Was er sich von einer neuen Bundesregierung wünschen würde? Die Antwort darauf ist für Dr. Jens Baas, CEO der Techniker Krankenkasse (TK), klar: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen muss weiter vorangetrieben werden, und es braucht eine solide Lösung für die Finanzierung von Gesundheit. Im Interview spricht Baas über den Status quo und die Zukunft des Gesundheitswesens.
TK-Chef Dr. Jens Baas im Interview
Gesundheitswesen digitalisieren: „Jetzt ist Tempo gefragt“
Im Großen und Ganzen funktioniert das deutsche Gesundheitswesen gut, sagt TK-Chef Dr. Jens Baas. Dennoch seien politische Kurskorrekturen spätestens nach der Bundestagswahl notwendig.
29.04.2021
Dr. Jens Baas
studierte Medizin in Heidelberg und ist seit 2012 Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse. Zuvor war er Partner bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group
Wie reformbedürftig ist das Gesundheitssystem in Deutschland im Wahljahr 2021?
Jens Baas: Insgesamt funktioniert das deutsche Gesundheitssystem gut, wenn auch nicht überall perfekt, wie sich aktuell beim Pandemiemanagement zeigt. In vielen Bereichen sind aber gesundheitspolitische Kurskorrekturen notwendig. Zum Beispiel beim Thema Finanzen. Hier hat unter anderem die Gesetzgebung dazu beigetragen, dass die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen stetig weiter steigen. In diesem Punkt gibt es ganz akuten politischen Handlungsbedarf. Zudem sind politische Weichenstellungen ja nicht erst dann nötig, wenn die Probleme schon da sind, sondern müssen rechtzeitig erfolgen, um das System für die Zukunft sicher aufzustellen. Stichwort Digitalisierung – auch hier gibt es noch viel zu tun.
Die TK hat gerade eine Umfrage veröffentlicht. Wie stehen die Menschen in Deutschland zu ihrem Gesundheitssystem?
Baas: Die Umfrage zeigt eine große Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem – obwohl die Befragung Anfang des Jahres quasi mitten im Lockdown stattfand. Gleichzeitig sehen rund 70 Prozent stellenweise Reformbedarf, aber nur eine Minderheit will das System völlig umkrempeln. Was die Umfrage auch zeigt: Viele Menschen sind Innovationen gegenüber sehr offen. Zum Beispiel können sich 68 Prozent vorstellen, sich in medizinischen Notfällen außerhalb der Praxisöffnungszeiten per Video-Sprechstunde beraten zu lassen; jeder oder jede Vierte kann sich vorstellen, eine App auf Rezept zu nutzen. Das ist eine gute Grundlage für konstruktive Veränderungen in Richtung eines modernen digitalen Gesundheitswesens.
Im Bereich Digitalisierung ist ja schon einiges vorangegangen. Reicht das noch nicht?
Baas: Nein. Es stimmt, dass in der auslaufenden Legislaturperiode politisch sehr viel passiert ist: GKV-Versicherte haben jetzt einen Anspruch auf eine elektronische Patientenakte, digitale Gesundheitsanwendungen haben ihren Weg in die Versorgung gefunden, und auch bei den Themen elektronische Krankschreibung und elektronisches Rezept ging es voran. Aber die Politik muss dranbleiben, denn viele Prozesse sind noch nicht geklärt. Jetzt ist Tempo gefragt – vor allem wenn es darum geht, verschiedene digitale Entwicklungen sinnvoll zu vernetzen. Die oft zitierte Interoperabilität, also die Grundlage, dass verschiedene Systeme miteinander kommunizieren können, ist hierbei zentral. Da ist noch Luft nach oben – wie auch beim Modernisieren veralteter Prozesse.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Baas: Daten aus Praxen kommen mit vielen Monaten Verzögerung bei uns Kassen an. Das ist in einer halbwegs digitalisierten Welt nicht mehr vermittelbar – und in Pandemiezeiten, in denen eine schnelle Übersicht gefragt ist, schon gar nicht. Der Zeitverzug ist ein Relikt aus dem analogen Zeitalter. Dass dies längst vorbei ist, muss sich auch in Datenlieferfristen widerspiegeln.
Aber nicht jeder möchte das Thema Gesundheit komplett ins Digitale verschieben.
Baas: Digitalisierung heißt nicht, alles, was mit Gesundheit zu tun hat, auf Biegen und Brechen online abzubilden. Die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich, und der direkte persönliche Kontakt wird auch weiter zum Therapieerfolg beitragen – Stichwort „sprechende Medizin“. Aber die Digitalisierung bietet eben auch viele gute Chancen. Jetzt müssen wir und die Politik dafür sorgen, dass die Menschen davon profitieren.
Teilen die Befragten diese Hoffnung?
Baas: Unsere Umfrage zeigt, dass viele Menschen die Digitalisierung mit Chancen verbinden. Zum Beispiel gehen fast 60 Prozent davon aus, dass die Digitalisierung dazu beitragen wird, die Herausforderungen im Bereich Pflege zu lösen. Und das gilt nicht nur für die Jüngeren. 78 Prozent der Menschen über 60 Jahren rechnen damit, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre Pflegeanträge digital geregelt werden können. Zwei Drittel erwarten, dass Pflegehaushalte mit unterstützender Sensortechnik ausgestattet werden.
Hatte die Pandemie Einfluss darauf, wie die Menschen digitale Gesundheitsangebote wahrnehmen?
Baas: Immer mehr Menschen regeln ihren Alltag digital. Das gilt auch für die Gesundheit. Die Pandemie hat diese Entwicklung noch einmal verstärkt, digitale Angebote wurden deutlich häufiger genutzt. Das sehen wir etwa im Bereich Psychotherapie bei den Video-Therapiestunden. Die stiegen bei TK-Versicherten im zweiten Quartal 2020 im Vergleich zum ersten Quartal um das Achtfache auf rund 230.000. Auch die Zahl der Versicherten, die sich bei einem Arzt oder einer Ärztin ausschließlich per Video behandeln ließen, stieg immens an. Im ersten Quartal 2020 traf das nur auf 2.732 Versicherte zu, im Folgequartal waren es schon knapp 20.000.
Was braucht es, damit sich digitale Innovationen tatsächlich etablieren?
Baas: Innovationen müssen einen klaren Mehrwert liefern und in den Alltag passen, sonst setzen sie sich nicht durch. Deshalb ist es wichtig, dass es eben nicht für jedes Gesundheitsthema eine Extra-App gibt – zum Beispiel eine für den Medikationsplan, eine mit Notfalldaten, eine für das E-Rezept. Viel sinnvoller ist es, all diese Anwendungen über einen Zugang zu bündeln. Und man darf die Digitalisierung nicht nur auf individuelle Vorteile reduzieren, etwa weil sie den Weg in die Praxis erspart. Sie kann die Versorgung insgesamt verbessern, zum Beispiel wenn auf Basis von Datenanalysen neue Therapieangebote entwickelt oder individuell zugeschnitten werden. Unsere aktuelle Umfrage zeigt auch, dass für viele Menschen eben nicht nur der eigene Vorteil im Fokus steht. So würden 77 Prozent der Befragten Gesundheitsdaten in anonymer Form beispielsweise für die medizinische Forschung bereitstellen. Nur 23 Prozent würden diese Daten an Unternehmen geben, um für sich persönliche Vorteile zu erhalten.
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