Programmieren

Low-Code/No-Code: Transformation im Schnelldurchlauf

Low-Code- beziehungsweise No-Code-Entwicklungsplattformen sind auf dem Vormarsch. Die Lösungen vereinfachen zahlreiche digitale Transformationsprozesse von Unternehmen. Siemens-CIO Hanna Hennig erklärt, was hinter Low-Code und No-Code steckt.

03.08.2022

Der modulare Ansatz von Low-Code/No-Code (LC/NC) funktioniert in der Praxis nach dem Baukastenprinzip: Den Nutzerinnen und Nutzern steht ein vorgefertigtes, visuelles Tool- oder Code-Set zur Verfügung. Diese einzelnen Bestandteile und Schnittstellen lassen sich auf einer grafischen Nutzeroberfläche per Drag-and-Drop miteinander verbinden oder zu einer ganzheitlichen Lösung zusammenfügen – ohne, dass dafür unbedingt versierte Coding-Kenntnisse vorhanden sein müssen.

Kleinteilige oder komplexe Entwicklungsschritte, die bisher spezielle und zeitintensive Programmierungen erfordern, werden dank dieser Technologie zunehmend überflüssig. Gänzlich verschwinden wird der klassische Beruf des IT-Spezialisten dadurch allerdings nicht; immerhin ist die Nachfrage nach Programmierern nach wie vor hoch. Zudem durchziehen LC/NC-Lösungen bei weitem (noch) nicht alle Branchen oder Use-Cases. Und auch im Kontext von Low-Code-Entwicklungen ist auch künftig geschultes Personal gefragt.

Unterschiede zwischen No-Code und Low-Code

Denn anders als bei No-Code, wo tatsächlich alle Prozesse vorgefertigt sind, bedarf es bei Low-Code durchaus noch eines rudimentären IT-Verständnis, beispielsweise um Codes zu schreiben und zu lesen. Idealerweise ergänzen sich jedoch LC/NC-Lösungen innerhalb einer Entwicklerplattform und gewähren den Nutzerinnen und Nutzern dadurch mehr individuellen Gestaltungsspielraum.

Unternehmen können zum Beispiel selbstständig aus den einzelnen Komponenten effektive Business-Apps entwickeln oder ihre Managing-Systeme einfacher mit einer (externen) Software koppeln. Für einen externen Kooperationspartner wird es einfacher auf das jeweilige System zuzugreifen, wodurch sich Abstimmungsprozesse oder Fehler bei der Systemkompatibilität reduzieren. Außerdem lassen sich veraltete Systeme digitalisieren und spielerisch an Clouds, neue Technologien wie Internet of Things (IoT) oder an Künstliche Intelligenz (KI) koppeln.

LC/NC: Großes Potenzial für Unternehmen

Das große Potenzial von LC/NC-Entwicklerplattformen und deren Lösungen haben mittlerweile viele Unternehmen erkannt: LC/NC-Systeme sind zentrale Plattformen für Business-Anwendungen und Automatisierung in zahlreichen Branchen – ob Industrie, Logistik, Finanzbereich oder öffentlicher Sektor. Und das mit massiv steigender Tendenz: Die Marktforscher von Gartner prognostizieren, dass bis 2025 rund 70 Prozent aller neuen Anwendungen auf LC/NC-Basis entwickelt werden.

Sie können sich besonders für kleine und mittelständische Unternehmen lohnen. Für diese wird die Suche nach IT-Fachkräften immer schwieriger. Laut dem Digitalverband Bitkom ist die Zahl freier IT-Stellen hierzulande 2021 auf 96.000 angestiegen – das ist ein Plus von 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese Lücke lässt sich allein mit Fachkräften aus dem Ausland oder externen Dienstleistern nicht schließen. Wenn nun aber „einfache“ Mitarbeitende mit wenig IT-Erfahrung über interaktive LC/NC-Plattformen in der Lage sind, visuelle Lösungen für Softwareoptimierungen umzusetzen, reduziert das den Ressourcenaufwand sowie die Kosten und steigert die Effizienz.

Und obwohl die Anwendungen uniformer und simpler wirken, büßen die LC/NC-Entwicklerplattformen im Endergebnis wenig Funktionalität ein. Im Gegenteil: Sie sind mindestens genauso leistungsfähig, aber deutlich nutzerfreundlicher und zeitsparender.

Siemens-Tochter Mendix als Low-Code-Plattform

Bei Siemens ist seit rund zwei Jahren eine Low-Code-Plattform in die Systeme integriert – und reicht auch darüber hinaus: Von den LC/NC- Diensten der Tochterfirma Mendix profitieren laut Angaben des Münchener Konzerns weltweit mehr als 4.000 Unternehmen, die ihre Low-Code-Lösungen einsetzen.

Und obwohl zur Mendix-Community mittlerweile rund 230.000 Entwickler, 300 zertifizierte Partner und mehr als 120.000 Anwendungen zählen, stehe man bei der Entwicklung „noch am Anfang“, wie Hanna Hennig, Chief Information Officer bei Siemens, im Interview über die Bedeutung von Low-Code verrät. Das ausgerufene Ziel für die kommenden Monate und Jahre sei es, im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung von Industrie und Wirtschaft noch mehr Anwendungsgebiete zu identifizieren.

Hanna Hennig

ist seit Anfang 2020 Chief Information Officer bei Siemens und verantwortet die globale IT des Münchener Unternehmens. Hennig hat Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hannover studiert und ist bereits seit 25 Jahren in der IT tätig. In dieser Zeit hat sie Unternehmen aus verschiedenen Industrien bei der Digitalisierung unterstützt – darunter etwa Telefonica, E.ON und Osram

Wie stark sind die Low-Code/No-Code-Entwicklungen der Tochter Mendix in die Systeme von Siemens integriert?

Hanna Hennig: Die Technologieaffinität bei Siemens ist hoch, sodass die Implementierung schnell vorangeschritten ist: 210.000 Siemens-Mitarbeitende aus elf Business-Units nutzen Mendix-Apps; 15.000 Siemens-Kunden sind auf der Mendix-Plattform registriert. 1.500 zertifizierte Mendix-Entwickler und 14 App-Factories haben wir im Einsatz. Und in den letzten sechs Monaten ist die Anzahl der Mendix-Applikationen bei Siemens von 270 auf 370 gestiegen.

Wie kann Low-Code dabei helfen, die Herausforderungen, die mit der digitalen Transformation einhergehen, zu bewältigen?

Hennig: Wie sehen drei praktische Anwendungsgebiete bei Siemens: Im ersten Fall betrifft das die Digitalisierung der eigenen Wertschöpfungsprozesse, um einen Nutzer herum. So sind viele Apps für effektivere Automatisierungsprozesse in der Interaktion mit Kundinnen und Kunden entstanden, beispielsweise im Bereich Financial Services. Hier kann ein Kreditabschluss schneller über eine Mendix-Applikation abgewickelt werden. Der zweite Bereich zielt auf die Beschleunigung der Produktentwicklung bei Siemens ab. Unsere Entwicklerinnen und Entwickler sparen Zeit und erweitern mit vorkonfigurierten Komponenten wie Workflows oder Security-Einbindungen im Backend eines Unternehmens ihr Toolset und ihre Methoden. Das dritte Anwendungsgebiet umfasst unsere Kundinnen und Kunden, die ihre Soft- oder Hardware-Produkte für standardisierte Plattformen nutzbar machen wollen. Mit Mendix stellen wir dafür zum Beispiel individuelle User Interfaces bereit, die besonders im Internet-of-Things-Umfeld sehr gefragt sind. Möglich sind auch automatisierte Störungsmeldungen, die auf Low-Code basieren. Bei diesem Prozess, auch „Closed Loop IoT“ genannt, erhält ein Wartungstechniker frühzeitig einen Hinweis, sodass die Maschine nicht ausfällt. Mendix ist als Plattform auch für komplexere Use Cases ausgelegt und nicht nur für die Automation von Fabriken geeignet, sondern auch im Logistik- und Mobilitäts-Bereich einsetzbar.

Ist Low-Code der Schlüssel, um das Versprechen der Digitalisierung zu erfüllen?

Hennig: Grundsätzlich ist es effizienter und effektiver, auf ein digitales Ökosystem zu bauen, das eine Vielzahl verschiedener Lösungen umfasst. Dieser „Composable Enterprise“-Ansatz etabliert eine modulare Architektur des Unternehmens, das agil, anpassungsfähig und resilient ist – und eben nicht an die Funktionen einzelner Plattformen oder deren integrierte Plug-ins gebunden ist. Dies senkt nicht nur die Kosten während der Digitalisierung, sondern hilft auch, Lösungen schneller bereitzustellen. Mit den Standardkomponenten einer Low-Code-Plattform wollen wir unsere Kundinnen und Kunden befähigen, autark zu sein, um ihre individuelle digitale Transformation meistern zu können und schneller Wertschöpfung zu erzielen. Die Herausforderung besteht in der Kluft zwischen wachsenden Geschäftsanforderungen und den begrenzten IT-Kapazitäten. Low-Code ist ein Schlüssel dazu, dieses Leck zu schließen.

Bedeutet diese Entwicklung das Ende der Fachkräfte im Bereich Programmierung?

Hennig: Apple-Gründer Steve Jobs hat auf einer Developer-Konferenz einmal gesagt, dass der beste Code derjenige ist, der nicht geschrieben wurde. Er hatte die Vision, die Produktivität der IT durch die Eliminierung von 80 Prozent der Codes zu steigern. Low-Code ist bei weitem nicht das Ende der Codierung, aber es gibt Entwicklerinnen und Entwicklern die Möglichkeit, sich auf die komplexen Probleme der Programmierung zu konzentrieren und ihr Toolset um LC/NC zu erweitern. Dennoch werden wir weiterhin Programmiererinnen und Programmierer brauchen – trotz oder gerade wegen Low-Code. Im Sinne von Composability und Beschleunigung liegt der Wert und Nutzen dieser Fachkräfte nicht darin, viele Codes zu schreiben. Sondern eher darin, den besonderen, individuellen Teil beizusteuern, durch den das Produkt ergänzt wird und der es letztlich ausmacht.