Man könnte sagen ich hatte eine relativ ungünstige Startposition im Leben. Ich bin mit einem Gendefekt auf die Welt gekommen. Das bedeutet, dass ich nur ein Zehntel eines normalsichtigen Menschen sehe. Man könnte mich also als behindert bezeichnen. Das muss man sich so vorstellen: Wenn ich als Speaker auf der Bühne stehe, ist das Publikum vor mir eine verschwommene Masse.
Wenn ich intensiv über mich selbst, meine Erlebnisse und Erfahrungen reflektiere, kann ich drei Eigenschaften definieren, die mich auf meinem Weg begleitet haben. Sie haben es mir ermöglicht, trotz meiner Einschränkung ein erfolgreicher Profisportler im Skiabfahrtslauf zu werden – wir sprechen von bis zu 120 km/h und zwei Medaillen bei den Paralympics –, ein eigenes Unternehmen zu gründen und anderen Firmen zu nachhaltigem Wachstum zu verhelfen.
Welche drei Fähigkeiten machen also den Unterschied aus zwischen Erfolg und Misserfolg? Das Konzept der drei K beinhaltet die Eigenschaft der Kompensation, die Eigenschaft der Konzentration und die Eigenschaft der Konstruktion.
Eigenschaft 1: Kompensation
Beginnend beim ersten K – der Eigenschaft der Kompensation – habe ich mich gefragt: Wie kann ich meinen schwachen Sehsinn mit meinen anderen Sinnen ausgleichen? Ich habe für mich das aktive(!) Zuhören als wichtigsten Kompensationskanal ausgebildet. Denn Organisationen funktionieren einzig und allein über Kommunikation.
Mein Hörsinn hat mir also eine Lösung geboten, meinen „Defekt“ zu kompensieren. Daraus lässt sich mein Ansatz ableiten. Unabhängig davon, mit welchen (vermeintlichen) Schwächen oder Einschränkungen wir konfrontiert sind, ist die Frage immer: Wie kann ich sie ausgleichen oder kompensieren? Welche Stärken habe ich, die ich nutzen und ausspielen kann? Was ist die naheliegende Lösung, die es zu ergreifen gilt? Und meine Erfahrung zeigt mir, dass es Letztere immer gibt.
Dabei ist es essenziell, sich nicht auf die eigene Schwäche zu fokussieren. In keinem Fall aber sollten wir eine Schwäche als Entschuldigung nehmen, um eine Leistung nicht abrufen zu können. Dann hätte ich nie auf Skiern gestanden, geschweige denn die Abfahrtsrennen gefahren.
Eigenschaft 2: Konzentration
Die zweite wesentliche Eigenschaft ist für mich die Konzentrationsfähigkeit. Damit meine ich, sich auf das zu konzentrieren, was gerade ansteht. Auf das, was in diesem Moment zählt. Nur wenn wir unsere Energie fokussieren, können wir Spitzenleistung erbringen.
In einer Welt voller Dynamik, Komplexität und vernetzter Systeme wird Konzentration aber zur Herkulesaufgabe. Wir müssen sehr genau wissen, was jetzt dran ist und was nicht – während sich um uns Märkte in Sekundenschnelle ändern und ungefiltert Nachrichten auf uns einprasseln.
Hätte ich vor meinen Starts bei den Skiabfahrtsrennen noch eine WhatsApp beantwortet, auf Facebook ein paar Likes abgesetzt oder einen Kundentermin vereinbart, hätte meine Konzentration nicht für die bevorstehenden zwei Minuten mit Spitzengeschwindigkeiten auf meinen Skiern zur Verfügung gestanden. Ich hätte wohl einen Sturz mit Verletzungen riskiert, aber sicher keine Medaille geholt. Die volle Aufmerksamkeit galt dem Rennen und dem idealen Startabstand zu meinem Piloten.
Diese Eigenschaft, wachsam und konzentriert zu bleiben, kostet Körper und Geist viel Energie. Gerade diese Eigenschaft hat mich aber trotz Einschränkung wachsen und erfolgreich sein lassen.
Eigenschaft 3: Konstruktion
Das dritte K steht für die Konstruktion im Sinne des Konstruktivismus. Vereinfacht gesagt geht es darum, aus den mit den Sinnesorganen aufgenommenen Impulsen ein Bild zu konstruieren.
Zur Verdeutlichung erzähle ich hier eine Geschichte aus meiner Vergangenheit. Ich reiste nach Frankfurt, um einen Vortrag bei einer Veranstaltung zu halten. Am Hotel angekommen, begrüßte mich jemand aus 20 Meter Entfernung mit den Worten „Hallo, Josef“, wobei er wusste, dass ich ihn auf diese Distanz unmöglich sehen konnte. Aber ich grüßte zurück mit „Hallo, Oliver“. Er sprach mich an und konstatierte überrascht: „Du siehst ja doch.“ Ich antwortete: „Was meinst du mit sehen? Meine Augen haben dich nicht erkannt, aber deine Stimme, deine Statur, deine Art zu gehen und dein Kleidungsstil haben mir verraten, dass das der Oliver ist.“
Das Sehen ist also eine Konstruktion meines Gehirns und nicht der alleinige Impuls, der vom Auge eingefangen wird.
Wiederum spielen unser Gehirn, unsere gemachten Erfahrungen und ganz besonders unser Mindset eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, was konstruiert wird. Um die gegenwärtigen Herausforderungen zu lösen, können wir unsere Handlungen nicht mehr allein aus Erfahrungen ableiten, weil es für diese neuen Herausforderungen keine Erfahrungswerte gibt. Es gilt also, die Wirklichkeit jeden Tag neu zu konstruieren und bestmögliche Handlungsalternativen zu entwickeln.
Mit Kompensation, Konzentration und Konstruktion habe ich meine Behinderung unwesentlich für mein Leben gemacht. Vielleicht ist das auch ein Weg, um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern: Die Ausgangslage ist nicht entscheidend, sondern das, was wir daraus machen.