Technologie

KI: Lange Zeit Fiktion, jetzt Realität

Das Internet, wie wir es kennen, ist schon bald tot. Davon ist die US-amerikanische Futurologin Amy Webb überzeugt. Denn anstatt dass wir dort nach Informationen suchen, hilft Künstliche Intelligenz schon bald dabei, dass das Internet uns sucht und durchsucht – mit Folgen für Gesellschaft und Unternehmen.

08.06.2023

Manchmal braucht es nur eine große Portion Mut, dann werden aus scheinbar fiktionalen, aber guten Ideen vielleicht Innovationen, die sich – mal schneller, mal langsamer – zu Trends und manchmal sogar zu neuen Megatrends entwickeln können. So geschehen zum Beispiel mit dem Web 2.0, der Blockchain-Technologie und Kryptowährungen oder zuletzt dem Metaversum.

Aktuell ist die Künstliche Intelligenz (KI) dank ChatGPT in aller Munde. Damit endet eine lange Zeit der Fiktion, denn KI-Assistenten, die Bücher schreiben, Businesspläne entwickeln und Bilder generieren, sind jetzt Realität und für viele Menschen mit wenigen Klicks jederzeit verfügbar. Eine Internetverbindung vorausgesetzt.

Massive Veränderungen

KI bietet das Potenzial für die nächste große Revolution, die das gesellschaftliche Zusammenleben und nicht zuletzt auch das Arbeiten in den Unternehmen weltweit massiv verändern wird. „KI wird eine so große Veränderung wie die Erfindung der Dampfmaschine bringen“, sagte Amy Webb in einem Podcast des „Handelsblatts“. Sie muss es wissen. Denn das Wort der 48-jährigen US-Amerikanerin hat nicht nur in der Tech-Szene Gewicht. Schließlich gilt die Gründerin des Future Today Institute in New York als wichtigste und bekannteste Zukunftsforscherin der Welt.

Webb sucht schon seit vielen Jahren nach Signalen und Trends, entwirft daraus Szenarien für die Zukunft und entwickelt schließlich Strategien für Unternehmen, damit diese für die Herausforderungen der kommenden Jahre gewappnet sind. Sie hilft Firmen weltweit damit bei der Entwicklung Erfolg versprechender neuer Geschäftsmodelle.

Was Webb den Unternehmerinnen und Unternehmern nicht abnehmen kann: Den Mut zu haben, neuen Technologien zu trauen und den Sprung in die Zukunft zu wagen.

Text-to-everything ist erst der Anfang

Auf dem Tech- und Kulturfestival „South by Southwest“ (SXSW) im texanischen Austin stellte Webb im Frühjahr 2023 ihren neuen „Tech Trend Report“ vor. Die mittlerweile 16. Ausgabe fasst auf 819 Seiten und in 15 Kapiteln stattliche 666 Trends zusammen. Ein Schwerpunkt dieses Mal: der Boom von KI-Assistenten wie ChatGPT, NovelAI, Midjourney oder DALL-E2. Für die Futurologin sind diese Programme der Beginn eines gewaltigen Umbruchs.

Webb ist sich sicher: „Text-to-everything ist erst der Anfang.“ Denn die heutigen KI-Systeme können zunächst nur aus den Texteingaben ihrer Nutzerinnen und Nutzer neue Texte, Bilder, Videos oder Klänge und Musik generieren.

Doch schon in weniger als zwei Jahren soll es laut Webb multimodale KI-Modelle geben, die all das und noch mehr beherrschen – und die in jede Ecke unseres digitalen Alltags einziehen werden. Dass Computer in Zukunft zum Beispiel auch Gerüche erkennen und zuordnen können, hält sie für wahrscheinlich. „Es wird schnell passieren, und wir sind nicht darauf vorbereitet“, sagt Webb.

Schon jetzt zeige sich, dass vonseiten der Behörden immer noch eine umfassende Regulierung in Bezug auf KI und die Verarbeitung der damit verbundenen Datenmengen fehle. Auch vermisst sie die nötige Expertise, um die schlauen Digitalassistenten optimal zu trainieren und für sich zu nutzen. Und zwar in allen Altersklassen. Webb sagt: „Wir sind umgeben von Information, aber wir bekommen nicht die Information, die wir wollen.“ Dafür brauche es schließlich die richtigen Skills.

Unumkehrbare Abhängigkeit zwischen Mensch und Maschine

Trotzdem gebe es kein zurück mehr: Webb sieht schon bald eine neue Ära der assistiven Technologie auf die Menschheit zukommen.

Denn je intensiver die Menschen KI-Systeme nutzen würden, desto weniger könnten sie irgendwann ohne diese unsichtbaren Tools leben. Vielmehr denken sie irgendwann gar nicht mehr darüber nach, dass sie eigentlich digitale Hilfsmittel nutzen. Und das führe zu einer unumkehrbaren Abhängigkeit zwischen den Menschen auf der einen und den Maschinen auf der anderen Seite.

Webb sagt voraus, dass uns in nicht allzu ferner Zukunft die „große Aismosis“ bevorsteht. Was das ist? Mit dieser von ihr kreierten Wortschöpfung beschreibt sie eine KI-Osmose, also eine vollkommen von KI durchdrungene Welt, mit dramatischen Auswirkungen auch auf die bestehenden digitalen Infrastrukturen. Oder, wie die Zukunftsforscherin es formuliert: „Das Internet, wie wir es kennen, ist am Ende. Aismosis wird sich mit dem Web 3.0 entwickeln, ist dezentralisiert und wird unsere Privatsphäre beeinflussen."

Mehr Power, neue Infrastruktur

Einen Weg zurück gebe es nicht mehr. Allerdings hätten Menschen, Organisationen und Unternehmen es selbst in der Hand, die Zukunft maßgeblich mitzugestalten. Dadurch kann einem möglichen Katastrophenszenario mithilfe von technischen Innovationen entgegengetreten werden. Hierfür brauche es Mut, clevere Ideen und nicht zuletzt finanzielle Mittel. Denn damit KI-Systeme leistungsfähiger werden, benötigten sie immer größere Datenmengen, die nur mit einem Vielfachen an Rechenpower verarbeitet werden könnten.

Voraussetzung dafür seien wiederum eine völlig neue digitale Infrastruktur und wesentlich leistungsstärkere Cloud-Umgebungen, die allerdings nur von einigen wenigen Tech-Giganten wie Google, AWS oder Microsoft bereitgestellt und finanziert werden könnten.

Webb zeichnet ein dystopisches Bild und warnt davor, dass Userinnen und User künftig immer größere Datenmengen in die Hand weniger Unternehmen legen würden. Und das könnten diese wiederum für immer aggressiveres Empfehlungsmarketing missbrauchen.

„Unsere Daten fließen in die Systeme großer Tech-Firmen, und es gibt keinen Weg, sie wieder aus dem System herauszuziehen. Wenn wir also nicht vorbereitet sind, werden wir Probleme bekommen, weil wir von großen Unternehmen abhängig sein werden“, so Webb. Sie appelliert deshalb auch an die Firmen, sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst zu sein und nicht alles, was technisch möglich ist, auch zu tun.

Fest steht aber auch: Menschen, Gesellschaft und Unternehmen müssen sich darauf einstellen, dass schon bald nichts mehr so ist, wie es war. Die nächste technische Revolution ist bereits in vollem Gang.

Amy Webb

ist eine weltbekannte Futurologin, Hochschullehrerin und Gründerin des Future Today Institute in New York. Viel beachtet sind ihre Auftritte auf der Tech-Messe „South by Southwest“ in Austin, Texas