Europäischer Gesundheitsdatenraum

Turbo für die Digitalisierung der Medizin

Der Europäische Gesundheitsdatenraum (EHDS) soll den EU-weiten sicheren, interoperablen Austausch von Informationen ermöglichen. Noch wird der Vorschlag der EU-Kommission von den 27 Mitgliedsstaaten sowie dem Europäischen Parlament geprüft. Doch der Vorstoß könnte dafür sorgen, dass die Transformation des Gesundheitswesens beschleunigt wird.

13.01.2023

Die Zahlen, die Alexander Britz bei seiner Keynote beim BIG BANG HEALTH-Festival 2022 in Essen nennt, bringen eines der zentralen Probleme im deutschen Gesundheitssystem auf den Punkt: „Im Durchschnitt entsteht pro Patient jeden Tag ein Gigabyte an Daten“, sagt Britz, der in der Geschäftsleitung von Microsoft Deutschland das Public-Sector-Geschäft verantwortet. „Je nach Studie, die man sich anschaut, werden von diesen Gesundheitsdaten aber nur drei bis fünf Prozent genutzt. Das können wir uns nicht mehr leisten. In welcher anderen Industrie erlauben wir uns denn, 95 Prozent der vorhandenen Daten einfach nicht zu nutzen?“

Nutzung von Gesundheitsdaten bietet enorme Chancen

Mit Blick auf das Potenzial, das in diesen Daten steckt, ist das fast fahrlässig. Denn richtig genutzt, könnten die Gesundheitsdaten die Forschung enorm beschleunigen. Therapien könnten revolutioniert, Krankheiten früher erkannt werden. Und sind in den Daten von Erkrankten gewisse Muster erkennbar, ließe sich das Auftreten von Krankheiten theoretisch sogar komplett verhindern, indem Risikofaktoren frühzeitig eliminiert werden.

Aufgrund der unendlichen Möglichkeiten, die Gesundheitsdaten bieten, will die Europäische Union diese grenzüberschreitend für die Wissenschaft nutzbar machen. Geplant ist ein Europäischer Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS). Am 3. Mai 2022 hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für eine entsprechende Verordnung vorgestellt, der derzeit noch von den Mitgliedsstaaten sowie dem EU-Parlament geprüft wird.

Was ist der Europäische Gesundheitsdatenraum?

Durch den EHDS, der bestenfalls 2025/2026 einsatzbereit sein kann, sollen die nationalen Gesundheitssysteme miteinander verbunden werden. Das ermöglicht dann einen sicheren und effizienten Transfer von Gesundheitsdaten.

Drei zentrale Ziele verfolgt die EU mit dem Gesundheitsdatenraum:

  • Es soll ein einheitlicher Rechtsrahmen für den Datenzugriff und -austausch geschaffen werden.
  • Datenqualität und Interoperabilität sollen EU-weit sichergestellt werden.
  • Über eine gemeinsame Infrastruktur sollen EU-weit einheitliche technologische Standards zum Austausch im Gesundheitswesen entstehen.

„Mit dem European Health Data Space wird auf europäischer Ebene eine einheitliche Infrastruktur und rechtliche Basis für den Einsatz von Gesundheitsdaten erarbeitet, die zügig beschlossen werden muss“, sagt Dr. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Digitalverbands Bitkom. „Die Nutzung von Gesundheitsdaten ermöglicht eine verbesserte und schnellere Entwicklung von Therapien, Medikamenten und Untersuchungsmethoden, was Millionen Menschen unmittelbar helfen wird – nicht zuletzt bei der Bekämpfung seltener Krankheiten oder der Bewältigung globaler Pandemien.“

Wie weit darf die Datennutzung gehen?

Der EHDS sieht sowohl eine primäre als auch eine sekundäre Nutzung der Gesundheitsdaten vor. Primär bedeutet: Dank der einheitlichen technologischen Standards wird der Austausch von Untersuchungsergebnissen, Diagnosen und Medikamentenverschreibungen erleichtert. Im Grunde genommen soll also eine grenzüberschreitend nutzbare elektronische Patientenakte entstehen. Klingt sinnvoll; entsprechend ist der Nutzen dieses Vorhabens unumstritten.

Etwas anders hingegen sieht es bei der sekundären Datennutzung aus. Denn Ziel des EHDS ist es auch, einen kohärenten und effizienten Rahmen für die Nutzung der Gesundheitsdaten für Forschung, Innovation, Politikgestaltung und Regulierungszwecke zu schaffen. Und hinsichtlich dieser Sekundärnutzung der Gesundheitsdaten hat der Bundesrat bei der Prüfung der EU-Verordnung klare Bedenken geäußert.

Zum einen müsse sichergestellt werden, dass die Einhaltung der Datenschutz-Grundverordnung gewährleistet bleibt. Zum anderen – so heißt es in einer Stellungnahme zur Verordnung – „ist es zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten und Versicherten notwendig, dass sie grundsätzlich frei darüber entscheiden können, welche gesundheitsbezogenen Daten sie Dritten zur Verfügung stellen“. Daher sehe man es kritisch, dass laut Verordnungsvorschlag „im Rahmen der Sekundärnutzung unabhängig von einer Notsituation die betroffenen Personen weder vor einer beabsichtigten Weitergabe ihrer Daten unterrichtet werden müssen noch, dass sie ein Widerspruchsrecht haben“.

Ethische Fragestellungen beachten

Oder anders gesagt: Der Bundesrat findet den Vorstoß, einen Europäischen Gesundheitsdatenraum zu schaffen, zwar grundsätzlich gut – aber nur,

  • solange jede und jeder jederzeit die Einwilligung zur Datennutzung widerrufen kann,
  • sofern die Datenauswertung keine Nachteile für einzelne Personen nach sich zieht und
  • solange die Daten im gesamten Prozess pseudonymisiert verarbeitet werden.

Auch der Ständige Ausschuss der Europäischen Ärzte (CPME), der die nationalen Ärzteverbände in Europa vertritt, hat Bedenken gegenüber dem EHDS geäußert. In einem Positionspapier bezeichnete die CPME kürzlich das Vertrauen und die Akzeptanz durch Patientinnen und Patienten und Angehörige der Gesundheitsberufe als „Eckpfeiler eines erfolgreichen EHDS“.

CPME-Präsident Christiaan Keijzer betonte: „Das Design und die technische Umsetzung des EHDS müssen den Grundsätzen der medizinischen Ethik entsprechen und dürfen keine Risiken für die ärztliche Schweigepflicht mit sich bringen.“ Werde dies nicht beachtet, „könnten Patientinnen und Patienten zögern, Informationen preiszugeben“.

Digitale Großprojekte in Deutschland sind ins Stocken geraten

Und zögern – das kann sich vor allem in Deutschland nicht mehr leisten. Denn im europäischen Vergleich geht die digitale Transformation des Gesundheitswesens hierzulande eher im Schneckentempo voran. Das bestätigten 78 Prozent der Ärztinnen und Ärzte, die vom Bitkom und dem Ärzteverband Hartmannbund befragt wurden.

Ist also am Ende der Druck, der mit der Umsetzung einer EU-Verordnung verbunden ist, nötig, damit auch Deutschland bei Themen wie der elektronische Patientenakte, dem E-Rezept, bei der Forschungsdaten-Infrastruktur oder der Interoperabilität vorankommt? Denn da hakt es gewaltig.

Wie sehr es hakt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die erste rechtliche Grundlage zur Einführung einer ePA – das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung – bereits 2004 in Kraft trat. Und heute, fast 19 Jahre später? Haben sich laut TI-Dashboard der gematik, der Nationalen Agentur für Digitale Medizin, gerade einmal rund 565.000 Versicherte eine ePA zugelegt – so der Stand Ende November 2022.

Viele Gesetze, wenig Änderung in der Praxis

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist eine der größten Baustellen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Dabei hatte sein Vorgänger im Amt, Jens Spahn (CDU), eigentlich gut vorgearbeitet – zumindest in Sachen Gesetze und Verordnungen.

Das Digitale-Versorgung-Gesetz – in Kraft seit Dezember 2019 – sollte unter anderem zu einer schnelleren Implementierung digitaler Lösungen wie Videosprechstunden und Apps sowie einer Verbesserung der dafür nötigen Infrastruktur führen. Das Krankenhauszukunftsgesetz soll – dank drei Milliarden Euro Fördermitteln vom Bund – Kliniken fit fürs digitale Morgen machen. Das Patientendaten-Schutz-Gesetz soll für die Sicherheit digitaler Anwendungen sorgen. Und die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung garantiert gesetzlich Krankenversicherten seit 2020 einen Anspruch auf erstattungsfähige Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen.

Das Fax-Gerät ist und bleibt beliebt

Doch Gesetze allein genügen nicht, um den Wandel im Gesundheitswesen voranzutreiben. Es ist auch eine Mindset-Änderung in der Branche notwendig. Und da scheint sich etwas zu bewegen, wie Bitkom-Chef Rohleder beobachtet hat: „Die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland haben sich insbesondere in den vergangenen zwei Jahren stark für die Digitalisierung der Medizin geöffnet. Inzwischen erkennt die weit überwiegende Mehrheit, welche Vorteile die Digitalisierung für die medizinische Versorgung bietet. Die Coronapandemie hat eindrücklich gezeigt, dass Zettelwirtschaft und analoge Verfahren ein Verfallsdatum haben.“

Und dennoch erbrachte die Befragung von Bitkom und Hartmannbund auch: 63 Prozent der Medizinerinnen und Mediziner kommunizieren weiterhin per Fax mit anderen Praxen, 57 Prozent nutzen das Fax zum Austausch mit Kliniken. Per E-Mail hingegen kommunizieren nur 30 Prozent mit anderen Praxen und 24 Prozent mit Kliniken. Erst sechs Prozent haben bereits die ePA von Versicherten mit Informationen befüllt. Und lediglich ein Prozent stellt regelmäßig auch elektronische Rezepte aus.