Digitaler Humanismus

Mensch oder Maschine ist hier (nicht) die Frage

„Be Digital. Stay Human.“ So lautete das Motto der diesjährigen Digital X in Köln. Aber wie gelingt es, Menschlichkeit und digitale Innovation in der Praxis tatsächlich unter einen Hut bringen? Dr. Jens Baas (Die Techniker) und Michael Fritz (Viva con Agua) plädieren für ein wirtschaftliches Umdenken. Nur dann ließen sich Potenziale gewinnbringend für die gesamte Gesellschaft nutzen.

22.11.2023

Die Zukunft hat längst begonnen. Was vor wenigen Jahren noch als Science-Fiction galt, ist mittlerweile Realität: Künstliche Intelligenz (KI) drängt in nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und treibt Innovationen voran. Der Alltag ist geprägt von Technologie, Fortschritt und Effizienz, alles wird immer digitaler, flexibler und vernetzter.

Doch gleichzeitig hat die technologische Durchdringung sämtlicher Arbeits- und Lebensbereiche auch Schattenseiten: Überforderung, Angst vor dem Ungewissen und dem individuellen Bedeutungsverlust sowie zunehmende Anonymisierung beschäftigen die Menschen und sorgen in einigen Branchen für Fortschrittsskepsis bis hin zu Existenzängsten.

Passen Digitalisierung und Menschlichkeit zusammen?

Gegenläufige Empfindungen sind weitgehend normal – sie liegen in der Natur, die radikale Veränderungen mit sich bringen: Chancen auf der einen Seite, Risiken auf der anderen. Doch wie lassen sich in der gegenwärtigen Transformationsphase technische Potenziale nutzen und gleichzeitig menschliche Sorgen ernst nehmen und gar reduzieren? Oder konkreter: Wie gelingt es uns, Menschlichkeit und digitale Innovation tatsächlich praxistauglich unter einen Hut bringen?

Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse, und Michael Fritz, Mitgründer der Hamburger Non-Profit-Organisation Viva con Agua, näherten sich diesen Fragen bei ihrem Talk auf der Digital X in Köln – wenngleich teilweise aus individuellen Perspektiven.

So ist Fritz als Co-Gründer und selbst ernanntes „freies Radikal“ mit Viva con Agua an keine übergeordnete Direktive gebunden: „Wir sind recht frei und unterliegen einzig dem sinnvollen Charakter unserer Tätigkeit als gemeinnütziger Verein.“

Für Krankenkassen ist der Gesetzesrahmen dagegen enger, das System starrer – wenngleich die Arbeit dadurch nicht minder sinnstiftend ist. Als Arzt, ehemaliger Unternehmensberater und nun langjähriger Chef von Deutschlands größter Krankenkasse mit elf Millionen Versicherten hat Baas das Gesundheitswesen aus verschiedenen Blickwinkeln kennengelernt. Bei allen Herausforderungen und Facetten, die das deutsche Gesundheitssystem mitbringe, sei es immer die schlechteste Option gewesen, Veränderungen zu verweigern.

Veränderungen aktiv mitgestalten

„Seit der Industrialisierung wird bei jeder neuen Technologie prophezeit, dass der Mensch in vielen Prozessen überflüssig wird. Diese Untergangsstimmung teile ich nicht“, so die klare Meinung des Gesundheitsexperten. Veränderungen ließen sich sowieso nicht aufhalten. Deshalb bliebe nur diese Op­tion und der Optimismus, diese aktiv mitzugestalten und an ihnen teilzuhaben: „Durch Verweigern oder ewiges Beschweren entsteht nun mal kein gesellschaftlicher Fortschritt.“

Die TK nimmt eine Vorreiterrolle ein und gestaltet aktiv den digitalen Wandel in der Gesundheitsversorgung mit. Zum Beispiel, indem sie durch Kooperationen mit Start-ups medizinische Innovationen fördert oder sich für den benutzerfreundlichen Einsatz digitaler Hilfsmittel und der elektronischen Patientenakte starkmacht.  

Gesellschaftlichen Wandel aktiv mitgestalten – diesem Ziel hat sich auch Viva con Agua verschrieben. Soziale Verantwortung und internationale Zusammenarbeit sind dabei seit der Gründung des gemeinnützigen Vereins im Jahr 2006 die Leitmotive. Unter dem Motto „Wasser für alle – alle für Wasser“ wollen die Hamburger wieder mehr Motivation für soziales Engagement schaffen und WASH-Projekte (Wasser, Sanitär, Hygiene) weltweit fördern. „Wir hier in Deutschland sind in einer unglaublich privilegierten Position – wir haben sozusagen alle in der Lotterie gewonnen“, so Mitgründer Fritz. „Also ist es auch unsere Aufgabe, ein bisschen was von diesem Privileg abzugeben.“

Was die Wirtschaft seiner Meinung nach deshalb tun muss, um all diese Aspekte und Herausforderungen gleichzeitig zu bedienen? Ganz „einfach“: soziale und ökologische Verantwortung noch deutlicher in ihre Prozessketten integrieren, um den Wohlstand auch für zukünftige Generationen zu sichern und gerechter zu verteilen. Das Thema Nachhaltigkeit gelte es dabei ganzheitlich und auf sämtlichen Hierarchieebenen zu denken. Nachhaltig sein bedeute nicht nur, ökologische Ziele zu verfolgen, sondern verpflichte auch zu sozialpolitischer Verantwortung etwa für das Wohl der Mitarbeitenden, den Mehrwert für Kundinnen und Kunden oder faire Kooperationen.

Alte Systeme neu denken

Als größten gemeinsamen Nenner von Medizin und Entwicklungshilfe sieht Fritz Empathie – „beides ließe sich eins zu eins übertragen“. In beiden Sektoren gehe es in erster Linie darum, Menschen zu helfen. Das mag in der Theorie simpel sein, doch die Praxis ist deutlich komplexer – und voller Hürden.

„Das Problem in der Medizin ist, dass ärztliches oder pflegerisches Fachpersonal viel zu wenig Zeit hat, sich ausreichend um die Patientinnen und Patienten zu kümmern“, erklärt Baas. „Das liegt vor allem daran, dass sie sehr viele Dinge tun müssen, die mit Medizin wenig bis gar nichts zu tun haben.“ Darunter fallen Aufgaben wie medizinischen Befunden hinterherzutelefonieren, Termine zu koordinieren oder Therapiemaßnahmen zu dokumentieren.

Verwaltungsarbeit nehme mittlerweile viel zu viel Zeit des medizinischen Personals in Anspruch. Die Folge sei Frustration über ein System, das eigentlich den Menschen effizient helfen soll, oft aber an den historisch gewachsenen eigenen Strukturen scheitert. Für Baas ein Unding: „Wir brauchen dringend Reformen. Wir leisten uns eines der teuersten Gesundheitssysteme weltweit.“

Anhand konkreter Zahlenbeispiele wird die Dimension noch deutlicher. Fast 275 Milliarden Euro investierten alle Krankenkassen zusammen im Jahr 2022 in die Versorgung der rund 73 Millionen gesetzlich Versicherten: „Wir geben viel Geld für Gesundheit aus, es müsste aber viel gezielter eingesetzt und besser im System verteilt werden“, so Baas. Für den TK-Chef wäre ein sinnvoller Schritt in Richtung Reform, die positiven Aspekte der Marktwirtschaft – wie etwa Innovationsgeist – stärker in ein wettbewerbsbasiertes Gesundheitswesen zu integrieren.

Mit Blick auf die internationalen Tech-Riesen, die mit ihren Angeboten zunehmend auf den deutschen Markt drängen, erwartet Baas von der neuen Konkurrenz zwar Innovationen, die die Branche grundsätzlich voranbringen. Doch müsse man auf der anderen Seite als Gesellschaft „genau überlegen, ob man seine Gesundheit von Unternehmen steuern lassen möchte, die damit nur Geld verdienen wollen“.  

Fritz sieht Führungskräfte in der Pflicht

Bei Fritz lösen US-amerikanische Tech-Riesen trotz aller Innovationen, die sie in den Markt einspeisen, dagegen andere Assoziationen aus: „Wenn es darum geht, das Wirtschaftssystem neu zu denken, braucht es auch klare Anforderungen an Unternehmen und Industrien.“ Etwa wie sie ökologische und soziale Richtlinien umzusetzen haben, Gewinnmargen deckeln müssen oder neben einer Finanzkalkulation auch eine Ökokalkulation vornehmen sollen. Für diese Vision seien dann aber auch andere Vorbilder vonnöten.

„Erfolgreiche Männer wie Tesla-CEO Elon Musk oder Amazon-Gründer Jeff Bezos sind die falschen Helden. Wir brauchen neue Heldinnen und Helden, neue Narrative und neue Strukturen. Nur so können wir die Welt positiv verändern“, betont Fritz. Hier sieht er speziell Führungskräfte von Unternehmen in der Pflicht, die tatsächlich intrinsische Motive wie Empathie, Authentizität, Sicherheit und Transparenz in ihrer Philosophie und ihrem Change-Management verankert haben – gerade in Bezug auf die gegenwärtige technologische Revolution. „Durch KI und Technik wird in erster Linie Freiraum kreiert. Für Führungskräfte geht es in Zukunft mehr darum, ein grundlegendes Verständnis für ihre Mitarbeitenden mitzubringen, sich selbstkritisch reflektieren zu können und eine offene Feedbackkultur zu leben“, erklärt Fritz. „Den Rest erledigt dann die Technik.“ 

Ein Gedanke, mit dem sich vermutlich die meisten Menschen anfreunden könnten. Auch Baas? Durchaus. Er fügt sogar noch einen Aspekt hinzu: „Gerade in Zeiten des Umbruchs und der drastischen Veränderungen wird es immer wichtiger, ein Gesamtbild zu vermitteln und damit Vertrauen aufzubauen. Mitarbeitende müssen verstehen, in welche Richtung es gehen soll.“ Letztlich ginge es darum, dass digitaler Technologieeinsatz und menschliche Fähigkeiten miteinander harmonieren – „be digital, stay human“ eben –, findet Baas. Niemand müsse Angst vor der Zukunft haben, im Gegenteil: „Wer an dieser Schnittstelle ein gutes Gefühl für die eigene Mission vermitteln kann, steigert langfristig auch den Erfolg und die Produktivität seines Unternehmens.“

Dr. Jens Baas

ist seit 2012 Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse. Zuvor war er als Arzt an Universitätskliniken tätig sowie Partner bei BCG

Michael Fritz

gründete 2006 zusammen mit seinem guten Freund und ehemaligen Fußballprofi Benjamin Adrion den gemeinnützigen Verein Viva con Agua