Scheinwerfer strahlt leeren Schreibtisch an
01.02.2022
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In diesem Jahr floss mehr Venture-Capital in ambitionierte europäische Scale-ups denn je zuvor. In dreistelliger Millionenhöhe sammeln Gründerinnen und Gründer ab der Series B Summen ein, von denen sie vor einigen Jahren nur träumen konnten.

Gleichzeitig vergrößert sich die Kluft im Mittelstand. Die einen begreifen die digitale Transformation entweder als Bedrohung oder maximal als Optimierungsmöglichkeit für ihr Kerngeschäft und klammern sich verzweifelt (wie aussichtslos) an vergangene Erfolge. Andere erkennen die Chance, ihr Geschäft um innovative digitale Geschäftsmodelle zu erweitern.

Investoren wünschen sich Digital Leader

Sowohl vergleichsweise junge, dafür aber gut finanzierte Scale-ups als auch opportunitätsgetriebene Mittelständler sorgen vor allem für eines: Der Kampf um die besten Führungspersönlichkeiten in Europa verschärft sich. Schließlich steht und fällt das erfolgreiche Wachstum der Unternehmen mit der Besetzung zentraler C-Level-Positionen – und niemand weiß das besser als die Investoren.

Kaum ist eine Runde abgeschlossen, sehen sich Gründerinnen und Gründer schnell der vehementen Forderung ihrer Kapitalgeber gegenüber: Holt euch die Top-Leute – und zwar besser gestern als morgen!

Sie buhlen dabei um den gleichen überschaubaren Personenkreis wie auch wachstumsorientierte Mittelständler. Denn das ideale Profil sieht für solche Positionen meist so aus: hat selbst bereits digitale Geschäftsmodelle aufgebaut und skaliert sowie idealerweise im Konzern und im Consulting gearbeitet.

Darauf kommt es beim Top-Level-Recruiting an

Was können Unternehmen in dieser kompetitiven Zeit also machen, um Europas Top-Führungspersönlichkeiten der Digitalindustrie zu erreichen und für das eigene Unternehmen zu begeistern? Sechs zentrale Punkte.

1. C-Level-Aufbau hat oberste Priorität

Von Investor Ben Horowitz stammt das Zitat: „We take care of the people, the products and the profits – in that order“.  Davon können sich sowohl Start-up-Gründerinnen und -Gründer als auch Mittelständler etwas abgucken.

Wer in Zeiten der digitalen Transformation neue Geschäftsmodelle aufbauen und skalieren möchte, der wird als Unternehmenslenker einen permanenten Balanceakt zwischen operativem Geschäft und strategischem Weitblick meistern müssen. Der Aufbau einer starken Führungsebene ist für das Gelingen der entscheidende Hebel, wird oft jedoch viel zu lange ignoriert.

Daher gilt: Inhaberinnen und Inhaber mittelständischer Unternehmen sowie Gründerinnen und Gründer müssen Top-Level-Recruiting in den Fokus rücken. Wir kennen Unternehmen in der Hypergrowth-Phase, in denen die Gründerinnen und Gründer mindestens 20 Prozent ihrer Zeit nur mit Recruiting verbringen.

2. C-Level-Besetzungsprozesse brauchen Due Diligence

Wir erleben nur allzu oft, dass ambitionierte Scale-ups, aber auch erfahrene mittelständische Inhaberinnen und Inhaber exzellente Kandidatinnen und Kandidaten durch ein Hin und Her im Interviewprozess verprellen. Oft mangelt es schlicht an gegenseitigem Verständnis. Ursache dafür ist, dass vor dem Besetzungsprozess keine rationale Analyse der eigenen Organisationsarchitektur erfolgt ist.

Die weitreichenden Konsequenzen: Die besten Talente der Digitalwirtschaft haben aktuell die freie Wahl. Und je nach gesuchtem Kaliber und Erfahrung reden wir hier von einer sehr kleinen Gruppe an Kandidatinnen und Kandidaten, die auch untereinander gut vernetzt ist.

Ein unorganisierter Prozess oder lückenhafte Kommunikation verbrennen schnell den ganzen Markt. Umgekehrt sprechen sich aber auch positive Erfahrungen schnell herum. Gründerinnen und Gründer sowie Inhaberinnen und Inhaber müssen hier meist einen blinden Fleck (und durchaus auch das eigene Ego) hinterfragen. Ein externer Moderator sorgt für den richtigen Dialog.

3. Auf Augenhöhe kommunizieren

Erspart euren Kandidatinnen und Kandidaten bitte Brainteaser der Sorte „Wie viele Tischtennisbälle passen in einen Olympia-Swimmingpool?“. Die besten Kandidatinnen und Kandidaten intensiv auf ihre Kompetenzen zu prüfen ist wichtig – und erwünscht. Gleichzeitig wollen die Besten sehen, dass das Unternehmen den Besetzungsprozess ernst nimmt. Schließlich geht es nicht nur um die Zukunft des Unternehmens, sondern auch um eine persönlich wegweisende berufliche Entscheidung.

Besser: Bearbeitet mit den Kandidatinnen und Kandidaten einen konkreten Case mit einer Herausforderung, die wirklich etwas mit der Position zu tun hat – je konkreter und transparenter, desto besser. Ein Fallbeispiel ermöglicht es, mit Kandidatinnen und Kandidaten auf Augenhöhe zu kommunizieren und dabei inhaltlich in die Tiefe zu gehen. So merken beide Seiten schnell, wie eine Zusammenarbeit auf Führungsebene funktionieren wird.

4. Netzwerk, Netzwerk und nochmal Netzwerk

Die Kaltakquise über Linkedin & Co. wird immer umkämpfter. Umso besser ist, wenn bereits ein Netzwerk an vielversprechenden Kandidatinnen und Kandidaten besteht, das man aktivieren kann. Oder aber man holt sich Multiplikatoren dazu, die nicht nur mit einem Netzwerk prahlen, sondern dies durch entsprechende Referenzen auch vorweisen können.

Fakt ist: In unserem weit vorangeschrittenen digitalen Ökosystem ist es schwierig, jetzt noch bei Null anzufangen. Der Vorteil des fortgeschrittenen Reifegrads ist aber: Man muss es auch nicht. Beim Netzwerkaufbau gilt die Schneckenhausformation: Fangt bei euren belastbarsten und vertrauensvollsten Kontakten an (eurem Inner Circle), nutzt sie als Multiplikatoren und arbeitet euch von dort zu den weiter entfernt liegenden Netzwerkpunkten vor.

5. Präsentiert euer Unternehmen als Marke

Gründerinnen und Gründer sowie Inhaberinnen und Inhaber sind die wichtigsten Repräsentanten des Unternehmens. Sie sollten ihr Unternehmen daher als Marke repräsentieren und vice versa dieses nutzen, um sich selbst sichtbar zu machen. Das C-Level arbeitet schließlich unmittelbar mit ihnen zusammen, besonders unternehmerische Kandidatinnen und Kandidaten haben in der Regel auch ein starkes Interesse an Anteilen. Sie wollen bereits im Vorfeld wissen, welche Haltung die Gesellschafter verkörpern. Denn Führungspersönlichkeiten, die Unternehmen wirklich auf die nächste Wachstumsstufe bringen können, sind in den allermeisten Fällen impact-getrieben. Jenseits der eigenen Karriere haben sie vor allem ein Ziel: Mehrwert für die Welt und die Gesellschaft zu kreieren.

6. Sucht Klone in der Haltung, aber komplementäre Fähigkeiten und Persönlichkeiten in der Führung

Gerade wenn der Entscheidungsdruck in Wachstums- und Transformationsphasen immens ist, tendieren wir als Menschen dazu, uns mit Anderen zu umgeben, die uns ähnlich sind. Das ist menschlich. Wir sind keine Roboter. Doch gerade im Wachstum brauchen Unternehmen ein breiteres Repertoire an Fähigkeiten und Persönlichkeiten, die ihre Stärken in unterschiedlichen Situationen ausspielen können.

Daher sollten Start-up-Gründerinnen und -Gründer ebenso wie Inhaberinnen und Inhaber wachstumsorientierter mittelständischer Unternehmen beim Aufbau des C-Levels nach Personen Ausschau halten, die sie komplementär ergänzen. Klone braucht es hingegen in Haltung, also bei den Werten, die man teilt. Idealerweise greift auf diese Weise wie bei einem Puzzle ein Stück in das andere. Sprich: Die Führungspersönlichkeiten ergänzen sich durch ihre Vielfältigkeit ideal statt sich selbst (und damit auch ihre blinden Flecken) eins zu eins zu kopieren.

Zur Person

Martina van Hettinga von i-potentials

Martina van Hettinga

ist geschäftsführende Gesellschafterin bei i-potentials, der führenden Executive Search Boutique der digitalen Wirtschaft in der DACH-Region. Als Unternehmerin, Investorin und Beirätin hat sie zahlreiche wachstumsorientierte digitale Start-ups und KMU aufgebaut

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