesse – möglichst niedrige Infektionszahlen. Es entsteht ein viel intensiverer Austausch, mehr Vertrauen, und am Ende profitieren alle – der einschließlich Umwelt, denn es gelangt weniger Desinfektionsmittel ins Abwasser.
Ist dieses Beispiel abstrakt oder entstammt es der Praxis?
Wo findet man diesen Ansatz eher – im Start-up oder im arrivierten Großunternehmen?
Kümmerer: Ansätze, siehe etwa das Katalysatorbeispiel, findet man auch in Großunternehmen, die aber meist als große Tanker schwerfällig und für Innovationen nicht so offen sind. Die sind de facto mehr an Cashcows als an Rising Stars interessiert. Da große Unternehmen oft Shareholder-Value-getrieben sind, herrscht das klassische, myopische Gewinndenken vor. Mittelständische Unternehmen, insbesondere wenn sie im Familienbesitz sind, haben demgegenüber eine viel langfristigere und damit oft schon von Natur aus nachhaltigere Perspektive und sind eher bereit, solche neuen Ansätze zu prüfen, die ja auch ein anderes Selbstverständnis beinhalten. Anstatt als Hightech-Chemieunternehmen verstehe ich mich als Dienstleister oder auch Nachhaltigkeits-Entrepreneur. Letzteres trifft vor allem auf Start-ups zu, die in diesen neuen Ansätzen ihre Chance sehen – aus meiner Sicht zu Recht: Gut evolutionär gedacht – die Nischen von heute sind die Erfolge von morgen! Weiter gedacht in einer zirkulären Wirtschaft bedeutet das, dass ich meine Produkte nach der Nutzung zurücknehme, wo dies möglich ist – siehe etwa die schon erwähnten Lösungsmittel- und Katalysatorbeispiele. Gleiches ist aber auch für Elektronikprodukte und Kunststoffe künftig notwendig.
Was heißt das für die Praxis?
Kümmerer: Die getrennten Bereiche von Dienstleistung, Produkt und Recycling müssen zusammengeführt werden. Dieses Denken ist auch ein Beispiel für den Unterschied zwischen grüner und nachhaltiger Chemie. Es geht um eine grundsätzlich andere Art von Denken und unternehmerischem Selbstverständnis. Zentral ist das Denken in systemischen Zusammenhängen, das „System Thinking“. Ich kann einen Stoff nach allen Prinzipien der grünen Chemie herstellen. Aber das Produkt muss dennoch nicht zwingend in die Kreislaufwirtschaft passen, muss nicht nachhaltig sein. Um es drastisch zu sagen: Ich kann auch chemische Kampfstoffe nach den Prinzipien der grünen Chemie fertigen.
Wie lange dauert das Umdenken?
Hilft Corona mit all den Veränderungen, die damit einhergehen, auch, die Geschäftsmodelle zu überdenken?
Muss man im Geiste der nachhaltigen Chemie jedes Produkt infrage stellen?
Kümmerer: Ja. Es braucht natürlich Zeiten des Übergangs. Aber jeder sollte im eigenen Interesse sein Portfolio überprüfen, sich fragen, was die Kunden wirklich wollen, also welche Funktion, welchen Service, und über alternative Geschäftsmodelle nachdenken. Und im Idealfall darüber, wie man Recycling und Produktion zusammenbringt. Es nutzt ja nichts, etwas Schönes oder Gutes an einer Stelle zu machen – und den Rest irgendwo anders oder in der Zukunft abzuladen.
Bedeutet das auch, dass Produkte einfach sein müssen?
Kümmerer: In einer ersten Näherung schon. Das gilt auf jeder Ebene – schon auf atomarer Ebene, dann auch auf Molekül-Ebene. Weitergedacht, geht es um Produkte, ein Handy etwa. Darin sind im Schnitt rund 40 verschiedene Elemente, manche sogar in mehreren Verbindungen, und zehn unterschiedliche Polymere, dazu noch Flammschutzmittel und anderes enthalten. Das muss man erst mal wieder trennen und aufreinigen, um es weiternutzen zu können. Beispiel Kunststoff: Wenn man den verbauen will, sollte es Thermoplastik sein, denn das kann man erneut formen. Mit Duroplast ist das deutlich schwieriger. Denn es gibt kein Upcycling, nur Downcycling. Einschmelzen beziehungsweise Umformen ist eine Stufe, die nächste ist die Depolymerisation – und ganz am Ende steht das Verbrennen, wobei wertvolles Material verloren geht. Wir können damit zwar nicht gewinnen, aber haben in der Hand, wie viel wir verlieren. Das sollten Unternehmer im Blick haben. Es geht immer darum, die Stoffe so lange wie möglich im Kreislauf zu halten.
Wer leitet das in die Wege?
Kümmerer: Umsetzen müssen es die Unternehmen, die sind ein Stück weit in der Pflicht. Sie können den Ansatz schon im Design eines Produkts mitdenken. Auch die Politik spielt eine Rolle. Mit dem „Green Deal“ zum Beispiel hat sie Vorgaben gemacht. Aber die Politik muss zugleich Anreize setzen, zum Beispiel schnellere Zulassungen für bestimmte Produkte oder längere Patentlaufzeiten. Und – was wir nicht wollen, aber da müssen wir ehrlich sein – dafür müssen dann unter Umständen die Steuern steigen. Zuckerbrot und Peitsche wird benötigt.
Bei der nachhaltigen Geldanlage hatten Investoren ursprünglich abgewunken, inzwischen ist es ein Megatrend, an dem niemand vorbeikommt. Werden wir in Sachen nachhaltige Chemie eine ähnliche Entwicklung sehen?
Kümmerer: Ich hoffe zumindest auf eine gleichartige Entwicklung. Immer mehr Menschen verstehen, dass Ressourcen knapp sind und ihre Nutzung nicht immer grün oder gar nachhaltig ist. Gleiches stellen wir auf der anderen Seite des Produktlebenszyklus fest – zu viel Abfall, mehr Umweltverschmutzung als noch vor einigen Jahren. Plastik ist keine Ausnahme, sondern nur das zurzeit sichtbarste Problem. Aber mit den neuen Geschäftsmodellen sehen wir zudem, dass es Möglichkeiten gibt, anders Geld zu verdienen, also dass ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen können – zum Vorteil aller. Firmen verstehen inzwischen, dass sie damit unter Einsatz von weniger Rohstoffen den gleichen ROI schaffen wie ohne nachhaltige Chemie.
Gibt es in Sachen nachhaltiger Chemie weltweit ein Vorbild für eine besonders gut funktionierende Kreislaufwirtschaft?
Kümmerer: Ich sehe weltweit keine großen Unterschiede. In Deutschland etwa haben wir seit 1994 ein Kreislaufwirtschaftsgesetz; anfangs ging es vor allem um ein Pfandsystem. Aber das Interesse in Ländern wie Indien und China oder auch in Afrika ist groß, da ist man mit dem Denken weiter. Die haben außerdem den Vorteil, nicht 150 Jahre Industriekultur mit sich herumzuschleppen. Sie überspringen bestimmte Stadien einfach.
Und die Gefahr des Greenwashings?
Kümmerer: Die Gefahr gibt es; man spricht inzwischen auch von „Sustainability Washing“. Es geht ja längst nicht mehr nur um Umweltfragen, sondern auch um ethische Aspekte. Um Fragen, wie ein Rohstoff wie Coltan beispielsweise gefördert wird. Wollen wir Kinderarbeit und Bürgerkriegsfinanzierung unterstützen und „blutige“ Rohstoffe in unseren durchgestylten Produkten oder Plastikberge auf dem Meer und vor allem am Meeresgrund haben? Wir brauchen daher viel mehr Transparenz und Kommunikation von allen Stakeholdern.
Was heißt das für den Verbraucher?
Kümmerer: Der ist von den vielen und detaillierten Informationen oft überfordert. Ich bin Chemiker, aber wenn ich auf mein Shampoo und dessen Inhaltsstoffe schaue, komme ich ins Nachdenken. Selbst ich sehe nicht sofort, welche Stoffe da nun wirklich drin sind und wie ihre Nachhaltigkeitsprofile sind. Dazu die Abwägungsfrage, was besser ist – Stoff A oder Stoff B. Bei nachhaltiger Chemie müsste ich mir die Fragen nicht stellen, denn das Produkt wäre einfach nachhaltig, sonst wäre es nicht auf dem Markt. Ich muss es dann also nicht in meiner Toxfox-App oder anderen Apps scannen. Und selbst wenn ich die App nutze, muss ich noch abwägen – sind endokrin wirksame Stoffe schlimmer oder persistente?
Was raten Sie Unternehmen, die sich in eine nachhaltige Richtung entwickeln wollen?
Kümmerer: Bei der eigenen Expertise anfangen. Was verkaufe ich an wen? Wie übersetze ich das chemisch, wie ist die Produkthistorie? Da winken viele ab, aber es ist wichtig. Beispiel Silikone: Vor zehn Jahren hieß es, die seien für Shampoos und Conditioner unbedingt nötig. Inzwischen kann man bei dm und Rossmann ganze Regale sehen, die voll sind mit Produkten ohne Silikone. Es wird sogar mit „silikonfrei“ massiv geworben. Es geht also, wenn man will! Hier spielen natürlich die Verbraucher, aber auch die Downstream-Nutzer chemischer Produkte als Nachfrager und Kunden eine wichtige Rolle. Und fragt man nach den damaligen Gründen, heißt es oft: „Das weiß ich nicht, das haben wir schon immer so gemacht.“ Der Aufwand, die Historie seiner eigenen Produkte zu verstehen, lohnt sich, um sie zu verbessern oder durch bessere Produkte oder noch bessere Geschäftsmodelle zu ersetzen – auch zum Wohl des Unternehmens. Wir müssen alle weg von der wirtschaftlichen Kurzsichtigkeit. Ein Unternehmen soll doch nicht nur drei Jahre bestehen. Das ist ebenfalls ein Aspekt von nachhaltiger Chemie – vorhandenes Wissen und Erfahrung nicht einfach kurzfristig zu vernichten.
Es braucht also Zeit und Raum für Innovationen.
Kümmerer: Wir sprechen ja alle über Innovationen, wollen sie beschleunigen. Aber wenn die Innovationsgeschwindigkeit auf der Produktseite größer ist als die notwendige Anpassungsgeschwindigkeit auf der Recyclingseite, wird zum Beispiel die zirkuläre Wirtschaft nicht funktionieren. Innovationen benötigen zunächst neue Ideen. Dafür braucht es Zeit. Ich gehe ja nicht ins Büro und sage: „Heute habe ich eine gute Idee.“ Gute Ideen kommen nicht auf Knopfdruck. Ex-Kanzler Helmut Schmidt sagte ja mal, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Das ist falsch: Visionen sind das, was uns motiviert und die Zukunft gestalten lässt, weil sie Hergebrachtes infrage stellen, Alternativen zum bestehenden aufzeigen. Gleiches gilt für Bill Clintons „Stupid – it’ s the economy“: dummerweise viel zu kurz gedacht, auch ökonomisch. Vor 100 Jahren war Ökonomie definiert als der haushälterische Umgang mit knappen Ressourcen, heute ist es das Gegenteil – die große Verschwendung aller Ressourcen.
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