Sein erster Online-Kauf war ein Sweatshirt, natürlich bestellt auf Otto.de. 1995 war das – und Alexander Birken arbeitete zu diesem Zeitpunkt schon seit vier Jahren für den Handelskonzern. Heute versucht die Hamburger Unternehmensgruppe, mit knapp 50.000 Mitarbeitenden weltweit dem übermächtigen Konkurrenten Amazon Paroli zu bieten. Mit Erfolg: Im ersten Halbjahr des Geschäftsjahrs 2021/22 legte der Umsatz um 20 Prozent zu, im Online-Geschäft gar um 30 Prozent. Mit Brigitte Zypries, Herausgeberin des DUP UNTERNEHMER-Magazins und ehemalige Bundeswirtschafts- und -justizministerin, diskutiert er die Zukunft des Handels.
Interview mit Alexander Birken
Emissionsfrei, smart, hybrid: So sieht der Otto-Chef die Zukunft des Handels
Werden die Geschäfte aussterben? Liefern Drohnen bald Pakete aus? Und wie will sich die Otto Gruppe vom Online-Giganten Amazon unterscheiden? Otto-CEO Alexander Birken wirft einen Blick in die Zukunft – und erklärt, wie die Coronapandemie das Shoppen verändert hat.
14.01.2022
Alexander Birken
ist seit 2017 Vorstandsvorsitzender der Otto Group. Zuvor war der gebürtige Hamburger in verschiedenen anderen Führungspositionen für das Unternehmen tätig
Seit ungefähr 25 Jahren existiert der Onlinehandel. Erinnern Sie eigentlich noch, was Sie als allererstes online gekauft haben?
Alexander Birken: Ja, ich kann mich gut daran erinnern. 1995 ist Otto.de gerade neu gelauncht worden und ich habe dort ein Sweatshirt gekauft.
Was waren denn in diesen zweieinhalb Jahrzehnten die größten Errungenschaften im Handelsbereich für Ihre Kunden?
Birken: Zunächst die Tatsache, dass Mitte der 90er-Jahre das Shopping ins Internet gegangen ist. Zuvor hat die Otto Gruppe viel experimentiert: Es gab CD-ROMs, BTX Minitel, beim Betriebssystem von Microsoft waren wir einmal als Shop vorinstalliert. Doch erfolgreich waren wir mit dem Onlineshop. Das war der erste ganz große und mutige Schritt, denn man konnte überhaupt nicht erahnen, wohin die Reise geht. Die nächste große Errungenschaft war die Einführung des iPhone im Jahr 2007. Als ich es zum ersten Mal in der Hand hatte, habe ich nicht verstanden, wie sehr es unser gesamtes Lebens verändern wird. Heute ist Mobile Shopping etwas ganz Normales. Unsere Kunden kaufen Möbel, Schränke oder Sofas mit ihrem Smartphone. Der dritte Meilenstein ist das Unternehmen About You, das im Sommer an die Börse gegangen ist. Es hat das Thema Inspiration im Online-Sektor neu definiert und für Kunden neue Welten erschlossen hat.
Wohin wird sich der internationale Handel und das Handelsgeschäft in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln?
Birken: Die Corona-Krise hat massiv dazu beigetragen, dass sich das Kaufverhalten grundsätzlich verändert hat. Im Frühjahr 2020 hatten wir noch viele Online-Neulinge, die uns treubleiben. Diese Verschiebung in Richtung Onlineshopping wird sich fortsetzen.
Frau Zypries, wie blicken Sie in die Zukunft des Handels?
Brigitte Zypries: Es wird eine Zweiteilung geben: Auf der einen Seite den Ausbau des Online-Handels. Gerade jüngere Bevölkerungsgruppen kaufen ganz selbstverständlich online. Auf der anderen Seite gehen viele Ältere doch gern in die Geschäfte, schauen sich die Sachen dort an und lassen sich beraten. Nicht zuletzt um ärgerliche Retouren zu vermeiden. Die Infrastruktur beim Paket-Service ist darauf momentan nicht eingestellt. Seitens des Bundeswirtschaftsministeriums haben wir versucht, den stationären Handel zu vernetzen und Plattformen zu schaffen, um gerade kleineren Unternehmen Hilfestellungen zu geben. Damit wollen wir zugleich die Innenstädte attraktiv machen. Birken: Diese Zweiteilung, die Sie als Politikerin beschreiben und die wir auch aus der Wirtschaft immer wieder hören, ist eine professionelle Sicht. Aber Konsumenten denken nicht so: Mal gehen sie gern shoppen, um das haptische Erlebnis direkt im Laden zu haben. Mal möchten die gleichen Menschen nur ganz bequem von Zuhause aus einkaufen. Wirtschaft und Handel sind dazu aufgerufen, die besten Möglichkeiten zu schaffen, die möglichst reibungslos und einfach funktionieren.
Zurück in die Gegenwart: Momentan leidet die Wirtschaft unter Lieferengpässen. In den Häfen stapeln sich die Container, die Transportpreise sind exorbitant gestiegen. Und auf gewisse Produkte, zum Beispiel Autos, Fahrräder oder Geschirrspülmaschinen muss man teilweise monatelang warten. Wie ernst ist die Lage im Handel?
Birken: Im Einzelhandel ist das Angebot insgesamt sehr breit. Aber die Situation bei den Lieferketten ist momentan durchaus schwierig. Die Logistik ist aus der Balance geraten, die Frachtraten sind explodiert. Wir können es den Konsumenten nicht zumuten, die gestiegenen Preise einfach weiterzureichen. Das belastet viele Firmen, die ohnehin Probleme haben, Waren rechtzeitig zu bekommen. Zypries: Für den Handel ist es kein großes Thema. Aber aus der Industrie weiß ich, dass es erhebliche Probleme mit dem Nachschub gibt. Die Auftragsbücher sind voll, doch es fehlt an einzelnen Bauteilen für die Produktion.
Was tun Sie, um solche Engpässe zu verhindern?
Birken: Entscheidend ist, wie die Lieferketten aufgebaut sind. Wer alles nach dem Just-intime-Prinzip organisiert hat, kurzfristig ordert und keine Puffer einplant, hat jetzt Schwierigkeiten. Wir setzen dagegen auf langjährige Partnerschaften mit unseren Lieferanten, aber auch mit Transportunternehmen. Wer das in guten Jahren aufgebaut hat, kann auch solche schwierigen Zeiten gemeinsam besser meistern.
Kürzlich absolvierte eine Cargo-Drohne ihren Testflug im Hamburger Hafen. Elon Musk träumt vom Hyperloop, einer Art Mega-Rohrpost, die Passagiere und Fracht blitzschnell transportiert. Wie bewerten Sie solche neuen Technologien?
Birken: Ich gehe nicht davon aus, dass diese Technologien in näherer Zukunft in der Breite eingesetzt werden. Trotzdem beobachten wir sie sehr genau, weil sie in fünf oder zehn Jahren für den Standort Deutschland oder Europa relevant werden könnten. Momentan stehen bei uns alternative Zustellungsmöglichkeiten im Fokus. Beispielsweise die Elektrifizierung der Hermes-Flotte in Ballungszentren wie Berlin. Oder die Wiederentdeckung des Lastenfahrrads, was in dicht besiedelten Gebieten wunderbar funktioniert. Auch die praktisch emissionsfreie Zustellung per Straßenbahn haben wir bereits getestet. In Hamburg probieren wir Paketstationen an Knotenpunkten des öffentlichen Nahverkehrs aus, um die Emissionen zu senken. Zypries: Im normalen Verkehr dürften die neuen Verkehrsmittel keine große Rolle spielen. Ich bin aber davon überzeugt, dass Drohnen im Bereich der Arzneimittelversorgung, der Organspende oder ähnlichen Themen wichtig werden. In afrikanischen Ländern beispielsweise oder auch in Amerika zeigen Studien, dass die Technologie zuverlässig ist.
Was halten Sie von der Hyperloop-Technologie, die Elon Musk erproben lässt? Würde sich das für den Handel eignen?
Birken: Aufgrund des Kostenfaktors dürfte das für den Transport von Waren auf langen Strecken nicht wirklich sinnvoll sind. Hyperloops könnten in dicht besiedelten Regionen zum Einsatz kommen, wo der Verkehr emissionsfrei und schnell sein soll oder wo neue Wohngebiete an die Zentren angeschlossen werden, um zum Arbeitsplatz zu kommen. Zypries: Der Trend geht eher zu umweltfreundlichen, elektrischen Lkw.
Wie verändert sich der Handel durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz oder Big Data?
Birken: Das findet längst statt. Wir sind mittendrin: Es geht beispielsweise darum, Kunden richtig zu adressieren. Ähnlich zum klassischen stationären Handel wollen wir die Kunden auch online mit Namen ansprechen. Wie passt denn jetzt die Jeans? Sind Sie zufrieden mit dem letzten Kauf? Hier ist übrigens ein passender Gürtel oder ein Hemd dazu. Hinzu kommt die Steuerung der Logistik. Durch Predictive Analytics, also Künstlicher Intelligenz, können wir viel besser vorhersagen, welche Ware wann und wo benötigt wird. Dort steckt noch enormes Potenzial. Zypries: Nicht nur große Konzerne können Künstliche Intelligenz gewinnbringend einsetzen, sondern auch kleine Mittelständler. Die Bundesregierung hat ein Mittelstand 4.0 Kompetenzzentrum Handel aufgebaut, bei denen sich Unternehmen zielgerichtet informieren können. Birken: Auch die Otto Group musste diesen steinigen Weg gehen. Vor zehn, 15 Jahren standen wir noch für den Katalogversand. Deswegen stimme ich der Forderung des Handelsverband HDE zu: Wir müssen die gesamte Digitalisierung in den Handel bringen. Wer in den vergangenen Jahren viel in die Digitalisierung investiert hat, ist am besten durch die Corona-Krise gekommen. Das gilt für große, mittlere und kleine Unternehmen.
Sie haben vor der Corona-Pandemie einen hohen dreistelligen Millionenbetrag in Ihre Logistik-Tochter Hermes investiert. Hat sich das ausgezahlt?
Birken: Unbedingt. Nur so sind wir in der Lage gewesen, das letzte phänomenale Weihnachtsgeschäft abzuwickeln. Die Logistik wird auch weiterhin eines unserer größten Investitionsfelder bleiben, denn hier entscheidet sich die Servicequalität.
Beim Onlineshopping können Kunden über das Smartphone ganz bequem nicht nur Preise in Echtzeit vergleichen, sondern auch Dienstleistung und Services. Vor welche Herausforderungen stellt Sie das, Herr Birken?
Birken: Ich würde eher von Chancen sprechen. Wenn etwa Ihre Waschmaschine heute Abend kaputt gehen sollte, könnten Sie mit ihrem Smartphone eine neue bestellen. Die wird dann zum Wunschtermin geliefert und auch gleich angeschlossen, wenn Sie das wollen. Das ist eine Erleichterung für die Konsumenten. Zypries: Bei vielen Unternehmen landen die Kunden bei Rückfragen in Hotlines. Die langen Wartezeiten und häufig inkompetenten Auskünfte sind eine Zumutung. Haben Sie das im Griff? Birken: Bei vielen Online-Anbietern, die nicht aus Deutschland kommen, ist es schwer, überhaupt eine Telefonnummer zu finden. Wir gehen bewusst einen anderen Weg. Wir möchten, dass unsere Kundinnen und Kunden uns anrufen, wenn sie eine Frage haben. Die persönliche Beratung ist uns sehr wichtig. Wir möchten dieses Menschliche mit den technologischen Möglichkeiten verbinden und so den besten Service bieten. Sind wir perfekt? Nein, aber wir arbeiten wirklich hart daran, dass wir dort immer besser werden.
Welche Lehren haben Sie aus der Corona-Pandemie gezogen?
Birken: Wir haben in der Covid-Krise viel Bestätigung erfahren. Innerhalb von drei Tagen ist es uns gelungen, mehrere Tausend Kolleginnen und Kollegen ins Homeoffice zu bringen. Das hat viel mit Haltung und Unternehmenskultur zu tun, die vor einigen Jahren mit dem Kulturwandel 4.0 tiefgreifend verändert haben. Zudem haben wir lange vor der Pandemie mobiles Arbeiten ermöglicht, die Soft- und Hardware war also bereits vorhanden.
Wird der stationäre Handel eines Tages aussterben?
Zypries: Nein, das glaube ich nicht und das hoffe ich auch nicht. Ich gehe gern in Geschäfte. Und ich möchte die Vitalität der Innenstädte erhalten: Sich treffen, bummeln gehen, einen Kaffee trinken – der Mehrwert der Citys geht weit über das Einkaufen hinaus. Eine Gesellschaft, in der jeder nur noch allein zu Hause auf der Couch sitzt und mit seinem Smartphone shoppt, finde ich nicht erstrebenswert. Birken: Dass der stationäre Handel stirbt, ist salopp formuliert Quatsch. Viele Menschen wollen im Laden einkaufen, miteinander unterwegs sein. Die Otto Gruppe eröffnet neue Geschäfte, beispielsweise für Manufactum oder für Crate and Barrel in den USA. Wir wollen beide Kanäle, online und stationär, immer besser miteinander verbinden. Es reicht nicht mehr aus, möglichst viele Einzelhandelsflächen in die Innenstadt zu bauen. Wir brauchen Orte der Begegnung. Was macht den Reiz der Innenstadt beispielsweise für junge Familien in den kommenden zehn oder 20 Jahren aus? Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Neben der Digitalisierung ist der Klimaschutz eines der großen Themen unserer Zeit. Was sind die drei wichtigsten Maßnahmen, um die Otto Gruppe zu einem nachhaltigen Unternehmen zu machen?
Birken: Eines unserer Ziele bestand darin, bis 2020 die CO2-Emissionen in der Gruppe um 50 Prozent zu senken. Wir haben eine Reduktion von 56 Prozent erreicht, ganz ohne Kompensation. Bis 2030 wollen wir klimaneutral werden. Wir versuchen, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, indem wir unseren Kunden nachhaltige Produkte anbieten und erklären, warum diese nachhaltig sind. Das funktioniert gut. Allerdings: Niemand ist bereit, dafür mehr Geld zu zahlen. Das heißt, wir müssen diese nachhaltigen Produkte sehr günstig erwerben, damit sie auch für den Konsumenten preislich attraktiv sind.
Wie verändert sich die Arbeitswelt im Handel? Ist New Work schon das New Normal?
Birken: Niemand hat dafür die Paradelösung. Aber wir geben ganz viel Verantwortung in die Organisation und setzen auf Activity Based Working. Beispielsweise können wir nicht pauschal sagen, wie die beste Aufteilung zwischen Mobile Office und Präsenzarbeit aussieht. Das hängt immer von der Arbeitssituation ab. Bei kreativen Tätigkeiten ist mehr Präsenz ratsam. Auch bei einer schwierigen Restrukturierung ist es hilfreich, wenn alle im selben Raum sitzen.
Welche Reformen im Bereich des Handels sollte die Bundesregierung angehen, um ideale Rahmenbedingungen zu schaffen?
Birken: Ich sehe das in einem größeren Zusammenhang. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie Maßnahmen einleitet und Ziele definiert, wie der Klimawandel wirklich gestoppt werden. Viele Firmen leisten bereits einen Beitrag. Nun kommt es darauf an, Anreizsysteme für die gesamte Wirtschaft zu kreieren. Thema Nummer zwei ist die Digitalisierung. Der Standort Deutschland hat viel Terrain verloren. Das fängt bei der Digitalisierung der Verwaltung an, betrifft aber auch die Infrastruktur und viele weitere Themen. Da müssen Deutschland und Europa das Tempo erhöhen Das dritte Schlüsselthema ist die Bildung. Unsere natürliche Ressource haben wir zwischen den Ohren. Das sollten wir besser nutzen. Zypries: Runtergebrochen auf den Handel ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur dringend erforderlich, damit es auch wirklich möglich ist, von überall aus in Deutschland mit seinem Smartphone im Internet zu shoppen. Dafür müssen wir auch die Logistik weiter ausbauen und neue Modelle entwickeln, um den Verkehr zu entlasten. Nicht zuletzt brauchen wir einen zivilgesellschaftlichen Diskurs über die Frage, inwieweit bestimmte Entwicklungen bei der Digitalisierung auch für die Gesellschaft verträglich sind und wo wir besser die Reißleine ziehen müssen. Diese Debatte haben wir auf europäischer Ebene ja gerade verstärkt.
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