Symbolbild zur Vorsorge: Ärztin-Gespräch-Praxis
07.12.2022    Nele Tröger
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Die Lunge ächzt nach fünf Stockwerken Treppensteigen. Stundenlanges Bildschirmarbeiten verursacht Kopf- und Nackenschmerzen. Der Rücken zwickt bereits nach kurzer körperlicher Anstrengung. Viele Menschen kennen solche Probleme. So sind etwa Rückenschmerzen hierzulande die Volkskrankheit Nummer eins. 

Prävention als Erfolgsfaktor

Natürlich ist genetische Veranlagung eine Ursache für Erkrankungen – aber eben nur eine von vielen. Maßgeblich beeinflussen der individuelle Lebensstil und das Verhalten den Gesundheitszustand. Und beides lässt sich bewusst selbst beeinflussen. „Bei der Prävention könnten wir schon heute viel mehr tun“, sagt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse. Er sieht dringenden Handlungsbedarf – sowohl in Bezug auf die Maß­nahmen, die jeder Einzelne ergreifen kann, als auch mit Blick auf die digitale Transformation. 

Bei Letzterem ist es vor allem die Datennutzung, denn Krankenkassen verfügen zwar über umfassende Informationen über ihre Versicherten, dürfen diese allerdings häufig nicht für gezielte Angebote nutzen. Dabei hätte das zahl­reiche Vorteile: „Die zielgerichtete Ansprache von Personengruppen mit einer bestimmten Krankheit ist bei Prävention sehr wichtig“, erklärt Baas. „Wenn wir in den Daten sehen, dass jemand Rückenpro­bleme hat, können wir eine spezielle Bewegungs­therapie anbieten und verhindern, dass die Probleme zu einer ernsthaften Rückenerkrankung werden. Das ist wesentlich effizienter, als Präventionsangebote der breiten Bevölkerung per Gießkanne anzubieten.“

Der Weg zum mündigen Patienten

Zugleich würde ein stärkerer Fokus auf Präven­tionsmaßnahmen auf lange Sicht das Gesundheitssystem entlasten. Denn die Bevölkerung wäre dann insgesamt gesünder, das Gesundheitsbewusstsein des Einzelnen würde gestärkt werden. Denn unabhängig von allen Angeboten, die man unterbreiten kann, gilt schlussendlich: Jeder ist seines Glückes Schmied – beziehungsweise jeder Mensch ist Gestalter seiner Gesundheit. 

Um die Gesundheitserhaltung in die eigenen Hände nehmen zu können, bedarf es nicht nur Kenntnis darüber, was Körper und Geist guttut. Es muss auch Wissen darüber vorhanden sein, ­welche Maßnahmen geeignet sind.

Menschen auf ihrem Weg zu mündigen Patientinnen und Patienten zu unterstützen, die mit Ärtztinnen und Ärzten sowie anderen Leistungserbringern in einen kritischen Austausch gehen, ist essenziell wichtig – nicht nur für eine gesunde Bevölkerung, sondern auch für ein zukunftsorientiertes Gesundheits­wesen. Daher bedarf es zielgerichteter Angebote. Das können Informationen etwa zu gesunder Ernährung und Sportübungen sein, aber auch verständliche Hilfestellungen zum Umgang mit ­körperlichen Beschwerden. Dieses Patient-Em­powerment führt schlussendlich zu einer aufgeklärteren, bewusster lebenden Gesellschaft.

Die Fehler im System 

Doch das allein wird nicht reichen, um das Gesundheitswesen fit für die Zukunft zu machen. Dafür ist die Patient-Journey heute vielfach zu suboptimal. Angefangen bei Problemen mit Terminvereinbarungen und langen Wartezeiten in Arztpraxen und Krankenhäusern sieht Professor Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen, diverse Fehler im großen Ganzen. Er ist der Meinung, dass das Gesundheitssystem neu strukturiert werden muss. 

Wichtig sei: Das Wissen, über das Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenversicherungen verfügen, müsse sinnvoll zusammengebracht werden. „Wir haben über Jahrzehnte hinweg eine Kultur entwickelt, in der wir keine Entscheidungen getroffen haben – vor allem nicht im Bereich der Digitalisierung. Langwierige Debatten und fehlende Entscheidungsbereitschaft führen zu einem Stillstand der Progression. Wenn sich das nicht ändert, kommen wir beim Digitalisieren des Gesundheitswesens nicht weiter“, sagt Werner. Die Digitalisierung sei aber immens wichtig. Und: Im Ländervergleich hinke Deutschland dabei deutlich hinterher. 

Deutschland muss dranbleiben

Spanien, die USA, Dänemark und Griechenland sind nur einige der vielen Länder, die uns im Bereich Telematik- und sonstige digitale Infrastruktur in der Medizin deutlich voraus sind. Auch in der Bevölkerung dort ist der Wandel bereits angekommen: Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag von Fresenius – durchgeführt in Deutschland, Spanien und den USA – messen etwa 55 Prozent der Spanier und 43 Prozent der US-Amerikaner der Telemedizin eine große Bedeutung zu. In Deutschland sind es gerade einmal 16 Prozent. 

Das erklärt auch die geringen Nutzungszahlen: Nur zwei Prozent der Deutschen vereinbaren digitale Videosprechstunden. Von den über 60-Jährigen können sich lediglich 33 Prozent eine solche ärztliche Beratung vorstellen. Wie in vielen Bereichen gilt auch hier: je jünger, desto digitaler. Und so befürworten zwei Drittel aller unter 30-Jährigen einen digitalen Arztbesuch.

Fachkräftemangel: Peak steht noch aus

Auch Dermatologin Dr. med. Estefanía Lang träumt von einer digitalen Praxiswelt. Sie hat die Online-Hautarztpraxis Dermanostic mitgegründet. Potenzial, um virtuelle Arztbesuche beliebter zu machen, bietet ihrer Meinung nach das Metaversum, digitaler Begegnungsplatz und Zukunfts­vision von Meta-Chef Mark Zuckerberg. „Noch ist es schwierig, sich das im Jahr 2022 vorzustellen“, sagt Lang. „Aber wir müssen anfangen, wie Visionäre zu denken. Angesichts des Personalmangels in der Pflege und schwindender Ressourcen ist das eine Lösung, die zumindest in Teilen die Diagnose- und Therapie-Journey unterstützen kann.“

Damit spricht sie ein Thema an, das die Branche umtreibt und für das seit Jahrzehnten keine tragfähige Lösung gefunden wird. Der Deutsche Ärztetag warnte schließlich schon 1991 vor einem Mangel an Pflegepersonal. Bis zum Jahr 2035 fehlen wohl knapp 500.000 Menschen in verschiedenen Pflegeberufen, prognostiziert das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Ein Grund dafür ist auch der demografische Wandel und das durch die insgesamt immer bessere me­dizinische Versorgung höhere Durchschnittsalter der Bundesbürgerinnen und -bürger. Damit nimmt allerdings auch die Pflegebedürftigkeit zu. „Wir brauchen demnach nicht nur mehr Pflegepersonal und eine attraktivere Gestaltung dieser Ausbildungsberufe, sondern auch mehr Digi­talisierung, die diesen Fach­kräftemangel abfedert“, betont Werner.

Die Zukunft der Gesundheit

Sind also mehr Prävention und mehr Digitalisierung der Schlüssel, um lange gesund zu leben und das Gesundheitswesen zu entlasten?  „So einfach ist es leider nicht“, entgegnet Dermatologin Lang. „Denn auch der Klimawandel hat einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit, etwa auf die Haut. So wird es, auch aufgrund der negativen Umwelteinflüsse und der Klimapolitik, die angesichts der aktuellen politischen Lage nicht besser wird, leider immer Erkrankungen geben, die zu behandeln sind.“

Auch wenn sich derzeit viel in der Digitalisierung  der Medizin bewegt und diese Branche nicht zuletzt wegen der Coronapandemie unter erheblichem Zugzwang steht, zeigt sich allerdings auch: Ohne menschliche Kompetenz geht es am Ende doch nicht. Jeder ist gefragt, seine Gesundheit in die eigenen Hände zu nehmen – damit man auch nach zehn Stockwerken  Treppensteigen noch Puste hat.

Zur Person

Jens Baas von der TK

Dr. Jens Baas

Der Arzt ist seit 2012 Vorstandsvorsit­zender der Techniker Krankenkasse

Zur Person

Dr. med. Estefanía Lang

ist Fachärztin für Dermatologie und Venerologie und Mitgründerin der Online-Hautarzt-Praxis Dermanostic

Zur Person

Jochen Werner

Professor Jochen A. Werner

ist seit Oktober 2015 Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen. Sein Ziel: das Klinikum zu einem Smart Hospital umbauen