Das richtige Personal finden
01.06.2022    Madeline Sieland
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In Deutschland – dem Land der Erfinder und Ingenieure – mangelt es genau an diesen so wichtigen Fachkräften. Nein, eine neue Erkenntnis ist das nicht. Schließlich wird über den IT-Fachkräftemangel seit mehr als einem Jahrzehnt gesprochen. Doch er nimmt aktuell dramatische Züge an: 151.300 offene Stellen in Ingenieurs- und Informatikerberufen gab es laut Verein Deutscher Ingenieure (VDI) im ersten Quartal 2022. Erneut ein Rekord. Und eine starke Steigerung innerhalb kürzester Zeit. Denn im letzten Quartal 2021 waren „nur“ 140.000 IT-Stellen unbesetzt.

Für diese Jobs passendes Personal zu finden, ist eine Notwendigkeit für Unternehmen. Denn ohne genügend Mitarbeitende mit IT-Kompetenz ist es schwer bis unmöglich, ein Unternehmen fit für die digitale Zukunft zu machen.

Und auch die Klimatransformation droht zu scheitern: „Für die kommenden fünf Jahre erwarten 32 Prozent aller Unternehmen und sogar 63 Prozent aller Unternehmen ab 250 Beschäftigten einen steigenden Bedarf an IT-Experten speziell zur Entwicklung klimafreundlicher Technologien und Produkte“, sagt Professor Axel Plünnecke, Leiter des Kompetenzfelds Bildung, Zuwanderung und Innovation beim IW Köln.

Der Mangel wird sich noch verstärken

VDI-Direktor Ralph Appel bezeichnete den Fachkräftemangel im Rahmen der Hannover Messe als Bremsklotz. „Angesichts der Forderungen von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, dass die Energiewende dreimal so schnell vonstattengehen soll, bekommt die Entwicklung eine ganz spezielle Dramatik. Wir stehen nämlich vor einem Energiewende-Dilemma – ausgelöst durch den Fachkräftemangel“, so Appel.

Mit einer Besserung der Situation ist zeitnah nicht zu rechnen – zumal die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger in den Ingenieurswissenschaften und in der Informatik in den vergangenen fünf Jahren um rund 15 Prozent gesunken ist. „Daher ist in den kommenden Jahren weiterhin mit sinkenden Zahlen an Absolventinnen und Absolventen zu rechnen“, resümiert Plünnecke.

Kreativität beim Recruiting ist gefragt

Ergo: Im Land der Erfinder und Ingenieure wird der Ingenieursmangel noch deutlich zunehmen. Und genau genommen ist der Kampf um hiesige IT-Fachkräfte für die Mehrzahl der Unternehmen schon jetzt aussichtslos.

Denn derzeit kommen bundesweit auf 418 offene Stellen nur 100 Arbeitslose mit IT-Background. Dabei ist die Situation regional durchaus unterschiedlich: Am größten ist der Engpass in Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Am geringsten ist er in Berlin/Brandenburg – wobei es auch dort 268 unbesetzte Stellen je 100 Arbeitslose gibt und damit deutlich mehr Nachfrage als Angebot an Fachkräften.

Es sind also kreative Ideen und neue Wege im Recruiting gefragt, um Tech-Talente auf sich aufmerksam zu machen. Doch wie können sich Unternehmen von der starken Konkurrenz auf dem IT-Arbeitsmarkt abgrenzen?

Individuelles Active Sourcing statt Stellenanzeigen

„Im Grunde genommen ist es ganz einfach“, sagt Jerome Evans, Geschäftsführer von firstcolo, einem Betreiber von Rechenzentren. „Unternehmer sollten sich Zeit nehmen, die Bedürfnisse des Bewerbers zu verstehen. Wie sich ein ideales Arbeitsumfeld gestaltet, darüber gibt es individuelle Vorstellungen. Die Arbeitgeber, die eine echte Bereitschaft zum Dialog signalisieren, haben allerdings häufig die besten Karten.“

Bereitschaft zum Dialog signalisiert im ersten Schritt schon, wer Fachkräfte proaktiv anspricht statt Däumchen zu drehen und auf Bewerbungen auf Standard-Stellenausschreibungen in Jobportalen zu warten. Ohne Active Sourcing kommt man beim Recruiting von IT-Fachkräften kaum noch voran.

„Sprechen Sie IT-Fachkräfte an ihren Touchpoints an“, empfiehlt Katharina Pratesi, Recruiting-Expertin und Partnerin bei der Managementberatung Brandmonks. „Das sind bestimmte IT-Foren, wie zum Beispiel Reddit oder Github. Sie sollten vorher genau analysieren, in welchen Foren sich die Talente informieren und austauschen, die Sie für Ihre speziellen Jobanforderungen suchen.“

Wer mit seiner Anfrage auffallen will, sollte diese allerdings möglichst individuell gestalten und von vornherein an die Kandidatin beziehungsweise den Kandidaten anpassen. Das signalisiert echtes Interesse; so sticht man aus der Masse hervor.

Was man beim Active Sourcing dagegen vermeiden sollte: „Verzichten Sie auf eine Ansprache via Xing oder Linkedin“, so Pratesi. „IT-Talente erhalten darüber bis zu 20 Anfragen täglich und werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht reagieren.“

Umdenken müssen auch große Marken

Dass selbst eine bekannte Marke allein nicht mehr reicht, um Talente anzulocken, hat man beispielsweise beim Versandhändler OTTO erkannt. Es muss auch sehr klar kommuniziert werden, wofür ein Arbeitgeber steht, welche Werte und welche Vision es gibt. Zu Jahresbeginn wurde daher mit einer HR-Marketingkampagne das Employer-Branding neu ausgerichtet.

„Aufgrund unserer Transformation zur Plattform haben wir insbesondere in den Technologiebereichen durchgehend offene Stellen. Wir richten unsere Arbeitgebermarke deshalb kommunikativ jetzt noch konsequenter auf die Positionierung als Tech-Arbeitgeber aus“, so Nicole Heinrich, Leiterin HR-Marketing und Ausbildung bei OTTO.

Explizit adressiert wurden dabei weibliche IT-Profis und Berufseinsteigerinnen. Denn das Ziel von OTTO-CIO Michael Müller-Wünsch ist es, mindestens 50 Prozent der Tech-Stellen mit Frauen zu besetzen. Um die gewünschte Zielgruppe zu erreichen, setzte man – neben Social Media und Display Ads – erstmals im HR-Marketing auf programmatische Außenwerbung und Addressable TV.

Kontaktpflege ist heute wichtiger denn je

Auch Peggy Denner betont: „Wir leben in einer Zeit, in der Technikberufe so gefragt sind wie nie.“ Denner ist Head of HR bei SPIE Efficient Facilities, einem Anbieter von technischem Facility-Management. „Gebäude, Anlagen und Infrastrukturen werden zunehmend effizienter und intelligenter. Dahinter stehen oft eine komplexe Technik sowie innovative und digitale Lösungen. Hierfür qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, ist eine echte Herausforderung.“

Ihr Lösungsansatz: In den direkten Dialog mit potenziellen Angestellten treten, neue Kontakte aufbauen und pflegen und die Kontakte bestehender Mitarbeitender zu potenziellen neuen Kolleginnen und Kollegen nutzen. „Ganz gezielt legen wir sehr großen Wert auf die Ausbildung junger Menschen; wir wollen mehr Frauenpower bei SPIE und haben dafür viele Programme und Maßnahmen auf den Weg gebracht“, so Denner. „Wir arbeiten daran, Employer of Choice in unseren Märkten sein. Denn wir wollen und müssen technikbegeisterte Menschen für unser Unternehmen gewinnen, um die Herausforderungen der Energiewende und der digitalen Transformation zu meistern.“

Dauerhafte Lösungen werden gebraucht

Für VDI-Direktor Ralph Appel sind solche Maßnahmen allein nicht ausreichend. „Es ist offensichtlich, dass angesichts des demografischen Wandels und des damit einhergehenden rein zahlenmäßigen Rückgangs unseres Nachwuchses, es nicht ausreichen wird, junge Menschen für Technik zu begeistern.“

Aktuell stellt sich die Lage wie folgt dar:

  • Rund 56.000 Ingenieurinnen und Ingenieure schneiden jährlich altersbedingt aus dem Berufsleben aus.
  • Es gibt – aufgrund von Digitalisierung, Klimaschutz und Energiewende – in der Wirtschaft einen Mehrbedarf von 74.500 Ingenieurinnen und Ingenieuren pro Jahr.
  • Dem gegenüber stehen rund 70.000 Nachwuchskräfte, die jährlich von den Universitäten kommen.
  • Zudem kommen derzeit knapp 34.000 Ingenieurinnen und Ingenieure pro Jahr aus dem Ausland nach Deutschland.

„Unter dem Strich bleibt dann aber eine Lücke von rund 26.500 Stellen“, rechnet Axel Plünnecke vom IW Köln vor – und zwar in einem optimistischen Szenario.

Was also tun, um die stetig größer werdende Fachkräftelücke zu schließen? Für Appel gibt es da nur eine Option: „Die Fachkräftezuwanderung vereinfachen und eine Entbürokratisierung auf breiter Ebene ermöglichen. Wir brauchen als weiteren Mosaikstein zur Bewältigung des Fachkräftemangels die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland.“

01.06.2022    Madeline Sieland
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