Universitätsmedizin Essen

Smart Hospital: Traut euch in die digitale Welt!

Im Ruhrgebiet wird die Zukunft der Medizin bereits in der Praxis gelebt. Professor Jochen A. Werner von der Universitätsmedizin Essen erklärt, wie ein intelligent vernetztes Krankenhaus die Patientenversorgung verbessern kann.

30.10.2022

Die Universitätsmedizin Essen zählt zu den Vorreitern beim Einsatz digitaler Tools im Krankenhausalltag. Bereits seit 2015 arbeitet der Ärztliche Direktor Professor Jochen A. Werner mit seinem Team an der Transformation hin zu einem optimal vernetzten Smart Hospital – also einer Art vollkommen digitalisiertem „Care-Konzern“. Ziel ist es, mit innovativen Konzepten auf gleich mehrere große Herausforderungen zu reagieren: demografischer Wandel, Pflegenotstand, Klimaschutz, die zunehmende Ökonomisierung der Branche.

Vieles, was technisch bereits möglich sei, werde allerdings durch festgefahrene Strukturen oder äußere Faktoren wie den Datenschutz blockiert, kritisiert Werner. Im Gespräch fordert er daher von allen Beteiligten mehr Engagement gegen den Stillstand.

Wie schaffen Sie es, den Menschen in einem digitalisierten Krankenhaus in den Mittelpunkt zu stellen?

Jochen A. Werner: Die Frage muss genau andersherum lauten. Denn es gibt keinen Widerspruch zwischen Mensch und Digitalisierung, sondern eine Symbiose. Der Kerngedanke des Smart Hospitals ist nicht das Regiment der Bits und Bytes als Selbstzweck. Es ist die Überzeugung, die Digitalisierung und die Nutzung von Daten zum Wohle der Menschen einzusetzen. Zum einen für die Patienten – etwa durch einen Quantensprung bei der Diagnostik sowie neue datengestützte und teilweise personalisierte Therapien. Und zum anderen für die Beschäftigten, indem sie durch digitale Unterstützung, etwa bei der Dokumentation, von patientenfernen Arbeiten entlastet werden.

Mit Blick auf die Digitalisierung der hiesigen Krankenhäuser fordern Sie mehr „Mutausbrüche“. Was meinen Sie damit?

Werner: Das deutsche Gesundheitssystem ist bestimmt von Standesdenken und dem Verfolgen von Partikularinteressen. Dies zieht sich durch alle Bereiche, unabhängig vom Leistungserbringer. Und es liegt auf der Hand, dass diese Denk- und Handlungsstrukturen nicht Fortschritt und Innovation, sondern Beharrung und Stagnation bedeuten. Aktuellstes Beispiel ist die unsägliche Diskussion um das E-Rezept, das ausgedruckte oder handschriftliche Rezepte ersetzen soll – technisch also weiß Gott keine Raketenwissenschaft. Nun wurde selbst diese Minimaldigitalisierung wieder auf unbestimmte Zeit verschoben – offiziell wegen Datenschutzbedenken, tatsächlich aber wohl eher, weil dadurch traditionelle Pfründe bedroht werden.

Wer ist besonders gefordert, um Veränderungen anzustoßen und durchzusetzen?

Werner: Große Veränderungen, wie etwa die Überwindung des analogen Status quo und der Wandel zu einer digital gestützten Medizin, erfordern von allen Akteuren gerade diesen Mut, Strukturen zu verbessern und die eigenen Interessen hintanzustellen. Dieser Mut, der für mich eigentlich eine Pflicht zur Veränderungsbereitschaft ist, fehlt allerorten – nicht nur bei den handelnden Akteuren in der Branche. Auch die Politik schafft es seit Dekaden nicht, das Gesundheitssystem zukunftsfest aufzustellen.

Ist es Ihnen mit dem Smart-Hospital-Ansatz gelungen, echte Veränderungen anzustoßen?

Werner: Wir haben seit 2015 große Fortschritte bei der Umsetzung des Smart Hospitals gemacht. Denn wir haben sehr darauf geachtet, diesen Prozess nicht nur durch eine stringente Strategie, sondern vor allem durch konkrete, nutzenstiftende Projekte zu untermauern. Aber selbstverständlich gibt es nach wie vor zahlreiche Handlungsfelder und Herausforderungen.

Wo genau stoßen Sie noch an Grenzen?

Werner: Herausfordernd ist zum einen die Finanzierung. Wir sehen zwar, dass fast alle digitalen Projekte mittelfristig einen Return on Investment bringen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Investitionsmittel zunächst einmal generiert werden müssen. Das ist selbst für eine Universitätsmedizin nicht einfach; für viele kleine Häuser ist es aber noch deutlich schwieriger. Und zum Zweiten haben wir nicht zuletzt in der Pandemie schmerzhaft erfahren, wie anachronistisch und digital rückständig das deutsche Gesundheitssystem ist – insbesondere, wenn ich an die Schnittstellen zum Gesundheitsamt oder andere Leistungserbringer denke. Ein einzelnes Smart Hospital nutzt daher wenig, wenn es nicht in eine leistungsfähige digitale Infrastruktur eingebunden wird. Hier gibt es noch unendlich viel zu tun.

Welchen Beitrag leistet das Smart Hospital mit Blick auf strukturelle Probleme und Herausforderungen wie den von Ihnen in Ihrem neuen Buch beschriebenen Pflegenotstand?

Werner: In der Tat hat sich diese Perspektive in den letzten Jahren etwas verschoben. Stand in der ersten Zeit beim Smart Hospital vor allem die Entlastung der Mitarbeiter im Vordergrund, also die Binnenperspektive, sehen wir nun immer deutlicher, dass Digitalisierung unverzichtbar ist, um den bundesweiten Pflegenotstand abzumildern. Denn seien wir ehrlich: Den Pflegenotstand werden wir nicht mehr auflösen. Dazu hätte man die entsprechenden Maßnahmen – und da sind wir wieder beim „Mutausbruch“ – vor zehn oder besser 20 Jahren einleiten müssen. Jetzt geht es darum, den dauerhaften Mangel an Fachpersonal zu managen. Dazu brauchen wir die Effizienzsteigerung durch Digitalisierung, aber als zentralen Hebel auch die spürbare Reduzierung der Anzahl von Krankenhäusern, um Ressourcen beim Personal und bei den Investitionen zu bündeln.