Arbeitsrecht

So kommen Sie der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nach

Das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem September lässt wenig Interpretationsspielraum. Denn demnach ist Arbeitszeiterfassung ab sofort Pflicht. Und trotzdem herrscht bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern Unklarheit, was jetzt zu tun ist. Doch nun zeigt eine Urteilsbegründung, die das Landesarbeitsgericht München veröffentlicht hat, worauf sich Unternehmen wohl einstellen müssen.

03.11.2022

Auch bei Vertrauensarbeitszeit müssen die Arbeitsstunden der Angestellten dokumentiert werden. Das entschied das Landesarbeitsgericht München (Aktenzeichen 4 TaBV 9/22) im Sommer 2022.

In der nun veröffentlichten Urteilsbegründung heißt es, ein Betriebsrat dürfe entsprechende Auskünfte verlangen. Denn diese Informationen seien erforderlich, damit Arbeitnehmervertreter ihre gesetzlichen Aufgaben – etwa die Kontrolle der Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes – erfüllen können.

Arbeitszeiterfassung muss lückenlos erfolgen

Das ist die erste Urteilsbegründung dieser Art, die seit dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13. September 2022 (Aktenzeichen 1 ABR 22/21) veröffentlicht wurde. Das BAG entschied, dass Arbeitszeiten lückenlos und systematisch protokolliert werden müssen. Doch was das in der Praxis konkret bedeutet – darüber herrscht bei Beschäftigten und Arbeitgebern nach wie vor Unklarheit. Eine genaue Urteilsbegründung liegt bisher nicht vor; auch ein entsprechender Gesetzesentwurf fehlt noch.

In einer kurzen Mitteilung des BAG zum Urteil hieß es lediglich, Arbeitgeber seien „gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen“. Diese Pflicht wird mit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshof aus dem Mai 2019 begründet, dem „Stechuhr-Urteil“ (Aktenzeichen C-55/18).

EuGH-Urteil aus dem Mai 2019 gilt auch in Deutschland

Der EuGH hatte damals geurteilt, dass die EU-Mitgliedsstaaten Arbeitgeber gesetzlich zur Einrichtung von Arbeitszeiterfassungssystemen verpflichten müssen. Allerdings wurde diese Entscheidung in den vergangenen dreieinhalb Jahren nicht in deutsches Recht überführt.

Das BAG bestätigte mit dem Urteil die unmittelbare Geltung der Entscheidung des EuGH auch ohne gesetzliche Ausgestaltung durch die Bundesregierung. BAG-Präsidentin Inken Gallner sagte dazu, nach dem EuGH-Urteil habe Deutschland Gestaltungsspielraum über das Wie, nicht das Ob der Arbeitszeiterfassung.

Arbeitszeiterfassung ist gar nichts ungewöhnliches

Doch ändert sich mit dem BAG-Urteil wirklich so viel in Unternehmen? Jein. Bisher war es nicht erforderlich, alle Arbeitsstunden zu erfassen. Lediglich über die tägliche Regelarbeitszeit hinausgehende Tätigkeiten – also Überstunden sowie Sonn- und Feiertagsarbeit – mussten zwingend dokumentiert werden.

Doch der „Lexware Trendradar“ aus dem Oktober 2022 zeigt: 49 Prozent der Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen erfassen bereits die gesamte Arbeitszeit ihrer Angestellten. Und das war bei den meisten auch schon vor dem EuGH-Urteil 2019 so.

Weshalb in diesen Betrieben die Arbeitszeit der Angestellten vielfach längst systematisch erfasst wird, liegt zu weiten Teilen an Minijobs. Branchen wie die Gastronomie, die Logistik, das Personenbeförderungswesen oder der Bausektor unterliegen dem Mindestlohngesetz, das die Dokumentationspflicht der Arbeitszeit von geringfügig Beschäftigen vorschreibt.

Zu viel Aufwand, zu wenig Nutzen

Wer hingegen mit der Arbeitszeiterfassung bisher nichts am Hut hat, sieht das Thema auch eher kritisch, wie aus der Befragung von Lexware, einem Anbieter von kaufmännischen Softwarelösungen, hervorgeht. Die Hälfte der Befragten aus Unternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern lehnt das Urteil ab, da die Umsetzung für sie mit hohem zeitlichen beziehungsweise bürokratischen Aufwand verbunden ist.

Gerade bei solch kleinen Unternehmen stellt sich auch die Sinnfrage einer solchen Erfassungspflicht. Denn in Unternehmen mit nur einer Handvoll Angestellten brauchen die Verantwortlichen keine Stundenzettel, um das Arbeitspensum jeder einzelnen Person zu kennen und zu steuern. Eine gesetzlich vorgeschriebene Zeiterfassung bedeutet dann tatsächlich in erster Linie viel Aufwand, wenig Ertrag.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist die aber die Zukunft

„Arbeitszeiterfassung ist kein bürokratischer Selbstzweck, sondern Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten werden – was heutzutage viel zu oft nicht der Fall ist“, sagt hingegen Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Folglich fürchten viele nun, dass das Ende der in der Coronazeit liebgewonnenen flexiblen Arbeitsmodelle gekommen sei.

Klar, „echte“ Vertrauensarbeitszeit wird es nicht mehr geben, wenn jede Minute protokolliert werden muss. Und Vertrauensarbeitszeit ist nun einmal ein zentrales Element von New Work. Beschäftigte können dabei weitgehend selbstbestimmt arbeiten. Im Fokus steht nicht die Zahl der Stunden, die gearbeitet wird. Wichtig ist nur, dass das Ergebnis stimmt.

Doch diese Einstellung passt eigentlich so gar nicht zum hierzulande geltenden Arbeitsrecht. Denn eigentlich schuldet ein Angestellter seinem Arbeitgeber nicht den Erfolg eines Projekts. Er ist lediglich verpflichtet, seiner Arbeit nachzugehen.

Die tägliche Höchstarbeitszeit beträgt zehn Stunden

Damit ist Vertrauensarbeitszeit eine Steigerung der Gleitzeitregelung. Bei einer Gleitzeitvereinbarung werden zum einen gewisse Kernarbeitszeiten definiert, zum anderen variable Zeiten, über die Arbeitnehmende selbst entscheiden dürfen. Die gesetzliche Höchstgrenze von zehn Stunden täglich darf allerdings nicht überschritten werden.

Genau das will das BAG sicherstellen. In der Verhandlung berief man sich daher auch nicht auf Paragraf 16 des Arbeitszeitgesetzes, in dem geregelt ist, wie Überstunden zu erfassen sind. Stattdessen berief man sich auf Paragraf 3 des Arbeitsschutzgesetzes: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen.“ Und in der Logik der BAG-Richter gehört zum Arbeitsschutz auch, dass Arbeitgeber die Kontrolle über die tatsächlich geleisteten Stunden haben, um übermäßige Überstunden zu verhindern.

Arbeitszeiterfassung ja, aber wie?

Fragt sich nur, was nun konkret zu tun ist. Schließlich gibt es vonseiten der Bundesregierung nach wie vor keine Hinweise, was passieren wird.

„Unternehmen sollten dem Gesetzgeber nun einen Schritt voraus sein und eine objektive, verlässliche sowie zugängliche Methode der Arbeitszeiterfassung etablieren“, sagt Florian Berr, Vice President DACH bei Planday, einem Anbieter von Personalplanungssoftware. „Mit einer digitalen Stempeluhr können sich Mitarbeitende via App oder auch stationär ein- und ausstempeln – egal ob im Betrieb selbst, im Homeoffice oder im Außendienst.“

Bisher dominieren bei der Zeiterfassung Papier und Stift. So erfassen laut „Lexware Trendradar“ 50 Prozent der Unternehmen die Arbeitszeit. Ob man damit dem BAG-Urteil gerecht wird, ist fraglich. Schließlich ist diese Lösung nicht fälschungssicher. Mit speziellen Softwarelösung arbeiten 21 Prozent der Befragten, elektronische Tabellen nutzen 24 Prozent.

Je mehr Kontrolle, desto schlechter das Arbeitsklima?

Neben dem bürokratischen Aufwand sehen die von Lexware befragten Unternehmerinnen und Unternehmer noch weitere Probleme durch das BAG-Urteil auf sich zukommen:

  • 22 Prozent rechnen damit, dass sich das Arbeitsklima durch die Zeiterfassung verschlechtern wird.
  • 37 Prozent erwarten Probleme, weil Mitarbeitende ihrer Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nicht nachkommen und ermahnt werden müssen.
  • 45 Prozent fürchten, dass sich Angestellte künftig kontrolliert fühlen.

Befürchtungen, die Arne Sjöström teilt: „Das Urteil des BAG kann weitreichende Konsequenzen für das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben“, sagt der Senior People Scientist bei der Employee-Experience-Plattform Culture Amp. „Je mehr Kontrollmechanismen in Unternehmen eingeführt werden, desto schwieriger wird es, ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. Dies kann sich negativ auf das Engagement der Mitarbeitenden auswirken.“