Dass sich zunehmend nicht nur Bewerberinnen und Bewerber um die besten Jobs bemühen müssen, sondern auch Unternehmen um die besten Mitarbeitenden, zeigt sich im Reverse Recruiting. Dabei bewirbt sich eine Firma beispielsweise mit einem Unternehmenslebenslauf bei potenziellen Angestellten. „Reverse Recruiting eignet sich besonders gut für sogenannte passive Talente, die sich in den seltensten Fällen aktiv auf Stellen bewerben“, sagt Julian von Blücher, Gründer der Personalberatung Talent Tree. Im Interview erklärt er, worauf beim Reverse Recruiting geachtet werden muss.
Fachkräftemangel
Reverse Recruiting: Aktiv suchen statt abwarten
Fachkräfte sind in vielen Branchen und Regionen rar. Um aus der Masse der nach Mitarbeitenden suchenden Firmen hervorzustechen, helfen deshalb vor allem unkonventionelle Maßnahmen – etwa Reverse Recruiting.
20.09.2022
Julian von Blücher
Der Wirtschaftsingenieur hat 2015 Talent Tree gegründet. Die Personalberatung ist spezialisiert auf Headhunting von Fach- und Führungskräften für hochskalierbare Tech-Unternehmen
Wie hilft Reverse Recruiting Unternehmen dabei, trotz Fachkräftemangel die passenden Mitarbeitenden zu finden?
Julian von Blücher: Bei Reverse Recruiting geht es primär darum, auf die „Needs“ von Kandidatinnen und Kandidaten einzugehen, die sich im Bewerbungsprozess herauskristallisieren. Unternehmen müssen nicht alle davon erfüllen. Aber es bietet sich an, auf wichtige und erfüllbare einzugehen, um die Kandidatinnen und Kandidaten für sich zu gewinnen. Derzeit ist Arbeitnehmenden zum Beispiel Sicherheit wahnsinnig wichtig. Hier können Unternehmen die Arbeitsverträge so gestalten, dass sie den Kandidatinnen und Kandidaten gewisse Sicherheiten garantieren. Es geht bei Reverse Recruiting aber auch darum, Angebote zu schaffen, die die neue Arbeitswelt mit sich bringt – beispielsweise von überall aus zu arbeiten. Solche Angebote sind in vielen Unternehmen noch nicht in ausreichendem Maß vorhanden. Zum Teil ist die Kultur auch noch nicht sehr offen dafür. Daher muss auch kulturell erst aktiv daraufhin gearbeitet werden. Stellt sich zum Beispiel im Recruitingprozess heraus, dass eine potenzielle Kandidatin demnächst Mutter wird, kann ein Unternehmen aktiv nach den besonderen Bedürfnissen, die diese Situation mit sich bringt, fragen und eine Arbeitsumgebung schaffen, die beiden Seiten optimal gerecht wird. Das Gleiche gilt natürlich auch für werdende Väter.
Reverse Recruiting ist für viele Unternehmen ein neuer Ansatz. Wie läuft solch ein Recruiting- und Bewerbungsprozess genau ab?
von Blücher: Manche Unternehmen erstellen beispielsweise einen Unternehmenslebenslauf, um sich bei Kandidatinnen und Kandidaten zu bewerben. Ein solcher Lebenslauf enthält zum Beispiel Key Facts über die Firma, das Geschäftsmodell, die Vision, die Unternehmenskultur, zum Team, mit dem man zusammenarbeiten würde, allgemeine Marktinformationen, den USP sowie einen persönlichen Ausblick beziehungsweise eine Vision zur zu besetzenden Stelle für die Kandidatin oder den Kandidaten.
Welche Vorteile ergeben sich für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die auf Reverse Recruiting setzen?
von Blücher: Wenn Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber der Realität ins Auge schauen und das Beste aus der Marktsituation machen wollen, müssen sie verstehen, dass sich selbst Top-Unternehmen anstrengen müssen, gesuchte Mitarbeitende für sich zu gewinnen – seien es Fachkräfte oder C-Level-Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die wir meistens vermitteln. Auch bei bekannten oder gut positionierten Brands bewerben sich mittlerweile zu wenige oder nicht qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten. Wer es versteht, die Recruitingprozesse neu zu denken und die Rollen umzudrehen, hat einen großen Vorteil am Markt. Die Arbeitnehmenden verstehen: „Ich bin hier gewollt.“ So sticht das Unternehmen positiv hervor. Reverse Recruiting hilft vor allem auch zu vermeiden, dass Kandidatinnen und Kandidaten erst spät im Bewerbungsprozess absagen. Solche späten Absagen verursachen oft sehr hohe Kosten. Zudem sorgt die Beschäftigung mit der Frage „Was sind die Needs unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Kandidatinnen und Kandidaten?“ für eine kulturelle Verbesserung im Unternehmen sowie die Bindung von bestehenden und künftigen Mitarbeitenden. Die Voraussetzung dafür ist, dass beim Verteilen von entsprechenden Benefits das gesamte Gefüge in einem Unternehmen berücksichtigt wird. Dass ausschließlich neue Angestellte im Unternehmen Vorteile erhalten, gilt es zu vermeiden.
Gibt es Bereiche, in denen Reverse Recruiting besonders gut funktioniert?
von Blücher: Reverse Recruiting eignet sich besonders gut für sogenannte passive Talente, denn die gesuchten Kräfte bewerben sich in den seltensten Fällen aktiv auf Stellen. Wenn sie beim bisherigen Arbeitgeber gute Erfahrungen gemacht haben, wieso sollten sie das Risiko eingehen, sich zu bewerben? Reverse Recruiting funktioniert branchenübergreifend. Natürlich lassen sich nicht bei allen Tätigkeiten die gleichen Vorteile für die Mitarbeitenden verhandeln. Nehmen wir das derzeit viel diskutierte Beispiel der Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter: Bandarbeit wird sich zumindest in naher Zukunft nicht von zu Hause aus erledigen lassen. Aber auch bei körperlicher Arbeit können Unternehmen auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen. Die Logistikbranche beispielsweise leidet ebenfalls unter starkem Fachkräftemangel. Dort müssen ständig schwere Gegenstände gehoben werden. Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden Hilfsmittel – zum Beispiel in Form von Exoskeletten – bieten können, haben im Bewerbungsprozess garantiert die Nase vorn.
Über welche Kanäle können Unternehmen durch Reverse Recruiting am besten Fachkräfte erreichen und für sich gewinnen?
von Blücher: Reverse Recruiting ist kanalunabhängig. Es gilt, über den gesamten Bewerbungsprozess die Bedürfnisse der Bewerbenden im Blick zu behalten. Viel davon geschieht im Dialog mit den Bewerbenden selbst. Ein schneller Bewerbungsprozess ist jedoch immer entscheidend. Wir helfen Unternehmen häufig dabei, ihre Prozesse zu verschlanken. Oft sind es auch nur kleine Änderungen im Prozess, die schon eine große Wirkung entfalten – beispielsweise die Urlaube von Entscheiderinnen und Entscheidern vorab einzuplanen oder bestimmte Prozessschritte zusammenzulegen. Geht es rein um die Ansprache potenzieller Bewerberinnen und Bewerber, gilt es, sie dort abzuholen, wo sie sich aufhalten. Auch die Kommunikationsweise ist zu beachten, wobei vermieden werden sollte, sich als Unternehmen zu verbiegen. Und zuletzt gilt noch stärker als bei einem Lebenslauf auch für Materialien wie dem Pitchdeck für die Kandidaten: Neben gut durchdachten, strukturierten Inhalten spielt ein ansprechendes Design eine wichtige Rolle.
Redakteurin
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