Internationaler Vergleich

Neues Buch von TK-Chef Jens Baas: „Digitale Gesundheit in Europa“

Nicht jeder taugt zum Vorbild. Unternehmen aus China und den USA beispielsweise nutzen ohne die Zustimmung der Betroffenen persönliche Daten, um Innovationen im Gesundheitswesen hervorzubringen. In Europa gilt dies jedoch nicht als Option. Doch welchen Weg sollten wir stattdessen einschlagen?

23.06.2020

Manch eine Regelung mutet zunächst absurd an. Diese etwa: Krankenkassen wissen genau, welche Medikamente ihren Versicherten verschrieben werden. Was aber passiert, wenn zwei Ärzte unabsichtlich etwas verschreiben, was sich nicht mit­einander verträgt? Etwa weil Patienten über keinen Medika­tionsplan verfügen. Oder weil sie trotz Nachfragen nicht alle eingenommenen Mittel angeben.

Laut einer Studie des Instituts für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) hat jeder 200. TK-Versicherte schon einmal Medikamente verschrieben bekommen, deren gleichzeitige Einnahme ein Gesundheitsrisiko berge. Zu den harmloseren Folgen zählen Übelkeit und Schwindel. Im schlimmsten Fall können Wechselwirkungen allerdings zum Tode führen. Man sollte also meinen, Krankenkassen warnen ihre Versicherten vor den potenziell gefährlichen Wechselwirkungen. Doch: „Die Daten sind da, eine Auswertung ist technisch einfach möglich, aber eben nicht erlaubt“, schreibt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK, in seinem neuen Buch „Digitale Gesundheit in Europa“.

Buchvorschau von TK-Chef Jens Baas: „Digitale Gesundheit in Europa“

Ohne Daten geht es nicht

Was dabei helfen kann, diese Sicherheitslücke bei der Behandlung zu schließen, sind elektronische Gesundheitsakten wie TK-Safe. Darin können Versicherte der TK seit Mai 2019 medizinische Daten – also Medikationspläne, Impfungen, Diagnosen, Röntgenbilder et cetera – zentral speichern und jederzeit einsehen. Ärzte haben nur mit Erlaubnis des Patienten Zugriff auf diese Informationen.

Was bisher nur einzelne Kassen anbieten, wird ab 2021 die Norm. Denn dann können alle gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) von ihrer Krankenkasse erhalten. So will es das Digitale-Versorgung-Gesetz, das die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigen soll. Vor allem in vier Bereichen sind dank digitaler Technologien fundamentale Veränderungen zu erwarten, wie Baas schreibt:

  • neue Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten durch die intelligente Nutzung von Big Data
  • eine Verbesserung der Versorgung durch digitale Anwendungen wie Telemedizin
  • Künstliche Intelligenz als ärztliche Assistenz bei der Diagnose- und Therapiefindung
  • Prozessoptimierungen durch die Vernetzung von Patienten und Krankenkassen

Eines haben diese Punkte gemeinsam: Ohne die Erhebung und Auswertung von Daten wird es keine Fortschritte geben. „Auch wenn der viel zitierte Vergleich, Daten seien das Öl des 21. Jahrhunderts, banal klingt, sind Daten doch zweifelsohne schon heute eine Währung, mit der Konzerne wie Facebook und Google zu den reichsten der Welt wurden“, so Baas. „Aber zum Öl gibt es einen entscheidenden Unterschied: Auch wenn die Fördertechniken noch so verbessert werden, dieser Rohstoff ist endlich. Wohingegen schon heute jede Sekunde eine unvorstellbar hohe Zahl an Daten produziert wird. Dieser Rohstoff wird nie versiegen.“

Die größten Tech-Unternehmen der Welt haben verstanden, dass sich auch im Gesundheitswesen durch intelligente Datennutzung neue Geschäftsmöglichkeiten ergeben. Und so drängen in den USA längst Google, Apple, Facebook und Amazon in den Gesundheitsmarkt; in China mischen Baidu, Alibaba und Tencent kräftig mit – und der Versicherungskonzern Ping An. Dessen Tochterunternehmen Good Doctor ist mit rund 250 Millionen registrierten Nutzern die größte Telemedizin-Plattform der Welt und steht Versicherten rund um die Uhr zur Verfügung. Good Doctor betreibt zudem Gesundheitskioske, in denen Versicherte einem Robo-Arzt ihre Symptome schildern können.

Wo Datenschutz keine Rolle spielt

Die großen Player profitieren beim Eintritt in den Gesundheitsmarkt von einem viel entspannteren Umgang mit dem Datenschutz in ihrer Heimat. Denn Daten sammeln, auswerten und Kapital daraus schlagen: Das ist in den USA legitim, wird von den meisten Verbrauchern nicht kritisch hinterfragt. „Es scheint paradox zu sein: Die meisten Menschen sind sich bewusst, dass ihre Daten ausgewertet und gespeichert werden, nutzen die Anwendungen aber trotzdem“, so Baas. Auch hierzulande. Weil die Nutzung von Google Maps, WhatsApp & Co. eben bequem und einfach ist.

Deutlich befremdlicher ist aus deutscher Sicht allerdings der Blick nach China. „Während die Monetarisierung von Daten in den USA zum kapitalistischen Selbst-verständnis zu gehören scheint, liegen die Daten in China beim Staat oder unterliegen zumindest dessen unmittelbarem Zugriff“, so Baas. Und die chinesische Regierung nutzt die gesammelten Daten ausgiebig: Mithilfe des Social-Credit-Systems, eines datenbasierten Belohnungs- und Sanktionssystems, wird sichergestellt, dass die Bürger sich an Gesetze halten und sich vorbildlich benehmen. Und das heißt: Punktabzug bekommt, wer etwa zu schnell fährt oder kriminell wird. Pluspunkte dagegen gibt es unter anderem für Blutspenden oder die Pflege eines Angehörigen. Wer zu wenige Punkte hat, wird sanktioniert – zum Beispiel durch Reisebeschränkungen, höhere Steuern oder eine schlechtere Krankenversicherung.

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Und der Europäische Weg? 

„Aus europäischer Perspektive scheint dieser Umgang mit Daten schwer vorstellbar und erinnert an dysto-pische Romane wie Orwells ‚1984‘“, so Baas. „Schaut man als Europäer in die USA oder nach China, gewinnt man leicht den Eindruck, ein hoher Digitalisierungsgrad sei immer teuer erkauft und führe zur totalen Transparenz – gegenüber Unternehmen, dem Staat oder beiden. Besonders mit Blick auf sensible Gesundheitsdaten erscheint keine dieser Optionen attraktiv.“

Wie also könnte der europäische Weg der Datenerhebung und -nutzung im Gesundheitswesen stattdessen aussehen? Und kann es den überhaupt geben – trotz der vielen unterschiedlichen Gesundheitssysteme auf dem Kontinent? Auch der Stand der Digitalisierung ist nicht vergleichbar, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung gezeigt hat. Während in Estland, Dänemark und Spanien ePA, E-Rezepte oder der Datenaustausch zwischen Ärzten alltäglich sind, haben Frankreich, Deutschland und Polen Nachholbedarf.

Kein digitaler Flickenteppich mehr

Anne Bucher arbeitet intensiv an einem einheitlichen Weg. Die Französin leitet die Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der Europäischen Kommission. Ihr Ziel: eine stärkere Vernetzung von Gesundheitsdienstleistungen. Im Juli präsentiert sie dem Europäischen Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz eine Bestandsaufnahme der in der EU bestehenden oder geplanten Modelle für den Austausch von Gesundheitsdaten. 

„Dies wird auch Erkenntnisse liefern, die für die Entwicklung europäischer Verhaltensrichtlinien für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Gesundheitssektor hilfreich sein werden“, so Bucher. „Ein gemeinsamer europäischer Gesundheitsdatenraum würde einen besseren Austausch und einen besseren Zugang zu verschiedenen Arten von Gesundheitsdaten fördern – in Übereinstimmung mit der DSGVO und nicht nur zur Unterstützung der Bereitstellung von Gesundheitsleistungen, sondern auch zu Zwecken der Forschung und der Gestaltung der Gesundheitspolitik.“

Daten nutzen und Schützen

Für TK-Chef Baas ist das ein Schritt in die richtige Richtung: „Dass für die medizinische Forschung und die Entwicklung neuer Therapien oder besserer Versorgungsformen künftig Vernetzung und eine solide Datengrundlage die Grundvoraussetzungen sind, steht außer Frage.“ Er empfiehlt, bei der Suche nach einem europäischen Weg zwei Perspektiven im Blick zu haben:

  •  die der Kranken, für die Digitalisierung eine große Erleichterung im Alltag bedeuten kann und denen Innovation auch Hoffnung gibt, die so groß ist, dass Datenschutzbedenken oft zweitrangig sind.  
  • die der Gesunden, für die der Nutzen der Digitalisierung abstrakt ist. Für sie ist die Nutzung ihrer Daten zunächst ein „Draufzahlgeschäft“, weil sie aktuell noch nicht sehen, wie sie davon profitieren.

„Um beide Perspektiven ausreichend berücksichtigen zu können, werden Kompromisse notwendig sein. Vor allem aber zwei Dinge: Der Staat muss den Datenschutz gewährleisten und Verstöße streng sanktionieren. Und die Teilnahme am digitalen Gesundheitswesen und das Bereitstellen eigener Daten muss auf der Basis von Freiwilligkeit geschehen“, so Baas.

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