Great Resignation bezeichnet die verstärkte Bereitschaft zu kündigen
20.04.2022    Madeline Sieland
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Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Laut „Gallup Engagement Index“ ist die Wechselbereitschaft von Arbeitnehmenden in Deutschland erstmals höher als in den USA – dem Land, in dem der Begriff Great Resignation in den vergangenen beiden Jahren geprägt wurde. Gemeint ist damit das Phänomen, dass Berufstätige während der Coronapandemie ihren Job vermehrt infrage gestellt und gekündigt haben.

Angestellte sind offen für eine berufliche Veränderung

So zeigt die aktuelle Studie von Gallup, dass 23 Prozent der Deutschen innerhalb eines Jahres den Job wechseln wollen. 42 Prozent planen diesen Schritt in den kommenden drei Jahren. Derzeit sind laut dem international tätigen Markt- und Meinungsforschungsinstitut 14 Prozent der deutschen Arbeitnehmenden aktiv auf Jobsuche – in den USA hingegen nur zehn Prozent.

Angesichts dessen sagt Pa Sinyan, als Managing Partner bei Gallup für Europa, den Nahen Osten und Afrika zuständig: „Der Arbeitsmarkt in Deutschland wird volatiler – allerdings nicht für Arbeitnehmende, sondern für Unternehmen. Noch nie waren so viele Menschen auf Jobsuche oder offen für Veränderung wie jetzt. Unternehmen müssen sich mehr denn je darum bemühen, ein attraktives Arbeitsumfeld zu schaffen, das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Bleiben bewegt und qualifizierte Jobsuchende dazu motiviert, sich für sie zu entscheiden.“

Millennials sind besonders wechselwillig

Mit Blick auf Millennials – eine auf dem Arbeitsmarkt besonders umkämpfte Personengruppe – kommt eine Umfrage des HR-Softwareanbieters Personio zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach denken 59 Prozent der 18- bis 34-Jährigen darüber nach, sich in den nächsten zwölf Monaten einen neuen Job zu suchen. Als Hauptgründe dafür wurden genannt:

  • fehlende Wertschätzung und Anerkennung der Leistung durch den Arbeitgeber (47 Prozent)
  • fehlende Möglichkeiten zur Karriereentwicklung (34 Prozent)
  • ein stressiges Arbeitsumfeld (33 Prozent)

Mit Blick auf die Gründe, weshalb sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen neuen Job suchen, sagt Cassandra Hoermann, Head of People Experience bei Personio: „Für sie steht ganz klar nicht nur das Gehalt im Mittelpunkt. Natürlich sollten Arbeitgeber wettbewerbsfähige Gehaltspakete anbieten – aber das allein reicht nicht mehr. Die Frage ist, welche weiteren Leistungen sie bereitstellen, um Beschäftigte zu motivieren und zu begeistern.“

Laut der Personio-Umfrage legen die 18- bis 34-Jährigen besonders viel Wert auf den Purpose ihres Arbeitgebers (63 Prozent) sowie Flexibilität in Bezug auf Arbeitsort (63 Prozent) und -zeit (70 Prozent).

Emotionale Bindung als Mittel gegen die Great Resignation

Was die drohende Kündigungswelle aufhalten könnte? Dazu hat Sinyan eine klare Meinung: Je höher die emotionale Bindung zum Arbeitgebenden, desto höher sei das Qualitätsbewusstsein bei der Aufgabenerledigung und desto niedriger sei die Wechselbereitschaft. Allerdings sind laut „Gallup Engagement Index“ derzeit nur 17 Prozent der Beschäftigten hierzulande überhaupt emotional an ihren Arbeitgegebenden gebunden und damit top-motiviert bei der Sache.

Um die Bindung zu verbessern und neue Talente zu gewinnen, kommt dem Bereich Human Resources (HR) eine Schlüsselfunktion in Unternehmen zu. Simone Seidel, Director People Management beim Softwareanbieter Sage, betont: „Die Pandemie hat die bedeutsame Rolle von HR in der modernen Arbeitswelt in den Fokus gerückt: Im Wandel hin zu einer immer flexibleren und mitarbeiterorientierten Arbeitskultur werden HR-Fachkräfte zu Treibern der Zukunft und gestalten Unternehmen an der Seite der Geschäftsführung aktiv um.“

Sechs Maßnahmen, um Mitarbeitende zu binden

Um von einer eventuellen Kündigungswelle nicht überrollt zu werden, so Seidel, sei es nun wichtig, HR-Prozesse zu modernisieren. Die folgenden sechs Maßnahmen können Mittelständlern im War for Talents helfen:

  1. Digitales Know-how aufbauen: Im Zuge der Pandemie wurde die technische Infrastruktur vielerorts an die neue Arbeitswelt angepasst. Was dabei aber mitunter vergessen wurde: Mitarbeitende brauchen andere Fähigkeiten, um mit neuen Technologien und Arbeitsmodellen zurechtzukommen. Nun muss die HR-Abteilung durch Weiterbildungsangebote dafür sorgen, dass dieses digitale Know-how aufgebaut und gefestigt wird. Denn wer dauerhaft Schwierigkeiten mit den Arbeitsbedingungen hat, wird zunehmend frustriert.
  2. Social Recruiting: Um digital-affine Berufseinsteigerinnen und -einsteiger zu erreichen, ist ein Umdenken im Recruiting nötig. So birgt die Mitarbeitergewinnung über soziale Plattformen wie LinkedIn gerade für kleine und mittelständische Unternehmen Chancen – vor allem, wenn sie auf Active Sourcing, also die direkte Ansprache potenziell passender Kandidatinnen und Kandidaten setzen. Denn so ist die persönliche Beziehung zwischen Arbeitnehmendem und Arbeitgebendem von vornherein enger, die Bindung also höher.
  3. Mit den Mitarbeitenden im Gespräch bleiben: Führen HR-Verantwortliche regelmäßig Umfragen unter den Angestellten durch oder initiieren Einzelgespräche – sogenannte Bleibegespräche – erfahren sie, was die Beschäftigten bewegt. „Leistungsbeurteilungen und Mitarbeitergespräche sind entscheidend“, sagt Hoermann. „Diese helfen, Überlastung oder Frustration rechtzeitig auszumachen, Wertschätzung zu geben und passende Aufstiegsmöglichkeiten zu gewährleisten.“ Nur durch den persönlichen Austausch lässt sich frühzeitig gegensteuern, wenn ein Mitarbeitender Unzufriedenheit mit seiner Arbeitssituation signalisiert.
  4. HR-Prozesse digitalisieren: In der Umfrage von Personio gaben 53 Prozent der befragten HR-Verantwortlichen an, dass sie zu wenig Zeit für Personalentwicklung hätten. Um sich Zeit für Mitarbeitergespräche sowie Themen wie Employer Branding und Recruiting nehmen zu können, müssen also möglichst viele Standardprozesse digitalisiert werden – von der Lohnbuchhaltung bis hin zum Bewerbungsmanagement.
  5. People Analytics nutzen: Wer fundierte Entscheidungen zu Personalthemen treffen will, braucht dafür eine entsprechende Datenbasis. People Analytics, also die Erhebung und strategische Analyse mitarbeiterbezogener Daten, ist daher unverzichtbar. So behalten HR-Verantwortliche einen Überblick über die personellen Strukturen sowie die Wünsche und Nöte der Angestellten.
  6. Auf Vielfalt achten: Wer „echte“ Diversität fördert, ist für Talente attraktiver. Und „echte“ Diversität bedeutet: „Es sollte nicht nur Geschlechterdiversität, sondern es sollten gleichermaßen alle Diversitätsdimensionen wie Alter, soziale oder kulturelle Herkunft, Behinderungen sowie sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität berücksichtigt werden“, sagt Victoria Wagner, Gründerin des Netzwerks BeyondGenderAgenda. Um das sicherzustellen, bekommen beispielsweise bei Apollo Optik all diejenigen, die im Unternehmen Personal einstellen, Diversity-Trainings.

Was führt zur Great Resignation?

Welche Gründe die Great Resignation hat, wird aktuell vor allem in den USA intensiv diskutiert. Dort haben 2021 rund 48 Millionen Menschen ihren Job gekündigt.

Anfangs deutete der renommierte US-Ökonom Paul Krugman diese Entwicklung als „Ausdruck einer arbeitsunwilligen Bevölkerung“. In seiner Kolumne in der „New York Times“ schrieb er kürzlich: „Seit geraumer Zeit erzählen viele Menschen, mich eingeschlossen, eine Geschichte über diese Situation, die den Namen Great Resignation trägt. Diese Geschichte geht wie folgt: Die Covid-19-Pandemie veranlasste viele Amerikaner zu überdenken, ob sie wirklich weiterarbeiten wollen oder müssen. Aus Angst vor Ansteckung oder mangelnder Kinderbetreuung blieben einige Arbeitnehmer zu Hause, wo sie feststellten, dass die finanziellen Vorteile ihrer Arbeit nicht ausreichten, um die Kosten des Pendelns und die Unannehmlichkeiten ihres Arbeitsumfelds zu kompensieren.“

Im gleichen Text revidiert Krugman allerdings aufgrund neuer Daten seine bisherige Ansicht. Denn eine große Zahl von Amerikanern sei während der Pandemie aus der Erwerbsbevölkerung ausgeschieden, also in Rente gegangen – vielfach früher als ursprünglich geplant. „Es stimmt zwar, dass eine ungewöhnlich hohe Zahl von Arbeitnehmern gekündigt hat. Aber sie haben sich für andere, vermutlich bessere Arbeitsplätze entschieden anstatt die Arbeitswelt zu verlassen“, schreibt Krugman.

Demografischer Wandel als Treiber der Great Resignation

Ist die Great Resignation in den USA also primär Ausdruck des demografischen Wandels, der auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt zeitnah noch sichtbarer werden wird? Schließlich stehen die Babyboomer hierzulande vor der Rente…

Eine Analyse der Beratung Forrester stützt die These, dass die Pandemie in den USA das Ausscheiden vieler Arbeitnehmenden der Boomer-Generation aus dem Erwerbsleben beschleunigt hat. Allerdings ist das nicht der einzige Treiber der aktuellen Kündigungswelle.

„Die sogenannte Great Resignation ist weit mehr als nur eine kurzfristige Talentknappheit. Sie hat sich über zehn Jahre hinweg entwickelt“, sagt Katy Tynan, Principal Analyst bei Forrester. Sie verweist auf das US Bureau of Labor Statistics, laut dessen Daten die Kündigungsraten in den USA bereits seit 2011 stetig gestiegen sind. Grund dafür sei vor allem eine Entwicklung, so Tynan: „Jüngere Angestellte überdenken, was es bedeutet, Karriere machen zu wollen und dabei nur auf ein einziges Unternehmen zu setzen.“ Das erhöhe die Wechselbereitschaft. „Und all das geschieht zu einer Zeit, in der es in den USA 4,6 Millionen mehr offene Stellen als Arbeitslose gibt. Dies macht den Arbeitsmarkt zu einem Verkäufermarkt, auf dem Arbeitnehmer ihr Talent an eifrige Arbeitgeber verkaufen, die um ihre Aufmerksamkeit konkurrieren müssen.“

20.04.2022    Madeline Sieland
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