Wir alle kennen sie: die Sinnkrise mit Anfang 20. Was möchte ich mit meinem Leben nach dem Ausbildungs- oder Studienabschluss anfangen? Berufseinstieg oder doch lieber durch die Welt reisen? Ist man seit Jahren im Beruf gefestigt, ist die Antwort längst gefunden – so müsste man meinen. Doch ist die Wunschposition im Unternehmen erst einmal erreicht, steht für viele eine neue Frage im Raum: Bin ich vielleicht doch die falsche Karriereleiter hochgeklettert? Die Mid-Career-Crisis lässt Betroffene, die meist erfolgreich im Job sind und mitten im Leben stehen, am eingeschlagenen Berufsweg zweifeln. Das, was jahrelang Tag für Tag funktionierte, fühlt sich nun an wie eine Qual. Besonders in der Coronakrise, in der die Arbeit aus Mangel an Freizeitbeschäftigungen zeitweise den gesamten Alltag dominierte, wurde vielen klar: So kann es nicht weitergehen.
„Die Mid-Career-Crisis ist meist eine Sinnkrise. Denn vielen Menschen fehlt der Sinn in dem, was sie tun. Anders als mit Anfang 20 schaut man schon auf eine Karriere zurück, ist womöglich erfolgreich und etabliert. Aber die bisherigen Ziele und Strategien funktionieren plötzlich nicht mehr“, erklärt Tom Diesbrock, Diplompsychologe, Karriere- und Life-Coach sowie Autor. Mit persönlichem Coaching steht er Menschen zur Seite, die in einer Jobkrise stecken und sich neu orientieren wollen. Denn nicht immer schaffen es Betroffene, sich allein aus der Unzufriedenheit zu retten.
Jobwechsel – Ja oder Nein?
10,8 Jahre bleiben Mitarbeitende in Deutschland laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung durchschnittlich bei einem Arbeitgebenden. Wer mit dem Gedanken eines Jobwechsels spielt, gehört auf dem Arbeitsmarkt jedoch nicht zu den Außenseitern: Knapp 40 Prozent konnten sich im Jahr 2020 vorstellen, eine neue Stelle zu suchen, oder hatten dies bereits geplant, so eine Studie des Business-Netzwerks Xing. Dieser Schritt wäre aber die Ultima Ratio.
Jeder kennt kurze Phasen der Unzufriedenheit im Job; nicht jeden Tag macht Arbeit Spaß. Aber in solch einer Situation das Handtuch zu werfen scheint nicht gerechtfertigt. Schon kleine Veränderungen – zum Beispiel eine Fortbildung, ein längerer Urlaub oder eine Gehaltserhöhung – können helfen. Auch eine gute Work-Life-Balance wirkt sich auf die Zufriedenheit im Job aus. Und wenn Spaß und Sinn im Arbeitsalltag fehlen, können neue Hobbys oder Ehrenämter in der Freizeit viel bewirken.
Doch wann ist es wirklich Zeit, den Job oder die Branche zu wechseln? „Wenn Unzufriedenheit über Monate anhält, wenn die Gedanken destruktiver werden und sich vielleicht Resignation einschleicht, wird es Zeit, sich dem zu stellen – vor allem wenn auch körperliche Symptome, Schlafstörungen oder Depressionen dazukommen. Das sind deutliche Krisensymptome“, so Diesbrock.
Raus aus der Komfortzone
Dieser Krise zu entkommen ist allerdings nicht so einfach. Denn wirklich etwas an der Situation zu verändern bedeutet, die Komfortzone zu verlassen – und das kann große Überwindung kosten. Der Autor, der es mit seinem Buch „Ihr Pferd ist tot? Steigen Sie ab!“ in den Jahren 2011 und 2014 auf die Bestsellerliste schaffte, weiß aus persönlicher Erfahrung, wovon er spricht. Ein abgebrochenes Medizinstudium, der Versuch, in der Musik Fuß zu fassen, und die für ihn nicht zufriedenstellende Arbeit als Fotoredakteur liegen hinter ihm. Erst mit Ende 20 fand er zur Psychologie. „In meiner orientierungslosen Zeit hat mir geholfen, dass ich wusste, dass ich unbedingt etwas tun wollte, was mir wirklich liegt, statt nur den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.“
Der Wunsch nach einem Jobwechsel aus einer Sinnkrise heraus entstehe vor allem bei Menschen, die nicht nur arbeiten, um ihre Miete zu zahlen, so Diesbrock: „Wer in seiner Arbeit entsprechend seinen Werten und Wünschen Erfüllung sucht, muss sich darauf einstellen, dass sich diese verändern. Was uns in jungen Jahren motiviert, ist uns irgendwann nicht mehr so wichtig.“
Viele plagt ein unterschwelliges Gefühl der Unzufriedenheit im Job. Doch welche andere Tätigkeit würde glücklicher machen? Nicht immer liegt die Antwort auf der Hand. Seine Wünsche zu erkennen ist deshalb der erste schwierige Schritt, um der Mid-Career-Crisis zu entkommen. Die echte Herausforderung besteht dann darin, diese Wünsche auch zu realisieren. Finanzielle Sorgen, fehlendes Verständnis von Freunden und Familie oder die Angst, nicht gut genug für den neuen Job zu sein: Zweifel lassen Betroffene zögern, während die Last immer schwerer wird. „Wir brauchen dann Veränderungskompetenz. Sonst warten wir, bis der innere Druck so groß wird, dass wir in eine Krise rutschen.“ Denn sobald Depressionen, Schlafstörungen und andere körperliche Symptome hinzukommen, wird es immer schwieriger, sich selbst aus der unglücklichen Lage zu befreien.
Coaching in einer Mid-Career-Crisis
„Wenn jemand schon lange in einer Sackgasse festsitzt und aus der Grübelschleife nicht herausfindet, kommt ein Coaching infrage“, so Diesbrock. Ein standardisiertes Schema, wie ein solches Coaching abläuft, gibt es nicht. Da die Beweggründe und Hindernisse beim Jobwechsel sehr individuell sind, muss auch die Beratung des Coaches an die Bedürfnisse des Einzelnen angepasst werden. „Wichtig ist aber immer, dass man nicht nur Ratschläge bekommt oder Ziele abarbeitet, sondern sich auch mit der Komplexität seiner eigenen Wünsche beschäftigt und innere Widerstände, Ängste und Zweifel nicht ausblendet“, betont der Experte.
Den Sinn zu finden braucht Zeit
Ist das Gras auf der anderen Seite wirklich grüner? Was ist, wenn die neue Anstellung doch nicht glücklicher macht? Ängste vor dem Ungewissen sind es, die Menschen davon abhalten, Veränderungen anzustreben. Deshalb sei es wichtig, sich Zeit zu nehmen und einen genauen Plan auszuarbeiten, empfiehlt Diesbrock. Denn liegt ein Ziel vor Augen, sind Maßnahmen ausgearbeitet, ein Zeitplan festgelegt und alle Optionen durchdacht, fällt der Sprung in das nicht mehr ganz so kalte Wasser leichter. Das Positive an der Mid-Career-Crisis: Am Ende ist sie – wie jede Krise – auch eine Chance, das Leben sinnvoller und glücklicher zu gestalten. Alles, was es dafür braucht, ist der Wille, etwas zu verändern – und ein guter Plan.