Just in time war einmal; Vorratshaltung ist wieder in. Denn offenbar wollen sich immer weniger deutsche Unternehmen darauf verlassen, dass Vorprodukte und fertige Waren zur rechten Zeit am richtigen Ort ankommen. Die Coronapandemie, die Havarie des Frachters „Ever Given“ im Suezkanal sowie der Ukraine-Krieg haben schließlich gezeigt, wie vulnerabel die globalen Lieferketten sind.
Laut einer Umfrage des ifo-Instituts haben 68 Prozent der hiesigen Unternehmen ihre Lager in den vergangenen zwei Jahren vergrößert; 65 Prozent haben sich zusätzliche Lieferanten gesucht. Und 13 Prozent wollen unabhängiger sein und stellen einstige Zuliefererteile jetzt selber her.
Schäden durch gestörte Lieferketten sind enorm
Welche Folgen gestörte Lieferketten für eine Volkswirtschaft haben, hat das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Da Vorprodukte aus dem Ausland nicht geliefert wurden, konnte die deutsche Industrie von Anfang 2021 bis Mitte 2022 Güter im Wert von 64 Milliarden Euro nicht herstellen. Hätten die Vorprodukte nicht gefehlt, wäre das Bruttoinlandsprodukt Ende 2021 um 1,2 Prozent und Mitte 2022 um 1,5 Prozent höher ausgefallen.
Vor allem die Automobilindustrie hatte im untersuchten Zeitraum zu kämpfen. Die Wertschöpfung der Branche ist um knapp 31 Milliarden Euro geringer ausgefallen. Am Mangel an Halbleitern zeigen sich die Auswirkungen von Lieferengpässen besonders stark: Ihr Fehlen hat in der Autoindustrie einen Verlust in der Wertschöpfung verursacht, der etwa das Zehnfache des Werts der fehlenden Bauteile bedeutete.
Lieferketten resilienter gestalten
Die Forscher der Hans-Böckler-Stiftung empfehlen, dass „der Resilienz der Lieferkette künftig zulasten der Kosteneffizienz ein höheres Gewicht beizumessen“ sei. Sie raten zu einer umfangreicheren Lagerhaltung, zur Diversifikation der Lieferanten und dazu, die Nachhaltigkeit der Bezugsquellen stärker in den Fokus zu rücken.
Letzteres ist ab 1. Januar 2023 für Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitenden Pflicht, ab 1. Januar 2024 auch für Firmen mit über 1.000 Beschäftigten. Denn zum Jahreswechsel tritt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – kurz: Lieferkettengesetz – in Kraft.
Indirekt sind von den neuen Regelungen allerdings auch Zehntausende kleine und mittlere Firmen betroffen, die als Zulieferer oder Dienstleister Teil der Wertschöpfungskette großer Unternehmen sind. Sie müssen ihren Kunden künftig regelmäßig Auskunft geben – unter anderem zu den Arbeitsbedingungen und zu Maßnahmen zum Umweltschutz in ihrem Betrieb sowie darüber, was sie über ihre Lieferanten, Dienstleister und Subunternehmer wissen.
Was schreibt das Lieferkettengesetz vor?
Das Lieferkettengesetz verpflichtet Unternehmen dazu, gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße bei Zulieferern vorzugehen. Dazu muss ein Risikomanagementsystem implementiert werden, dass eine mindestens jährliche menschenrechts- und umweltbezogene Analyse der eigenen Tätigkeiten und der direkten Lieferanten ermöglicht.
Werden bei der Risikoanalyse Lücken in Bezug auf die gesetzlich verankerten Sorgfaltspflichten entdeckt, müssen Unternehmen Gegenmaßnahmen ergreifen, diese dokumentieren und ihre Wirksamkeit regelmäßig überprüfen.
Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) kontrolliert die Einhaltung des Lieferkettengesetzes. Bei Verstößen können Bußgelder in Höhe von bis zu acht Millionen Euro oder zwei Prozent des weltweiten Jahresumsatzes verhängt werden. Darüber hinaus können Firmen für drei Jahre von öffentlichen Ausschreibungen ausgeschlossen werden.
Gesetz hilft dabei, nachhaltiger zu werden
Eigentlich bietet das Lieferkettengesetz Unternehmen eine Möglichkeit, Nachhaltigkeit konsequent in der Wertschöpfungskette zu verankern. Es steht für einen tiefgreifenden Wandel: weg von Profit um jeden Preis, hin zum verantwortungsvollen Wirtschaften. Und man sollte meinen, dass es daran wenig auszusetzen gibt. Dennoch ist das Lieferkettengesetz eines der umstrittensten Gesetze der letzten Jahre.
So bezeichnete etwa Markus Jerger, Bundesgeschäftsführer der Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, die Regelungen gegenüber DUP UNTERNEHMER als „realitätsfremd“.
Wirtschaftsverbände üben Kritik
Kurz nach der Verabschiedung im Juni 2021 sagte er: „Das Lieferkettengesetz ist sicher gut gedacht, aber schlecht gemacht. Nehmen Sie das Beispiel Exportbranche Maschinenbau: Werkzeugmaschinen bestehen aus Tausenden Einzelteilen. Soll der Hersteller allen Ernstes für jedes Einzelteil die Lieferkette minutiös dokumentieren? Beispiel Sekundärrohstoffe: Wie soll ein Unternehmen bei recyceltem Schrott nachweisen, dass bei der Gewinnung der Primärrohstoffe keine Menschenrechte verletzt wurden? Beispiel Import-Stahl: Welche Standards bei Arbeitsschutz und Arbeitszeiten sollen denn für den indischen Stahlkocher gelten? In letzter Konsequenz droht uns ein Protektionismus-Regime.“
Mit seiner Kritik ist Jerger nicht allein. Karl Haeusgen, Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, sagte kürzlich: „Unsere Firmen sollen unter anderem auch dafür verantwortlich sein, dass rund um den Globus die europäischen Umwelt- und Sozialstandards eingehalten werden – sonst werden sie bestraft. Das ist völlig unrealistisch.“
Wie das Lieferkettengesetz umgesetzt werden kann
Doch an den Tatsachen ändern die kritischen Stimmen nun nichts mehr. In wenigen Wochen tritt das Lieferkettengesetz offiziell in Kraft. Wer bisher nicht tätig geworden ist, muss also dringend handeln. Und das gilt auch für kleine und mittelständische Unternehmen, die aufgrund ihrer Mitarbeiterzahl nicht direkt betroffen sind, aber im Zweifel ihren Kunden gegenüber auskunftsfähig sein müssen.
Im ersten Schritt gilt es, den unternehmensspezifischen Status quo zu erfassen. Wo stehen wir aktuell bei der Erfüllung der Sorgfaltspflichten? Was tun wir, um soziale und ökologische Mindeststandards einzuhalten? Wo haben wir Nachholbedarf und müssen Anpassungen bei Prozessen und Strukturen vornehmen? Dafür gilt es, unter anderem die Bereiche Beschaffungswesen, HR, Stakeholder-Management, IT und Datenhaltung kritisch zu überprüfen.
Digitale Tools erleichtern die Einhaltung von Standards
Im nächsten Schritt geht es dann darum, auf Basis der Analyseergebnisse Maßnahmen zu ergreifen, Verantwortlichkeiten festzulegen, ein Risikomanagement einzurichten und Beschwerdeverfahren zu entwickeln. Wie aufwendig das alles ist, hängt vor allem davon ab, wie folgende Frage beantwortet wird: Wollen wir nur die Mindestanforderungen erfüllen – oder wollen wir durch unsere Maßnahmen eine Vorreiterrolle bei der nachhaltigen Gestaltung der Wertschöpfungskette einnehmen?
In Schritt drei müssen die Maßnahmen zur Erfüllung der Vorgaben des Lieferkettengesetzes in die tägliche Arbeit implementiert sowie deren Wirksamkeit regelmäßig kontrolliert werden. Dabei können digitale Lösungen helfen. So helfen Programme wie Tacto insbesondere Mittelständlern dabei, die Mindestanforderungen des Lieferkettengesetzes ohne großen Mehraufwand zu erfüllen – etwa, indem Lieferanten auf Knopfdruck qualifiziert und durch eine Bewertung der Lieferanten frühzeitig Risiken erkannt und Präventionsmaßnahmen eingeleitet werden können.
Weitere gesetzliche Vorgaben werden folgen
Dass auch kleinere und mittelständische Unternehmen das Lieferkettengesetz nicht ignorieren und jetzt – ebenso wie die direkt betroffenen Betriebe – handeln und ihre Wertschöpfungskette prüfen sollten, hat zwei Gründe.
Erstens: „In den nächsten Jahren wird es wahrscheinlich zu einer europäischen Richtlinie kommen, deren Regulierungen sogar noch strenger sein könnten“, sagt André Petry, Geschäftsführer von Tacto. „Daher ist es so wichtig, sich als Mittelständler auf die bevorstehenden Anforderungen mit passenden Systemen und Prozessen vorzubereiten.“
Im Februar 2022 hat die EU-Kommission einen Vorschlag für die EU-Lieferketten-Richtlinie vorgelegt. Wann sie in Kraft tritt ist ungewiss; über die konkreten Inhalte wird noch verhandelt. Klar ist aber bereits: Diese Richtlinie wird auch Mittelständler mit mehr als 500 Mitarbeitern und 150 Millionen Euro Umsatz direkt betreffen.
Zweitens: der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. „Es ist derzeit völlig ungewiss, ob das Lieferkettengesetz sein Ziel erreichen wird, das menschenrechtliche Schutzniveau entlang der Lieferketten zu erhöhen“, sagt Christoph Schröder, Rechtsanwalt bei der Wirtschaftskanzlei CMS. „Unternehmen werden sich genau überlegen, ob es am Ende nicht günstiger ist, den Zulieferer zu wechseln, statt sich mit ungewissem Ausgang darum zu bemühen, die Arbeitsbedingungen bei einem problematischen Anbieter zu ändern.“