KBV-Chef Andreas Gassen im Interview
Digitale Tools – ja, Mehraufwand – nein
Nachhaltigkeit und Digitalisierung – die Megatrends unserer Zeit – zwingen auch die Player im Gesundheitswesen zum Handeln. Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und einer der Speaker beim BIG BANG HEALTH-Festival am 6. & 7. September in Essen, über Herausforderungen und Lösungsansätze.
Dr. Andreas Gassen
Der Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie ist seit 2014 Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)
Ein Blick in die Zukunft: Was wird in der Medizin in fünf Jahren möglich sein, was heute noch nicht möglich ist?
Andreas Gassen: Die Digitalisierung wird auch in der Medizin weiter voranschreiten, Telemedizin und KI werden eine größere Rolle spielen. Ebenso die Möglichkeiten der prädiktiven und individualisierten Medizin, wobei genetische Faktoren eine Rolle spielen. Es wird mehr Möglichkeiten geben, ein individuelles Krankheitsrisiko zu bestimmen und entsprechend zu behandeln.
Die bisher eher schleppende Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein Dauerthema. Was bremst die Digitalisierung weiterhin?
Gassen: Das Grundproblem aus unserer Sicht ist, dass die Digitalisierung bislang viel zu sehr aus der technischen Perspektive und zu wenig aus einer Versorgungsperspektive heraus angegangen wurde. Bislang wurden fast ausschließlich Verwaltungsakte digitalisiert, statt Versorgungsprozesse zu betrachten, siehe die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder das E-Rezept. Ein wesentliches Problem aus Sicht der Praxen ist außerdem, dass die Digitalisierung sich dort noch viel zu oft als Hemmschuh für Abläufe erweist, statt dass sie diese beschleunigt und vereinfacht. Hinzu kommen finanzielle Aufwände und Sanktionen für Dinge, auf die die Praxen gar keinen Einfluss haben, etwa die nicht fristgerechte Umsetzung technischer Meilensteine. Umfragen und Rückmeldungen aus den Praxen bestätigen immer wieder, dass Ärztinnen und Ärzte gerne digitale Tools nutzen – vorausgesetzt, dass sie funktionieren und keinen Mehraufwand erzeugen. Wir würden erwarten, dass politisch weniger Top-down entschieden wird, sondern dass diejenigen, die tagtäglich mit den Anwendungen arbeiten müssen und die Experten für die Versorgung sind, wirklich eingebunden werden, statt nur Erfüllungsgehilfen zu sein.
Im Gesundheitswesen werden viele Daten erfasst, wirklich genutzt werden sie allerdings nicht. Damit wird Potenzial etwa zur Entwicklung neuer Therapien verschenkt. Aber sind Daten- und Gesundheitsschutz tatsächlich unvereinbare Gegensätze oder gäbe es Möglichkeiten, Gesundheitsdaten nutzbar zu machen?
Gassen: Daten- und Gesundheitsschutz sind natürlich nicht per se unvereinbar. Sie müssen jedoch stets – wo notwendig auch im Einzelfall – sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Natürlich können und müssen Gesundheitsdaten unter bestimmten Voraussetzungen auch genutzt werden. Entscheidend ist, wer was zu welchem Zweck damit macht. Das oft ja auch stark kommerziell getriebene Interesse an Datenverwertung darf nicht über allem stehen. Mit einem „Blanko-Scheck“ für die Weitergabe von Daten, etwa in Form einer einmaligen Opt-in- oder Opt-out-Regelung, wäre ich vorsichtig. Aus ärztlicher Sicht ist außerdem entscheidend, dass Informationen, die die Menschen ihren Ärztinnen und Ärzten im geschützten Raum einer Arzt-Patienten-Beziehung anvertrauen, auch tatsächlich geschützt bleiben können. Gleichzeitig stehen Patienten, die an einer schwerwiegenden Krankheit leiden, der Verwendung ihrer Daten für Forschungszwecke mitunter offener gegenüber als eher gesunde Menschen. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall. Beides hat seine Berechtigung und muss respektiert werden.
Klimaschutz ist Gesundheitsschutz. Je stärker der Klimawandel voranschreitet, desto größer sind auch die Auswirkungen auf die Gesundheit. Wo und wie kann das Gesundheitswesen noch nachhaltiger werden, um seinen Teil zum Klimaschutz beizutragen?
Gassen: Die Notwendigkeit, nachhaltiger zu wirtschaften betrifft ja alle gesellschaftlichen Bereiche, nicht nur das Gesundheitswesen. Hier muss man allerdings das Problem von zwei Seiten angehen. Zum einen müssen Praxen und Krankenhäuser für eine steigende hitze- und klimabedingte Krankheitslast ertüchtigt werden. Das betrifft insbesondere die Versorgung älterer Menschen, aber nicht nur. Neben den Anforderungen an die Versorgung kann aber natürlich auch das Gesundheitswesen selbst zum Klimaschutz beitragen. Es gibt bereits Initiativen und Organisationen, die hier tätig sind; im Internet findet man Checklisten, wie zum Beispiel Praxen klimafreundlicher werden können. Auf politischer Ebene bedarf es eines gesetzlichen Rahmens, in dem Zuständigkeiten und Kompetenzen der einzelnen Akteure geregelt sind, beispielsweise auch in Form von Hitzeaktionsplänen und im Rahmen des Katastrophenschutzes. Größere Investitionen, etwa in die Gebäudeinfrastruktur et cetera, können nicht von Praxen und Kliniken komplett eigenfinanziert werden. Hier bedarf es entsprechender Förderprogramme.
Gesundheitsinformationen finden sich im Internet zuhauf. Woran erkennen Patientinnen und Patienten seriöse Inhalte?
Gassen: Ein oft wichtiger Anhaltspunkt für die Seriosität jedweder Art von Informationen im Netz ist der Absender. Da hilft gegebenenfalls ein Blick ins Impressum der jeweiligen Seite. Inhaltlich sollten die Informationen ausgewogen und möglichst neutral sein. Wenn ich den Eindruck habe, dass da etwas zu einseitig „angepriesen“ wird, etwa eine Behandlungsmethode oder ein Medikament, ist Vorsicht geboten. Vor- und Nachteile sollten klar benannt werden. Von zu „alarmistischer“ Betrachtung sollte man sich möglichst genauso wenig beeindrucken lassen wie von Heilsversprechen. Am besten sind Quellen, die kein kommerzielles Interesse verfolgen. Seriöse Adressen sind zum Beispiel die Seite gesundheitsinformation.de des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Patienteninformationen auf den Seiten von Kammern und Körperschaften im Gesundheitswesen oder auch das Gesundheitsportal der Bundesregierung – gesund.bund.de.
Redakteurin
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