In vielen Firmen zielt die Personalstrategie vorrangig darauf ab, vakante Stellen auf der Grundlage verbriefter Qualifikationen zu besetzen. Bedeutet: Abschluss A gleich Tätigkeit A.
In der Folge basiert die Zusammensetzung der Belegschaft dort größtenteils auf traditionellen Berufskategorien. Wer welche Rolle spielt, ist schon mit der Stellenausschreibung in Stein gemeißelt. Marktkonform? Vielleicht. Wettbewerbsfähig? Wohl kaum.
Überfokussierung auf Abschlüsse ist ein Problem bei der Personalsuche
In unserer modernen, hochgranularen Arbeitswelt können konventionelle Stellenbezeichnungen und -beschreibungen das tatsächliche Aufgabenspektrum einer Vakanz nicht immer adäquat abbilden. Traditionelle Personalstrategien stehen mit der Betriebsrealität häufig nicht im Einklang und sind damit nicht zukunftsfähig.
Natürlich können – und sollten – hochspezialisierte Tätigkeiten nur von hochqualifiziertem und entsprechend geprüftem Personal ausgeführt und im Recruiting dahingehende Schwerpunkte gesetzt werden. Mit Blick auf die gesamte Belegschaft stellt die Überfokussierung auf Abschlüsse oder Titel aber viele Personalabteilungen vor Probleme.
Der regionale Arbeitsmarkt, der gerade im Mittelstand unverzichtbar ist, ist dann schnell erschöpft. Gleichzeitig ist internationales Recruiting meist nur eingeschränkt möglich, obwohl es dort quantitativ mehr Optionen gäbe. Der Grund: Das globale Arbeiterangebot – und die darin repräsentierten Qualifikationen – mit der unternehmenseigenen Nachfrage zu vergleichen, ist in der Praxis häufig schwierig. Bei Führungspositionen und Vakanzen im gehobenen Management spitzt sich die Problematik häufig noch einmal zu.
Unternehmen müssen das Einzugsgebiet ihrer potenziellen Talente also diversifizieren und erweitern – nicht nur regional, sondern auch strukturell.
Eine skillset-basierten Personalstrategie rückt individuelle Stärken in den Fokus
Im globalen War for Talents lautet die Devise: Anstatt Vakanzen allein auf Basis von Titeln zu besetzen, sollten HR-Abteilungen Wert auf eine komplementäre Kombination von individuellen Skillsets legen. Denn welche Skills eine Fachkraft heute in welcher Kombination mitbringt kann viel wichtiger sein als ein bestimmter Abschluss oder der Titel, den sie trägt.
Eine kompetenz- oder skillset-basierte Personalstrategie setzt also darauf zu identifizieren, welche Skills in welcher Qualität und in welcher Quantität im Unternehmen benötigt werden. Und gleichzeitig verfolgt sie das Ziel, im Arbeitsmarkt vor allem nach entsprechenden Fähigkeiten oder Fähigkeitskombinationen zu suchen – und nicht (nur) nach bestimmten Berufsbezeichnungen oder Stationen im Lebenslauf.
Gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) müssen dafür allerdings erst einige Weichen gestellt werden.
Herausforderungen bei der Umstellung der Personalstrategie
Nicht alle Personalerinnen und Personaler verfügen bereits über das notwendige Mindset, statt auf Titel und Abschlüsse auf individuelle Skillsets zu achten. Außerdem brauchen sie die fachliche Kompetenz, um zu bewerten, ob der individuelle Fähigkeitsmix einer Kandidatin oder eines Kandidaten tatsächlich ein integraler Fit für die aktuellen und zukünftigen Bedürfnisse des Betriebs ist.
In größeren Unternehmen wiederum sind die entsprechenden Kapazitäten zwar häufig vorhanden. Gleichzeitig ist dort die Bewertung von „Welche Aufgaben gibt es in unserem Unternehmen?“ und „Wer kann diese Aufgaben mit welchen Skills lösen?“ ungemein komplexer.
Offen gesagt: Die Umstellung auf eine skillset-basierte Personalstrategie wird zunächst zusätzliche Ressourcen erfordern. Die HR-Verantwortlichen müssen hinsichtlich moderner Skill-Taxonomien geschult werden, um zu wissen, wie Skills branchen-, sprach- und arbeitsmarkübergreifend systematisch katalogisiert werden. Nur so lässt sich die eingangs bemängelte (internationale) Vergleichbarkeit von Skillsets herstellen.
Dieses Wissen bieten zum Beispiel die ESCO-Klassifikation (European Standard Classification for Occupations, Qualifications and Skills) oder die Lightcast Skill-Taxonomie.
Offenheit für den Abbau von Hierarchien ist notwendig
Das HR-Team braucht außerdem Zugang zu möglichst aktuellen und ans Marktmomentum angedockte regionale und überregionale Arbeitsmarktdaten, um das skillset-basierte Recruiting an die gerade gefragten und verfügbaren Talente und Vakanzen anzupassen.
Ferner müssen geeignete Metriken und KPIs entwickelt werden – was komplex sein kann –, um die Erfolgsmessung der neuen Strategie zu ermöglichen.
Nicht zu unterschätzen ist außerdem – gerade im Mittelstand – die kulturelle Herausforderung. Skillset-basierte Personalstrategien florieren besonders in dynamischen Organisationen, die sich für den Abbau traditionell hierarchischer Strukturen öffnen. Hier hinken viele KMU noch hinterher. Neben den materiellen Investitionen braucht es also je nach Ausgangslage auch die Bereitschaft für einen Kulturwandel, begleitet von einer durchdachten und konsequenten internen Kommunikationsstrategie.
Ein Paradigmenwechsel bietet spürbare Vorteile für HR und Geschäftsführung
Die Evolution von einer rein qualifikationsorientierten zu einer skillset-basierten Personalstrategie klappt deshalb nicht von heute auf morgen. In der Praxis zahlt sich die Transformation jedoch in der Regel aus. Unternehmerisch dabei besonders relevant:
1. Zugang zu einem diversifizierteren, größeren und unter Umständen auch kostengünstigeren Talentpool
Durch Einblicke in die überregionale und EU-weite Arbeitsmarktsituation kann HR besser verstehen, wo Fach- oder Führungskräfte mit welchen Kompetenzen vorhanden sind. Die Personalstrategie kann sich damit auf die Fähigkeitsprofile konzentrieren, die für das Unternehmen wirklich von Bedeutung sind. Das sind Faktoren, die sich mittelfristig in Form der Reduzierung von Rekrutierungskosten und -aufwänden niederschlagen.
Insbesondere in Kombination mit Remote Work ergeben sich dabei außerdem weitere wirtschaftlich interessante Perspektiven, beispielsweise wenn Gehaltniveaus in Randregionen niedriger sind als in Ballungsräumen. Entsprechende Informationen zu Lebenshaltungskosten und Talentverfügbarkeit können wiederum in strategische Expansionsentscheidungen einfließen.
2. Eine agilere Organisation und fokussierte Weiterbildungsstrategien
Skillset-basiertes Recruiting verschafft Unternehmen mehr Agilität, da sie sich durch flexible(re) Rollengestaltungen dynamischer an Marktveränderungen anpassen können. Zum einen erfolgt ihr Recruiting-Prozess schneller, effizienter und hat mit weniger Fehlbesetzungen zu kämpfen. Zum anderen können durch die Katalogisierung vorhandener und fehlender Kompetenzen Lücken und Potenziale erkannt und gezielt durch Weiterbildung geschlossen beziehungsweise intern ausgebaut werden.
Einfacher ausgedrückt: Sitzen die richtigen Leute bereits an den richtigen Stellen, ist Auswahl und Umsetzung kurzfristiger Weiterbildungsmaßnahmen deutlich zielführender. Auch Führungskräfte können so koordinierter in ihren Kompetenzbereichen weiterentwickelt werden.
3. Steigerung von Mitarbeiterbindung und Engagement
HR-relevante Maßnahmen auf der Basis einer skillset-basierten Personalstrategie führen häufig dazu, dass sich neu eingestellte Mitarbeiter schneller zu einem integralen Bestandteil der Belegschaft entwickeln. Dabei macht nicht jeder sein eigenes Ding im Silo, sondern Kompetenzen ergänzen sich komplementär. Das ist fruchtbarer Boden für Hilfsbereitschaft, kollegiale Kollaboration und eine Kultur des positiven Voneinander-Lernens.
Oft gesagt, selten beherzigt: Fachkräfte nicht nur effektiver gewinnen, sondern dann auch halten zu können, ist im War for Talents einer der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren. Werden qualifizierte Fachkräfte nicht nur alle Jahre einmal halbherzig geschult, sondern ganz gezielt entwickelt und zu bestimmten sinnvollen Kompetenzen hin entwickelt, wirkt sich dies in der Regel positiv auf Bindung, Loyalität und Engagement des Mitarbeiters aus.
Grundlage erfolgreicher Fachkräfteakquise ist Agilität
Wo traditionelle „Suchen und vielleicht finden“-Strategien in der HR nicht die gewünschten oder zu wenige Kandidaten liefern, kann eine skillset-basierte Personalstrategie diese Lücken schließen.
Wie jede Transformation erfordert sie sorgfältige Planung, eine durchdachte Ressourcenallokation und etwas Geduld. Am Ende bietet sie aber, neben wirtschaftlichen Vorteilen, beträchtliches Potenzial im Bereich Employee-Engagement und Reputation.