Smart Working bietet auf den ersten Blick überwiegend Vorteile. Auch medial wird die Trennung von angestammtem Arbeitsort und Zeit oft gefeiert. Erste Unternehmen stellen komplett um und wollen in der Zeit nach Corona ebenso auf eine Anwesenheit der Mitarbeitenden in Büros verzichten.
Das erscheint an vielen Stellen sinnvoll, denn auch unser Alltag ändert sich. Häufig gehen beide Partner arbeiten, man bringt die Kinder in die Kita oder Schule und nach Feierabend heißt es dann: gemeinsame Freizeit, Hausaufgaben oder Sport machen. Sehr häufig ist das Pendeln zum Arbeitsplatz ein weiterer fixer Zeitblock im Tagesablauf – auch aufgrund der hohen Mietpreise in vielen Städten.
Die Lösung scheint simpel: Smart Working. In den USA, wo Trends schneller an Dynamik gewinnen, fallen mancherorts bereits die innerstädtischen Mietpreise, wenn große Unternehmen auf die Anwesenheit ihrer Angestellten im Büro verzichten. Wäre das also auch für uns eine optimale Lösung?
Beruf und Privatleben werden eine Einheit
Zweifelsfrei bietet Remote-Working Vorteile: Das kranke Kind am Vormittag pflegen zu können, den Arztbesuch oder Amtsgänge auf weniger besuchte Zeiten zu verschieben und statt zwei Stunden täglich beim Pendeln zu verbringen, endlich wieder sportlich aktiv zu werden. So weit, so gut.
Aber jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten: Smart Working oder auch Work-Life-Blending bedeutet eben auch, dass sich berufliche und private Bereiche immer mehr vermischen. Wenn dann um 21 Uhr noch E-Mails gelesen werden und diese vielleicht keine schönen Neuigkeiten beinhalten, kann die Nacht schnell mal kurz werden.
In unserer Gesellschaft hat sich nicht ohne Grund in den letzten Jahrzehnten die Trennung zwischen Arbeit und Privatleben durchgesetzt. Diese Trennung wurde teilweise hart erkämpft.
In Deutschland hatten wir vor Corona das Thema Dauererreichbarkeit auf der Agenda. Große Unternehmen haben gegen die E-Mail-Flut keine Mails mehr zwischen 18 und 8 Uhr zugestellt. Smartphone, Laptop, Second Screen, permanent Mails checken: All das führte zu der Erkenntnis, dass echte Erholung schwieriger wird. Und, wohl für jeden ein bekanntes Phänomen, auch im Urlaub sind Tablet und Smartphone allgegenwärtig. Deshalb dürfen wir bei allen „remoten“ Themen nicht vergessen, dass eine Trennung von Arbeitsort und Zuhause immer einen Abschluss, also eine leichtere Abgrenzung ermöglicht.
Persönlichkeit versus Performance
Wir haben die letzten Jahre intensiv dafür gearbeitet, dass sich Mitarbeitende mit Unternehmen, Arbeit und Team identifizieren und Freude am Job haben. Wenn künftig das Gespräch im Flur oder an der Kaffeemaschine auf der Strecke bleibt, werden Menschen und Persönlichkeiten irgendwann austauschbar. Performance, Deadlines und Ergebnisse treten noch stärker in den Vordergrund. Bei dieser Entwicklung wird zugleich auch der Arbeitgeber austauschbarer und kann sich nicht mehr durch die Unternehmenswerte von anderen Arbeitgebern abgrenzen. Damit gingen einige wertvolle Errungenschaften der letzten Jahrzehnte verloren.
Nicht außer Acht lassen dürfen wir das Management und die Führungskräfte. So stellt sich für mich unter anderem die Frage, über welche zusätzlichen Kompetenzen Führungskräfte verfügen müssen, wenn sie ihr Team auch aus der Distanz zu führen haben. Verfügen sie über genügend Sensibilität und Empathie, um zum Beispiel auf soziale und emotionale Befindlichkeiten ihrer Mitarbeitenden angemessen reagieren zu können?
Wie müssen Trainingskonzepte gestaltet sein, um Führungskräfte für ein Führen und Managen „aus der Ferne“ fit zu machen? Welche Tools werden gebraucht, welche Fähigkeiten sind erforderlich?
Soziale Beziehungen erhalten
Ich bin davon überzeugt, dass viele Führungskräfte gefordert sind, für diese Art der Leitung ihr bisheriges Verhaltensrepertoire zu reflektieren und entsprechend auszubauen. Für mich eine wesentliche Voraussetzung, um Mitarbeitende und Teams künftig auch „aus der Ferne“ zu motivieren und in vertrauensvoller Kooperation zum Erfolg zu führen.
Diese und weitere entscheidende Aspekte müssen in der gegenwärtigen Diskussion noch stärker betrachtet werden. Aus diesem Grund haben wir ein übergreifendes Projekt bei Bridgestone aufgesetzt, welches sich mit den möglichen Arbeitsformen der Zukunft auseinandersetzt und diese aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Es werden unter anderem der Grad der Digitalisierung sowie Aktivitäten vergleichbarer Unternehmen analysiert.
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Projekts ist eine Umfrage zum Themenkomplex unter den Mitarbeitenden. Der intern entwickelte Fragebogen soll ein klares Bild von den unterschiedlichen Herausforderungen, Erfahrungen und Einschätzungen aller Angestellten zeichnen. Das Ergebnis ist eine weitere relevante Grundlage zur Entscheidung über die künftigen Arbeitsformen.
Für mich liegt die Zukunft in einem sorgfältig ausgewogenen und in vielen Fällen individuell abgestimmten Mittelweg. Ein Weg, der ein Plus an Flexibilität bringt, aber ebenso dafür sorgt, dass dem Montagmorgen-Blues mit dem Weg ins Büro entgegengetreten wird.
Dorthin, wo die Kollegen bereits mit dem Kaffee auf das Morgenmeeting warten, um sich kurz auszutauschen – vielleicht über die Ergebnisse der Bundesliga oder über das Wetter, das mal wieder die Wochenendpläne gekippt hat. Emotionen müssen mitschwingen und die sozialen Beziehungen müssen am Leben gehalten werden. Mögliche Auswirkungen des mobilen Arbeitens auf die körperliche und psychische Gesundheit unserer Mitarbeitenden und Führungskräfte müssen wir stets wachsam im Auge behalten.
Denn nicht zuletzt resultiert die Performance im Job auch aus der gesunden Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Nach dem Job muss Raum für ein Privatleben sein – und zwar dort, wo wir mit freiem Kopf abschalten und neue Kräfte sammeln können.