Der Wecker klingelt. Doch seit Monaten will sie oder er am liebsten jeden Morgen im Bett bleiben. Ein Signal, dass der Job an den Kräften zehrt und sich der Wunsch nach Veränderung breitmacht. Doch selbst wenn man morgens gern aufsteht und die 40-Stunden-Woche wie im Fluge vorbeizieht, könnte die berufliche Neuorientierung künftig eine schiere Notwendigkeit sein. Denn nach den Prognosen der Unternehmensberatung Kearney könnten 45 Prozent aller Berufe in den kommenden 20 Jahren durch datenbasierte Automatisierung ersetzt werden. Wer in diesen Bereichen arbeitet, muss sich demnach zwangsläufig auf eine Neuorientierung einstellen.
Aus vielen Gründen krank
Doch der Wunsch nach einer neuen Karriere ist schon heute keine Seltenheit mehr. Vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Generation 40 plus wagen immer häufiger einen beruflichen Neustart. Die fehlende Bindung an das Unternehmen ist für viele ein Grund für die Umorientierung.
Wie der „Engagement Index 2019“ des Marktforschungsinstituts Gallup zeigt, fühlen sich deutsche Mitarbeiter ihrem Unternehmen nur wenig zugehörig. So geben durchschnittlich 15 Prozent der Befragten eine hohe Bindung zu ihrem Arbeitgeber an, 70 Prozent fühlen sich geringfügig und 15 Prozent gar nicht gebunden. Diese Werte bleiben seit über 20 Jahren konstant. Als Gründe werden oft fehlende Weiterbildungsmaßnahmen und mangelnde Wertschätzung, monotone und/oder körperlich anstrengende Arbeit sowie Perspektivlosigkeit angegeben.
Diese Unzufriedenheit spiegelt sich auch in der steigenden Zahl der Arbeitsunfähigen wider, wie eine Analyse des Dachverbands der Betriebsrankenkassen zeigt. 2019 gab es durchschnittlich 18,4 Arbeitsunfähigkeitstage pro Arbeitnehmenden – das sind knapp fünf Tage mehr als im Jahr 2009. Als Hauptgründe für Ausfälle werden Schäden des Muskel-Skelett-Systems, psychische Störungen und Beschwerden im Bereich der Atemwege angeführt.
Berufliche Neuorientierung richtig planen
Doch wo mit der Neuorientierung anfangen? An einem Überschuss an Ausbildungsplätzen mangelt es nicht, wie die Bundesagentur für Arbeit bereits seit zehn Jahren kommuniziert. Zudem zeigt das Statistische Bundesamt, dass im gleichen Zeitraum mit circa 500.000 neuen Studenten pro Jahr das Studium ebenfalls Hochkonjunktur hat. Beste Voraussetzungen, sollte man meinen. Corona könnte jedoch viele Reskilling-Pläne zunichte gemacht haben.
„Man sollte sich nicht entmutigen lassen, selbst wenn die Lage gerade ungewiss ist“, sagt Tom Diesbrock. „Schließlich ist eine Neuorientierung oft ein mittel- bis längerfristiges Projekt, auf das man sich einlässt, weil man unzufrieden ist.“ Der Diplompsychologe, Coach und Buchautor begleitet Menschen seit Jahren auf ihren neuen Berufswegen und beschäftigt sich in seinem neuen Buch „Kopf aus dem Sand! Erste Hilfe für unruhige Zeiten und berufliche Sackgassen“ intensiv mit dem Thema.
Gerade wenn Unzufriedenheit und Lustlosigkeit monatelang anhalten oder sich die Arbeitsbedingungen konstant verschlechtern, sollten Betroffene über eine Veränderung nachdenken. Diesbrock: „Typische rote Signale sind Rationalisierungen: wenn jemand nämlich einerseits leidet, sich aber schnell immer wieder einredet, dass es für ihn oder sie ganz sicher keine Alternativen gibt, und jede Idee sofort als ‚unrealistisch‘ abtut.“
Wenn schlussendlich eine Umorientierung angegangen wird, sei ein besonnenes Vorgehen essenziell. „Ich empfehle, einen Zeitplan zu machen und sich feste Zeiten im Alltag für die Arbeit am eigenen Projekt zu reservieren, sodass es eine hohe Priorität bekommt. Das Ziel sollte sein, Alternativen zu entwickeln und erst auf dieser Basis eine Entscheidung zu treffen“, sagt Diesbrock. Seine Devise: berufliche Ideen möglichst frei und ohne Denkverbote entwickeln und erst danach ihre Umsetzung planen. Vermische man beide Prozesse, führe dies meist zu Blockaden.
Re- und Upskilling: Lebenslang lernen
Eine berufliche Neuorientierung ist jedoch nur eine Option. Upskilling – also das Erlernen neuer Fähigkeiten im gleichen Berufsfeld – gewinnt ebenfalls an Bedeutung. Deutschland hat dabei allerdings Nachholbedarf. Wie eine Umfrage der Beratung Boston Consulting zeigt, investieren die Deutschen im Vergleich zu 41 weiteren Nationen am wenigsten Zeit in Lernmaßnahmen. Nur 38 Prozent der Befragten hierzulande haben angegeben, mindestens einige Wochen im Jahr in berufliche Bildung zu investieren. Das ist deutlich weniger als der internationale Durchschnitt. Am meisten investieren asiatische und afrikanische Länder wie Myanmar (87 Prozent), Nigeria (84 Prozent), China (81 Prozent) und Kamerun (81 Prozent) in Weiterbildung.
Wie sich die Coronakrise weltweit auf die Lernbereitschaft und -kapazität auswirkt, wird sich in den kommenden Jahren noch zeigen. Eines steht jedoch bereits fest: Die Pandemie hat unmissverständlich klargemacht, dass der technologische Fortschritt unaufhaltsam ist. Ein Skillset, das heute zum Berufsbild gehört, kann morgen bereits überholt sein. Jeder muss sich somit intensiv mit dem Fortschritt und den damit verbundenen Implikationen für den aktuellen beziehungsweise den künftigen neuen Job beschäftigen, um sich entsprechend weiterbilden zu können.