Illustration zeigt einen Mann, der aus dem Büro auf den Weg in den Urlaub ist
07.12.2022    Madeline Sieland
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Den Begriff Vertrauensurlaub sucht man im Bundesurlaubsgesetz vergeblich. Was damit gemeint ist, ist aber schnell erklärt: Statt einen festen Urlaubsanspruch im Arbeitsvertrag festzulegen, können Mitarbeitende selbst entscheiden, wie oft und wie lange sie bezahlt frei nehmen – vorausgesetzt, die Arbeit leidet nicht darunter. Arbeitgebende müssen vor allem auf eines achten: dass der gesetzlich vorgeschriebene Mindesturlaub auch tatsächlich genommen wird.

Vielfach ist Vertrauensurlaub der logische nächste Schritt nach der Einführung von Homeoffice, Vertrauensarbeitszeit und Workation. Ziel ist es, durch mehr Eigenverantwortung die Bindung der bestehenden Mitarbeitenden an das Unternehmen zu stärken sowie attraktiver für neue Fachkräfte zu werden. Unter anderem der Online-Hotelvermittler Trivago und die Tomorrow Bank bieten bereits bedingungslosen Urlaub an. Ab Januar 2023 können auch die Angestellten der Münchner Agentur PR-COM ihre freien Tage flexibel planen. Geschäftsführer Alain Blaes erklärt, was er sich von dem Pilotprojekt erhofft.

Zur Person

Alain Blaes, Gründer von PR-COM

Alain Blaes

hat 1990 die Agentur PR-COM gegründet. Zuvor war er als Redakteur und freier Journalist für IT-Medien sowie in der Tages- und Wirtschaftspresse tätig

So viel Urlaub nehmen, wie man will – das würden sich sicher viele Arbeitnehmende hierzulande wünschen. Warum haben Sie sich im Rahmen eines Pilotprojekts zur Einführung des Vertrauensurlaubs entschieden? Welche positiven Effekte erhoffen Sie sich dadurch?

Alain Blaes: Schon mit der Liberalisierung der täglichen Arbeitszeit und der freien Wahl des Arbeitsplatzes haben wir seit deren Einführung im letzten Jahr außerordentlich positive Erfahrungen gemacht. Dann kam die Idee mit dem Vertrauensurlaub. Freiheit und Selbstbestimmung haben für meine Co-CEO Martina Jahrbacher und mich immer schon eine wichtige Rolle gespielt. Warum diese Aspekte also nicht in der Unternehmenskultur verankern? Warum sollten Mitarbeitende nicht selbst frei bestimmen, wie viel Urlaub sie nehmen? Nach der flexiblen Arbeitszeit und dem flexiblem Arbeitsort war der bedingungslose Urlaub der logische nächste Schritt.

Er hat natürlich eine große Tragweite, aber wir wollen den Kolleginnen und Kollegen einfach vertrauen, dass sie verantwortungsvoll damit umgehen. Noch mehr Vertrauen wagen – das ist für uns die eigentliche Essenz des Experiments. Die positiven Effekte, die wir uns erhoffen? Für die Mitarbeitenden mehr Entfaltungsmöglichkeiten und eine gestärkte Selbstbestimmung, im philosophischen Sinne also mehr Mündigkeit. Und für PR-COM mehr Loyalität, mehr Motivation und mehr Produktivität der Teams.

Wie haben Ihre Angestellten auf das neue Angebot reagiert?

Blaes: Interessanterweise haben alle zunächst ziemlich verhalten reagiert. Viele sind vermutlich davon ausgegangen, dass der Vertrauensurlaub unbezahlt ist. Ist er natürlich nicht. Mittlerweile ist die Zurückhaltung einer gewissen Neugierde gewichen. Die Kolleginnen und Kollegen tasten sich eben an ein völlig unbekanntes Terrain heran. Die notwendige Eigenverantwortung ist immens; sie müssen lernen, damit umzugehen – und das geht nicht von heute auf morgen.

Vertrauensurlaub wird in der Praxis durchaus unterschiedlich umgesetzt. Teils gibt es Vorgaben, wie oft man sich freinehmen darf, in welchen Abständen oder wie viele Tage am Stück maximal möglich sind. Wie ist das bei Ihnen? Gibt es Regeln, die einzuhalten sind – auch um einem Missbrauch vorzubeugen?

Blaes: Unser Projekt Vertrauensurlaub hat eine einzige Regel: Der Urlaub muss in den Teams abgesprochen werden. Solange Kunden vernünftig betreut werden, gibt es theoretisch auch kein Limit,no questions asked. Jeder entscheidet frei, jeder muss gleichzeitig aber auch mit der Verantwortung und der Peer Pressure klarkommen, wenn er überzieht. Das ist sicher ein ganz gutes Regulativ.

Wird es dennoch Missbrauch geben? Wir können es nicht ausschließen und werden ihn wohl oder übel akzeptieren müssen. Aber wir lassen uns wegen einzelner potenzieller Missbrauchsfälle unser Experiment nicht vermiesen; dafür ist es uns viel zu wichtig. Missbrauch wäre sozusagen der Preis, den wir dafür zahlen müssen.

Kritiker sagen, dass durch das Vertrauensmodell tendenziell eher weniger Urlaub genommen wird – aus Angst, dass bei Vorgesetzten der Eindruck entstehen könnte, dass man nicht genug leistet. Wie stellen Sie sicher, dass der gesetzlich vorgegebene Mindesturlaub weiterhin von allen genommen wird?

Blaes: Ich habe soeben von einer einzigen Regel gesprochen, aber tatsächlich sind es zwei. Und die zweite lautet: Ihr müsst unbedingt den gesetzlich vorgeschriebenen Urlaub nehmen. Darauf werden wir achten. Die Kritik, dass weniger Urlaub genommen wird, kennen wir. Wir haben keine Ahnung, ob sie berechtigt ist oder nicht; in einem Jahr wissen wir mehr. Allen Kolleginnen und Kollegen haben wir jedenfalls versichert, dann wir keinen Druck ausüben und keine Kontrollen durchführen. Das Pilotprojekt soll ja nicht gleich im Keim erstickt werden.

Selbst über die Zahl der Urlaubstage entscheiden zu können bringt neue Freiheiten für Arbeitnehmende mit sich. Allerdings ist es sehr abhängig von der Persönlichkeit, wie schwer oder leicht es jemandem fällt, diese Freiheiten eigenverantwortlich einzufordern. Welches Mindset brauchen Angestellte Ihrer Erfahrung nach generell, um sich in der neuen Arbeitswelt zurechtzufinden?

Blaes: Ein sehr wichtiger Punkt, den Sie hier ansprechen. Einige Kolleginnen und Kollegen mit zurückhaltender Persönlichkeit werden sehr zaghaft entscheiden oder weniger Urlaub als sonst beantragen, weil sie sich nicht trauen. Aber genau das war ja unsere Motivation, dieses Projekt ins Leben zu rufen: Kolleginnen und Kollegen sollen lernen, mit Freiheit und Eigenverantwortung umzugehen; sie sollen lernen, Situationen abzuwägen und selbstbestimmt zu entscheiden. Das wäre dann auch das Mindset, das notwendig ist.

Wie muss eine Unternehmenskultur grundsätzlich gestaltet sein, damit ein Konzept wie Vertrauensurlaub umgesetzt werden und auch in der Praxis funktionieren kann?

Blaes: Wir glauben, dass eine solche Kultur auf Vertrauen und Empathie basiert. Die Teams müssen uns vertrauen, dass wir ihnen nicht nachspionieren oder Einzelnen einen Strick daraus drehen, wenn sie zu viel Urlaub nehmen. Andererseits müssen wir den Teams vertrauen, dass sie ihren Job eigenverantwortlich erledigen.

Genauso wichtig ist der Faktor Empathie. So reizvoll es ist, beliebig Urlaub zu nehmen, sollten wir lernen, zuerst an die Teamkollegen zu denken: Überfordere ich nicht Einzelne, wenn ich schon wieder zwei Wochen weg bin? Sollte ich nicht Kolleginnen und Kollegen motivieren, selbst mal eine Auszeit zu nehmen, wenn ich sehe, dass sie überarbeitet sind?

Unsere Fähigkeit zu Vertrauen und Empathie müssen wir vermutlich alle weiterentwickeln. Damit wäre Lernbereitschaft eine weitere wichtige Säule einer solchen Unternehmenskultur.

Kann Vertrauensurlaub ein schlagkräftiges Argument im War for Talents sein?

Blaes: Absolut. Wir haben nach der Bekanntgabe unseres Projekts postwendend Blindbewerbungen bekommen, in denen sich durchweg begeistert geäußert wurde. Das ist ein schöner Beweis für uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Im War for Talents geht es ja darum, dass wir die Bedürfnisse der Menschen sehen und aufgreifen. Homeoffice etwa war der erste Schritt und ist mittlerweile zum Hygienefaktor geworden. Den Fachkräftemangel sehen wir durchaus und begegnen ihm mit genau solchen Angeboten. Mit diesem Bewusstsein sind wir in den letzten Jahren ganz hervorragend gefahren.

07.12.2022    Madeline Sieland
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